28.03.2011

Nachzügler 2010 #4

TAPE & BILL WELLS - Fugue

Erstaunlich, was diese zunächst unscheinbare Musik alles mit mir anstellen kann. Aus irgendeinem Grund schicken mich die schwedischen Postrocker von Tape und der schottische Komponist Bill Wells auf ihrer ersten Zusammenarbeit mittels einer emotionalen Zeitreise schnurstracks in Richtung 1993/1994 zurück - und ich habe ausnahmsweise eine Ahnung, warum das so ist. "Fugue" erinnert mich an einsame Abende in meinem Zimmer in der elterlichen Wohnung, an denen ich über Stunden einfach nichts anderes machte, als den Schallplatten und CDs zuzuhören. Ich erinnere mich an eine Zeit, ich muss etwa 16 Jahre alt gewesen sein, in der ich praktisch nicht schlief und grundlegend dann, wenn sich meine Eltern ins Schlafzimmer verzogen, in Richtung Küche schlurfte, um eine ganze Kanne Kaffee zu kochen. Ich trinke übrigens schwarz, für Freunde des Trivialwissens - wer weiß, für was das irgendwann mal gut ist.

Ich machte in den letzten Jahren meiner Schulzeit...moment, streicht das letzte: ich machte während der gesamten Schulzeit eigentlich nie Hausaufgaben, aber manchmal, gerade zu jenen Zeiten, setzte ich mich nachts um drei dann doch nochmal für ein paar Minuten "auf den Hosenboden" (Westerwelle) und ich schwöre bei der sättigenden Wirkung der Kartoffel, dass, hätte "Fugue" schon damals existiert, dies mein Soundtrack gewesen wäre. Der Soundtrack zur pubertären Melancholie, in die zu Versinken sich so gut anfühlt. So gut, dass man vor lauter Zufriedenheit mit dem bittersüßen Blick auf das Leben, einen leichten Schauer auf der Haut wahrnimmt, weswegen man sich so ein bisschen zusammenkauert und abrubbelt, weil es sich für einen kurzen Moment ein wenig kühl anfühlt.

Ich erhielt "Fugue" kurz vor Weihnachten 2010, wenn ich mich recht entsinne, und mein Gefühl war und ist auch 16 oder gar 17 Jahre nach oben beschriebener Lebensphase
so unähnlich nicht. Mittlerweile habe ich die Pubertät wohl überwunden, wenngleich es auch hier bisweilen andere Stimmen geben mag, aber das nahezu besinnungslose Eintauchen
in diesen so reinen und unmittelbaren, so unverfälschten Klang der Instrumente, des Pianos, der Gitarre, der Melodica, die allesamt in jeder verliehenen Sinuswelle Verständnis, Hoffnung und Frieden übermitteln, das fühlt sich auch nach langer Zeit einfach immer noch so gut an. Vielleicht sind's diese Themen, Motive und Emotionen, die mich schon damals anstupsten und nach denen ich mich bis heute sehne, und die von Zeit zu Zeit immer wieder gesucht, gefunden und erlebt werden wollen.

Einfach nur um sicher zu sein, dass ich wenigstens die Sehnsucht noch nicht verloren habe.

Erschienen auf Immune, 2010.

25.03.2011

Nachzügler 2010 #3

RADIO CITIZEN - Hope And Despair


Schon merkwürdig, dass meine Anlaufzeit für das zweite Album des Berliner Produzenten Niko Schabel etwas länger ausfiel, als ich ursprünglich einplante. Sein "Berlin Serengeti" Debut aus dem Jahr 2006 funktionierte gleich von der ersten Sekunde an prächtig, der durchaus sonnige Mix aus Soul, Funk, Jazz und Hip Hop war nicht unbedingt schwerverdaulich, hatte aber trotzdem genug Tiefe, um nicht als banale Hintergrundbeschallung zu enden.

