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24.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (14) - Tomas Jirku - Touching The Sublime




TOMAS JIRKU - TOUCHING THE SUBLIME

Ich hatte "Touching The Sublime" schon mal flüchtig in meinem Text zu "Still" von Night Sea erwähnt, immerhin meiner Nummer 1 des Jahres 2020, nur nochmal zur Erinnerung; und dieses flüchtige "auch ein sehr gutes Album" als Kommentar zu Tomas Jirkus erstem Album seit zehn Jahren war eindeutig ZU flüchtig. Es lohnt sich, etwas ausführlicher über dieses Album zu sprechen - und sei es nur deswegen, weil mir manchmal die Worte zu fehlen scheinen. Zum einen ist "Touching The Sublime" zumindest musikalisch kein typisches Silent Season-Album, und es hat den Anschein, als würde sich das Label grundsätzlich in eine etwas unberechenbarere Richtung entwickeln: weg vom naturalistischen Dubtechno, hin zu abstrakterem, herausforderndem Ambient. Auch die beiden in diesem Jahr auf Silent Season erschienenen Alben "Infinite Horizon" von Owl und Daars "Entire" verstärken diesen Eindruck. 

Zum anderen ist es nicht einfach, sich in "Touching The Sublime" reinzufuchsen. Es wirkt kalt, schroff, dürr, distanziert, fast abweisend - und das bei einem Opener, der "A Warm Place" heißt. Die Sounds so klobig und gewaltig wie ein jahrtausendealtes Felsmassiv, ein bisweilen unbehaglich tiefes Dröhnen, das klingt, als würden sich zwei Lithosphärenplatten unsittlich aneinander reiben. Zudem ist Jirkus Musik in kontinuierlicher Bewegung. Sie ist rastlos, gräbt sich immer tiefer in seine einzelnen Schichten ein, selbst in die, die unter dem eigentlichen Ton liegen. Das ist der Grund warum fast jeder, der "Touching The Sublime" gehört hat, darauf besteht, es unter Kopfhörern zu erfahren, zu fühlen, zu entdecken. Ein sehr eindringliches, immersives Erlebnis. 

Food for your mind, heart and soul.

   


Erschienen auf Silent Season, 2020.


04.04.2021

Best of 2020 ° Platz 1 ° Night Sea - Still



NIGHT SEA - STILL

I'm looking California
And feeling Minnesota
(Soundgarden)

Das Album des Jahres kommt aus den tiefen Urwäldern British Columbias, von meinem neben A Strangely Isolated Place anderen, meinem also zweiten Lieblingslabel Silent Season. Labelchef Jamie sagt selbst, Silent Season hätte 2020 mit lediglich zwei physischen und drei digitalen Veröffentlichungen ein ziemliches "low-key"-Jahr gehabt (neben "Still" kam nur noch Tomas Jirkus "Touching The Sublime" auf Schallplatte heraus, ebenfalls ein sehr gutes Album), aber wenn solch ein Meisterwerk wie "Still" auf dem Radar ist, kann ich mit einem heruntergefahrenen Ausstoß an neuer Musik bestens leben. 

Nach spätestens 2 Minuten und 53 Sekunden mit "Still" ist klar: das ist eine besondere Platte und das wird in den folgenden 48 Minuten ein besonderer Trip. Wenn sich durch den langsam aufziehenden diesigen Ambientschleier plötzlich ein Energieblitz aus den Schallplattenrillen über den Tonabnehmer, Tonarm, die Innereien des Plattenspielers über die Kabel in den Lautsprechermembran seinen Weg bahnt, unaufhaltsam und mächtig und beinahe physisch spürbar direkt in dein Herz schießt - Treffer, versenkt. Was für ein Einstieg. Eigentlich eine eiskalte Dusche nach dem 180°C Saunagang - danach folgt totale Entspannung: sanft fließende Dub-Variationen, aquatische Motive, Levitation im freien Raum. 

