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01.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 5: Toxik - Dis Morta



TOXIK - DIS MORTA


"Dis Morta" ist das beste Metal-Album des Jahres. Und auch ziemlich locker das beste Metal-Album seit dem "Winter Ethereal"-Meilenstein von John Arch und Jim Matheos aus dem Jahr 2019. Große Worte, je sais. Mais puis, ca m'est égàl.

Kleine Geschichtsstunde mit Florian: Toxik ist keine neue Band. Die Truppe aus dem Umland New Yorks erschien Mitte der 1980er auf der Bildfläche und veröffentlichte mit "World Circus" (1987) und "Think This" (1989) zwei Studioalben über Roadrunner beziehungsweise Roadracer, die beide mittlerweile zu den Kultalben der zweiten Speed/Thrash Welle zählen. Vor allem das im Vergleich zum eher progressiven Zweitwerk leichtfüßigere und speedigere Debut ist zurecht gefeiertes Material für die Ruhmeshallen des Heavy Metal. Toxik wurden zunächst wegen der enttäuschenden Verkaufszahlen von "Think This" angezählt und dann final vom Alternative-Boom der neunziger Jahre ausgeknockt. Seit 2013 ist die Band im veränderten Lineup wieder aktiv. Von der Originalbesetzung ist lediglich Gitarrist Josh Christian noch mit von der Partie. "Dis Morta" ist somit erst das dritte Album von Toxik - und das erste seit 33 Jahren. 

Wer sich noch an meine Einschätzungen zu so manchem Comeback meiner alten Thrash Metal-Helden der letzten 15 Jahre erinnert, wird eine Ahnung haben, dass ich nicht gerade mit dem Laden der Konfettikanone zu tun hatte, als "Dis Morta" angekündigt wurde. Zerfledderte Besetzungen, kein Feuer, keine Leidenschaft, Dienst nach Vorschrift, grauenhafte und künstlich aufgepumpte Produktionen, Marketing über Substanz - die Liste großer Enttäuschungen ist lang und reicht von Heathen über Forbidden und Testament bis hin zu Sacred Reich. Von kompletten Knallchargen wie Agent Steel oder Onslaught will ich erst gar nicht reden. Aber meine alte Metal-Loyalität verpflichtet eben. Also, Toxik! Make my day!

Und, FUCK ME - wie arg sie meinen Day machten! Von der ersten Sekunde des Openers und Titelsongs bis zum Rausschmeißer "Judas" gibt es auf dieser Platte KEINE! EINZIGE! LANGWEILIGE! SEKUNDE! 

"Dis Morta" gibt alles. Volle Pulle. Volle Möhre. Volles Rohr. Die! Ganze! Fucking! Zeit! 

Ich hatte in den letzten Monaten versucht, ein angemessenes sprachliches Bild für dieses gnadenlose Gehacke zu finden, und als ich eines gefunden hatte, schrieb ich es in meiner Begeisterung gleich an zwei Stellen in dieses Internet hinein. Weil mir seitdem nichts Besseres eingefallen ist und mir außerdem sowieso gar nichts mehr peinlich zu sein scheint, schreibe ich es hier zum dritten Mal: 

"Maximaler Stress. Permanentes Gefühl der Überforderung. Als würde man bei 300 Sachen auf der Autobahn den Kopf aus dem Fenster halten und das Grünzeug vom Mittelstreifen ins Gesicht geballert bekommen."
 
Und um alles noch viel schlimmer zu machen, klopfe ich mir jetzt auch nochmal auf die Schulter und sage: "Dis Morta" klingt genau so! Das Intensitätslevel kurz vor der Kernschmelze. Ein bisweilen völlig außer Kontrolle geratener Speed, den Lord Helmchen sehr akkurat mit "wahnsinnige Geschwindigkeit" beschreiben würde; vor allem "Sharp Razor" überdreht sich sogar manchmal über die Grenze zur Parodie hinaus. Die Songs schlagen Haken wie Mike Tyson in voller Blüte, sind kompliziert und progressiv - es geht rauf und runter, hin und her. In einem der Höhepunkte "Creating The Abyss" (uargh, diese Riffs!) channeln die Verrückten die Mitt- bis Spätneunziger-Phase von Nevermore in nie dagewesener Perfektion. Mit Ron Iglesias hat die Band zudem einen Sänger in ihren Reihen, der mit extrem hoher Stimme und maximaler Kontrolle durch die waghalsigsten musikalischen Stromschnellen marschiert, die ihm die Instrumentalabteilung im Hintergrund zwischen die Stimmbänder wirbelt, und der dabei noch die abgepfiffensten Gesangslinien wie in "Hyper Reality" aus dem Hut zaubert. Er ist jederzeit der absolute König jeder noch so verzwickten Situation. Und scheißrein: Josh Christian hat sich solche gleich säckeweise ausgedacht. Die ganze Band bewegt sich technisch auf allerhöchstem Niveau. 

Werfen wir einen Blick auf die bisherigen Teilnehmer in meinem kleinen Jahres-Countdown, stellen wir eine gewisse stilistische Diskrepanz zu "Dis Morta" fest. Von meiner Lebensrealität im Hier und Jetzt ist so eine Platte ganze Universen entfernt, und ich habe mich hier in meinem virtuellen Musikzimmer nicht erst einmal darüber ausgelassen, wie sehr ich Ruhe und Einkehr als Gegenpol zu all dem Getöse um mich herum schätze, und wie sehr vor allem das Hören introvertierter elektronischer Musik mein Leben verbessert. Und doch gibt es nun hier diese besinnungslose Lobhudelei über "Dis Morta" zu lesen? Dazu zwei Einlassungen. Erstens: ich kann nicht aus meiner Haut. Ich liebe progressiven und abgedrehten Metal, ich liebe Thrash Metal, ich liebe geile Sänger über alles, ich liebe die Intensität, die Wucht, den Wahnsinn. "Dis Morta" drückt sämtliche Knöpfe bei mir - und dass es das im Jahr 2022 noch schafft, ist eine Grenzerfahrung in sich. Das bringt uns zu zweitens: "Dis Morta" ist im aktuellen musikalischen Klima des Metal ein geplatztes Furunkel am Arsch der Gleichmacherei und des stromlinienförmigen Formatmetals, den die ganzen Angsthasen und Nixkönner einer im tiefsten Koma liegenden Szene unentwegt ins Gesicht kotzen. Würde es heutzutage mehr Metalbands geben, die so mutig, so tollkühn, so virtuos und so kraftvoll klingen wie Toxik auf "Dis Morta", ich wäre mit einem Wimpernschlag wieder in der allerersten Reihe. 


Vinyl: Sorry, aber bei dem erbarmungslosen Geschrote ist alles scheißegal, sogar die ungefütterte Innenhülle und die sehr schmale Aufmachung. Immerhin gibt's einen Einleger mit Texten. Sieht gut aus, klingt gut. Fertig. Bitte einfach nur kaufen, lieben, umarmen und bitte keine weiteren Fragen stellen. (+++++)


 



Erschienen auf Massacre Records, 2022.