"Hope And Despair", für das Schabel neben seinen Arbeiten als Produzent und Filmkomponist vier Jahre benötigte, ist im direkten Vergleich nicht mehr ganz so flockig und leicht, im Gegenteil eher dunkel und ungeheuer breitwandig. Schabel selbst sagt über die unterschiedlichen Ansätze: "If 'Berlin Serengeti' was 8mm, 'Hope And Despair' is cinemascope, it's heavier, with more space and deepness." Und wer die Bestätigung dafür hören will, der riskiert ein Öhrchen beim großartigen "World", dass überlebensgroß mit einem Bläser-Orkan aus den Lautsprechern knallt, bevor es in den ruhigen Zwischentönen immer wieder subtil zwei, drei Gänge zurückschaltet und kurz darauf mittels eines kräftigen Grooves anschwillt und furios in die Höhe schnellt.

Ganz grundsätzlich wirkt "Hope And Despair" wie der Soundtrack zu einem Film, der noch gedreht werden muss, es erscheint ernsthafter und aufgeräumter. Schabel lässt sich "mehr Zeit für Bilder" (Harald Schmidt) in seinen Songs, und er hat außerdem einen größeren Fokus auf den Jazz gelegt, wie nicht nur im gleichfalls fantastischen "Isarwellen" nach zu hören ist. Unterstützt wird er dabei wie bereits auf dem Vorgänger von Sängerin Bajka (die darüber hinaus ihren eigenen Song "Summer Days" beisteuerte) und erstmals von der großartigen Ursula Rucker im Opener "Test Me", die mit ihrem typischen Flow ihre Poesie wie einen Mantel um Schabels Sounds legt. Es ist dabei faszinierend zu hören, wie es ihre Stimme immer wieder schafft, den Songs einen ganz eigenen Charakter zu verleihen. Man könnte eventuell dagegenehalten, dass sie in ihren Mitteln etwas begrenzt ist, andererseits gibt es niemanden, der Aufrichtigkeit und Stärke auf der einen und Melancholie und eine Art von Resignation auf der anderen Seite derart miteinander verbindet.

Was außerdem beeindruckend ist: "Hope And Despair" wächst praktisch mit jedem Durchlauf. Man muss sich vielleicht zunächst auf den leicht veränderten Sound einlassen, aber wenn man die ersten, etwas zähen Durchgänge übersteht und erkennt, was da im Hintergrund alles auf einen lauert, dann kommt die Neugier ins Spiel. Und dann beginnt der Spaß.

Erschienen auf Ubiquity Records, 2010.

19.03.2011

Nachzügler 2010 #2


BVDUB - The Art Of Dying Alone

Großer Gott - hätte ich nicht erst Mitte Februar Wind von diesem Album bekommen, meine Jahrescharts hätte es regelrecht zerbröselt. Seit meinem Kauf von "The Art Of Dying Alone" erklang in meinen Hallen in Hessen-Hitler-City keine andere Musik so oft wie jene des US-amerikanischen Produzenten Brock Van Wey, es gab Tage und Nächte, in welchen sie einfach auf Dauerrotation durchlief, und ich will offen sprechen: im Moment kommt nichts und niemand an ihn heran und schon gleich gar niemand an ihm vorbei.

Ich habe ja durchaus großes Glück, dass ich etwa zwei Mal die Woche im Home Office sitzen und in Ruhe arbeiten kann und es wurde in den letzten Wochen zu einem liebgewonnen Ritual, zunächst mittles der Deckenfluter ein sanftes Licht zu installieren, die Heizung hoch zu fahren, den CD-Player zu aktivieren und zu den ersten betörenden Klängen des Openers "Descent To The End" in die Küche zu schlurven, um die Senseo-Maschine (Scene-Points: -18) zu einer großen Tasse schwarzen Kaffees zu überreden. Die Stimmung, die sich daraus entspinnt, ist so friedlich, so atmosphärisch warm, so überaus romantisch und hell-neblig, dass ich mir keinen besseren Start in den Tag ausmalen mag.