Denn "Still" ist das beruhigendste und gleichzeitig betörendste Album des Jahres. Ich habe es im vergangenen Sommer tatsächlich in erster Linie in jenen Zeiten gehört, die nach aktiver Entspannung gerufen haben; wenn also Lohnarbeit, Leerdenker und Leben über das wucherten, was in normalen Zeiten noch geistige Gesundheit genannt wurde, war "Still" ein außerordentlich starkes Sedativum, das allerdings nicht die Sinne betäubte und dämpfte, sondern sie öffnete. In den vergangenen Texten über die Top 20 des vergangenen Jahres hatte ich mehrfach die Ambivalenz erwähnt, die ich in so mancher Musik entdeckt zu haben meinte - sei es aus Projektion und selektiver Wahrnehmung, 's is' eh schon alles egal - und die ich vermutlich deswegen so attraktiv finde, weil sie mich in der Notwendigkeit bestärkt, Grautöne wahrzunehmen, besser: wahrnehmen zu müssen, um die Welt und mich selbst zu verstehen. Denn das ist vielleicht immer noch der heilige Gral, den es im Leben zu finden gilt: Verständnis, Aufklärung, Bewusstheit. Alles, was mich diesem Kern näherbringt, hat Bedeutung und Wirkung. 

Das bemerkenswerte an "Still" ist: da ist keine Ambivalenz. Da ist keine Projektion und keine selektive Wahrnehmung, da sind keine bohrenden Zweifel, kein Grau, da ist kein Zaudern. Stattdessen: Klarheit. Tiefe. Wärme. Natur. Verbundenheit. Empathie. Ursprünglichkeit. Und die Erkenntnis, dass es keinen Antagonismus benötigt, um auf die andere Ebene, die andere Seite zu kommen. Ganz im Gegenteil: Es braucht Einigung. 

Viel näher kommt man an das Licht nicht heran.  


   

Erschienen auf Silent Season, 2020. 


04.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Segue - Over The Mountains




SEGUE - OVER THE MOUNTAINS


Segues 2013 erschienenes Album "Pacifica" war sowas wie ein Überraschungserfolg im Nischensegment Dub Techno und Ambient; immerhin ließ das Label Silent Season verlauten, man sei von der Geschwindigkeit, in der die 300 gepressten CDs ausverkauft waren, auf dem falschen Fuß erwischt worden. Die kurz darauf folgende Veröffentlichung der LP war ebenfalls in nullkommanix aus allen Katalogen gestrichen und wurde erst fünf Jahre später neu aufgelegt - und Neuauflagen sind für ein Label wie Silent Season alles andere als selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund wäre die Nennung von "Pacifica" in meiner "Das Beste des Jahrzehnts"-Aufstellung sicher kein Fehler gewesen. Mal ganz davon abgesehen, dass es ganz zweifellos eine sehr tolle Platte ist.

Es hat allerdings seinen Grund, weshalb ich vor einigen Jahren im Review zu "Over The Mountains" schrieb, das Album müsste "bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden": Jordan Sauer wagt sich auf seinem zweiten Album auf Silent Season weiter ins offene Wasser hinaus als zuvor und eröffnet sowohl seinen Sounds als auch seinen Zuhörern völlig neue Perspektiven auf das Leben, die Natur, den Geist und die Seele - und krempelt damit im Prinzip ein ganzes Genre auf links. So wie es eben alle Großen tun. Die klangliche Ästhetik seiner Produktionen, die sehr geschmackvollen und bildhaften Sounds, die nach sattem, im milchigen Morgendunst liegendem und in Nebel gehülltem Grün klingen, nach verschlungenen und unberührten Pfaden durch mystische Wälder, sind völlig einzigartig, erhebend und inspirierend.

Niemand klingt so wie Segue.

Haben wir eigentlich alle schon geschnallt, wie glücklich wir uns mit dieser Musik schätzen können?





Erschienen auf Silent Season, 2016. 

12.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 11 ° Toki Fuko - Spring Ray




TOKI FUKO - SPRING RAY


Geheimnisvoll. Hypnotisch. Nokturn. "Spring Ray" ist ein auraler Spaziergang durch einen tropischen Regenwald bei Nacht. Aus der Tiefe des Waldes sind Trommeln zu hören, die langsam lauter und zum Puls der Nacht werden. Das Zirpen der Insekten verwandelt sich in ein diesiges Hintergrundrauschen, die Blätter in den Baumkronen werden vom Wind geküsst. 

Je weiter wir in diesen Zauberwald eindringen, desto präsenter werden die tiefer liegenden Schichten dieser Musik: Einheit, Bewusstsein und Vertrauen. Und es zeigt sich, dass die Schatten der Dunkelheit nur in Deinem Kopf existieren. Wer sich darauf einlässt, wird zu einem besseren Menschen. 