Die Herzallerliebste, ebenfalls hingerissen von diesem Meisterwerk, bezeichnete die Musik als den Soundtrack zum Anklopfen an die Himmelspforte und tatsächlich versteckt "The Art Of Dying Alone" neben viel Trauer und Melancholie auch etwas Sakrales, Heiliges und Geheimnisvolles in sich, zu gleichen Teilen aber eine Reinheit und Schönheit, dass mir fast die Tränen kommen. Die mit weniger Empathie gesegneten unter uns würden sich sehr wohl langweilen, vielleicht von "orientierungslosem Rauschen" sprechen und schnell das Weite suchen, aber für die wurde diese Sammlung ja auch nicht gemacht. Ich selbst bin ehrlich gesagt auch noch nicht zum Kern dieser einhüllenden und umarmenden Musik gelangt, die Fixpunkte sind Repetition, Hall und Delay, Feedback-Drones und ohne Scheiß jetzt: ein helles Licht, dass direkt aus dem Lautsprecher in Dein Herz einschlägt. Aber warum es so funktioniert, wie es funktioniert...ich habe keinen blassen Dunst.

"The Art Of Dying Alone" ist das Schönste, was ich seit langem gehört habe, und ich werde das Gefühl nicht los, dass sich künftig verdammt viel an dieser Platte messen lassen muss.

Erschienen auf Glacial Movements, 2010.

Nachzügler 2010 #1

Der Listenquatsch gehört noch rund gemacht, wenn nicht gar abgerundet, weshalb ich nochmals durch die berüchtigte Excelliste rauschte, um heraus zu finden, wer aufgrund eher unglücklichen (zu spät gehört) oder geradewegs beschallerten (Compilation, Re-Issue) Gründen noch nicht bei der großen "Best Of 2010"-Party dabei sein konnte. 

Als Ergebnis plumpsten fünf Scheiben aus dem großen Sack, die am lautesten "HIER!" geschrien haben. Ich bitte zu beachten, dass dies nun nicht der dämliche Versuch ist, die Opfer meiner Top 20-Auswahlpolitik nachträglich ins Rampenlicht zu rücken, also etwas forsch ausgedrückt: die Resterampe zu präsentieren. Alle fünf Platten wäre unter anderen Umständen locker in die Top 20 gerutscht - hätte ich sie nur früher gehört. Oder wären es keine Wiederveröffentlichungen. Oder Sampler. 

Und keine Bange, ich mach's kurz.



BOBBY JACKSON - The Café Extra Ordinaire Story

Ein gehobener Schatz aus der "Holy Grail" Re-Issues Serie des britischen Jazzman-Labels, das unter anderem bereits an dieser Stelle positiv in Erscheinung getreten ist. "The Café Extra Ordinaire Story" wurde 1966 in Minneapolis aufgenommen und erst acht Jahre später in minimaler Auflage veröffentlicht. Ein Blick auf Popsike.com verrät: der Bausparvertrag ist fällig, will man die Originalversion sein Eigen nennen.

Bassist Bobby Jackson ist unter all den großen Geistern des Jazz einer der Vergessenen, einer derjenigen, die nie am richtigen Ort zur richtigen Zeit waren und die von den Blue Note, Prestige und Impulse!-Hauptquartieren meilenweit entfernt waren. Aber auch einer, der beispielsweise seinen Job kündigte, um einen Jazzclub in seiner Heimatstadt zu eröffnen, und der viel aufgeben und gleichzeitig viel kämpfen musste, um seinen Traum zu verwirklichen. Diese Platte ist das passende Instrument für eine tolle Zeitreise in eine Stadt, die gemeinhin als weißer Fleck auf der Jazz-Landkarte der 60er Jahre gilt. Das Sextett spielt einen swingenden, angesoulten, modalen Jazz, stilistisch und spirituell vielleicht mit dem vergleichbar, was sich Ende der 60er- und Anfang der 70er Jahre rund um Künstler wie Pharaoh Sanders, Alice Coltrane und Sun Ra entwickelte. Das größte Plus ist seine Nicht-Perfektion: die Aufnahme ist hier und da übersteuert und das Piano ist manchmal auch nicht in tune, aber wenigstens ich finde das total sympatisch und - Achtung, verbotenes Wort: authentisch.

180g Vinyl, auf 1000 Stück limitiert und leider arschteuer, aber ich bereue keinen Cent. Und um Dusty Groove zu zitieren: "These Jazzman Holy Grail series vinyl releases disappear in no time. Don't sleep!"

Erschienen auf Jazzman, 2010