Erschienen auf Silent Season, 2019.

06.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 14 ° Segue - The Island




SEGUE - THE ISLAND


Und wieder mal passt alles zusammen. Das atmosphärische Cover-Artwork, das DIE_INSEL inmitten eines ruhig liegenden Meeres zeigt, inklusive leichter Diesigkeit und einem ja auch irgendwie kitschigen Sternenhimmel, Jordan Sauers immer noch von Sonne, Waldboden und "Aqua" (Lagerfeld) geküsste Musik und das Label Silent Season, das die musikalische Auseinandersetzung mit der Natur zur Voraussetzung für jede Veröffentlichung macht. 

Zu "The Island" heißt es: 

"Four thousand years ago, Western Canada's First Nations people migrated into the fjords and rainforests carved out by the retreating glaciation of the last Ice Age. The Island is a tribute to Canada's prehistory and the spiritual journey of a people entering a forever-altered landscape to call their home." 

Dabei hat Segue ähnlich wie die Labelkollegen von Wanderwelle die exklusive Dub Techno Schublade längst hinter sich gelassen und verwendet bisweilen nur noch vage herumflirrende Erinnerungen aus seinem Instrumentenkoffer. Was Sauer in dieser Hinsicht vielleicht so gut kann wie kaum ein anderer: seine Sounds und Songs malen Bilder in deinen Kopf. Lassen dich Wärme und Kälte spüren, manchmal sogar die Luft von der Umgebung schmecken, in die er dich gerade hineingezogen hat. 

"The Island" schickt dich in Urlaub, in die unberührte, raue Natur. Soziale Isolation in der Verbundenheit mit Mutter Erde - ich finde das selbst 6 Jahre nach dem Klassiker "Pacifica" noch immer hoffnungslos attraktiv. 




Erschienen auf Silent Season, 2019.

02.04.2017

2016 ° Platz 5 ° Segue - Over The Mountains




Eine vertonte Wanderung durch tiefsten Urwald. Dunst über dem Boden. Feuchtigkeit, Wärme. Es ist schwül. Sonnenlicht schaukelt sich durch Blätter und Äste. Offene Augen, offener Geist, offenes Herz. Manchmal gibt es kein euphorischeres Gefühl, als ganz unmittelbar Schönheit zu erkennen - verbunden mit der Demut, Zeuge davon sein zu dürfen.

Auch wenn in meinem Wohnzimmer keine Jahrhundertbäume durchs Hausdach wachsen, so bleiben als Bild und Gefühl an diesen letzten, vergangenen Sommer die warmen Nächte bei weit geöffnetem Fenster und "Over The Mountains" in Endlosschleife. Ästhetik und Eleganz sind keine Fremdworte für den Kanadier Jordan Sauer, und wo ich schon bei seinem letztes Werk für das kanadische Silent Season Label "Pacifica" (2013) auf die Knie sank, muss ich es hier schon wieder tun. Dabei ist im Detail auf "Over The Mountains" einiges anders und man sieht es mir bitte nach, dass ich zunächst die Genreschubladen öffnen muss: Sauers zunächst etwas obskur anmutende, eigentlich simple und hypnotische Melodien, sein damit verbundenes raffiniertes Spiel mit Harmonien, seine Rhythmik und nicht zuletzt das Klangdesign seiner Sounds haben mit Dub Techno nicht mehr viel zu tun. Sie sollen mehr als alles andere Bilder erzeugen. Vielleicht ein Gefühl von Sehnsucht? Ganz bestimmt viel Licht - und es scheint, als sei alles auf "Over The Mountains" sorgfältig genau darauf ausgerichtet. 

Ich schrub es vor wenigen Wochen schon mal bei Twitter: Hier ist einer, der sich spätestens mit diesem Album ein paar Jährchen vor der Konkurrenz aufhält. So wie es alle großen vor ihm taten. Wenn alles noch mit rechten Dingen zugeht - und wer würde angesichts des abgelaufenen Jahres nicht daran zweifeln - müsste "Over The Mountains" eigentlich bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden.

Ein umwerfendes, naturverbundenes Werk voller Schönheit und Introspektion. 




Erschienen auf Silent Season, 2016.