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17.11.2024

"Da lässt sich noch einer Zeit für Bilder."




FLOATING POINTS, PHAROAH SANDERS 
& THE LONDON SYMPHONY ORCHESTRA - PROMISES


"You have to protect people from incompetent people" (Robert Sapolsky)


DAS Hipsteralbum des Jahres 2021. und zugleich: DAS vereinende Musikalbum des Jahres 2021. 

In Zeiten, in denen vornehmlich die Boomergeneration nur zu oft und - Distinktionsgewinn olé: zu gerne - den Abgesang auf die wahre, echte, schöne alte Musikwelt anstimmt, also die wahre, echte, schöne Auseinandersetzung mit wahrer, echter, schöner Musik in endlosen Kopfhörersessions im wahren, echten, schönen Ohrensessel, bei einer guten Flasche Eigenurin und einem guten Stück Haifischknorpel, weil die nachfolgenden Generationen alles, aber auch wirklich ALLES anders und damit, logo: schlechter machen als es die alten "Furzknoten" (Lagerfeld) es vor circa einer Billion Jahren taten, und das fragile Ego damit nun wirklich überhaupt nicht umgehen kann, produziert die Elektronik-Zaubermaus Sam Shepherd aka Floating Points mit dem Saxofonisten Pharoah Sanders wie es scheint mit links eine Jazz-, Ambient- und Klassik-Platte, deren Ankunft von Menschen jeder Altersgruppe wie der neue Heiland gefeiert wurde - und weiterhin wird. Selbst wenn jene Menschen mit Jazz, Ambient und Klassik zuvor soviel an der Frisur hatten wie H.P.Baxxter mit Atomphysik, Körperhygiene und Frauenrechten.

Über insgesamt neun sogenannte Movements spannt das Duo im Grunde ein einziges Motiv; das ist die Lebensader von "Promises". Und sowohl Sanders, als auch im weiteren Verlauf das London Symphony Orchestra, bleiben über die gesamte Spielzeit in ihrer Nähe, oszillieren, treiben, schweben, drehen und winden sich mit dieser kleinen, so unscheinbar wirkenden Welle aus gerade mal acht Tönen in ein minutenlang aufgeschichtetes Crescendo und sacken gemeinsam wieder ins nächste Diminuendo ab, bis die Intensität schnurstracks auf die Kernschmelze zukriecht. 

Und wenn der Mythos tatsächlich stimmen sollte, dass heute also wirklich niemand mehr so richtig zuhört oder zuhören kann, weil die Aufmerksamkeitsspanne so gering und der Druck so mächtig sind, dann ist's vermutlich genau das: ein Mythos. Denn - Achtung, der Ohrensessel naht - im Prinzip kommt hier nur so richtig dahinter, wer sich auf "Promises" mit Haut und Haaren einlässt. Den Bewegungen folgt. Sich treiben lässt. Die Kontrolle verliert. Und langsam....ganz langsam...in Richtung Ausgang schwebt. 

Angesichts des Erfolgs dieses Projekts, schweben vielleicht mehr im ergiebig-positiven Kontrollverlust umher, als das Narrativ der im Ausnahmezustand delirierenden Generation uns Glauben machen will. 

Was ich sagen will: Hoffnung für Alle. 

     

Vinyl: Die Erstpressung war sehr schnell ausverkauft, und weil davon irgendwie so ziemlich alle überrascht waren, dauerte es fast ein halbes Jahr, bis die nächste Edition in die Läden kam. Hübsches die-cut Cover, 12"-Inlay, schwarzes Vinyl. Es gibt viele gemischte Reaktionen zur Pressqualität, von "totalem Schrott" bis hin zur "bestklingenden Platte aller Zeiten" ist alles dabei, und ich möchte mich mit meinem Exemplar etwa in der Mitte platzieren. Ich bereue den Kauf natürlich nicht, aber "spektakulär" geht eventuell ein bisschen anders.


            


Erschienen auf Luaka Bop, 2021. 

01.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Radio Citizen - Lost & Found




RADIO CITIZEN - LOST & FOUND


„Ich habe nicht einen einzigen Sklaven in Katar g‘sehn. Die laufen alle frei ‘rum.“ (Franz Beckenbauer)


Fast aus dem Nichts erschien im Frühjahr 2023 diese Zusammenstellung von Niko Schabel's Radio Citizen Projekt, das von Mitte der nuller bis in die zehner Jahre hinein einigen Staub aufwirbeln konnte. Vor allem das umwerfende Debut "Radio Serengeti" aus dem Jahr 2006 (erschienen auf Ubiquity Records) mit den Hits "The Hop" und "Birds" versüßte mir so einige Tage und Nächte in meiner Wiesbadener Hood, und auch der Nachfolger "Hope And Despair"null war nach der sich aufgrund leicht angezogener Komplexität zeigenden Eingewöhnungszeit ein totales Highlight. Danach verlor ich Radio Citizen unerklärlicherweise aus den Augen, vielleicht einhergehend mit meinem sich immer stärker zeigenden Hang in Richtung Ambient und Dubtechno. Irgendwas rutscht ja immer vom Radar und hinterher hat man dann den Salat. 

Auf "Lost & Found" stehen zehn bislang unveröffentlichte Tracks, die sich an genau jenem Sound der ersten beide Alben orientieren: eine betörende, unwiderstehlich groovende Mischung aus krautigem Soul und Funk mit jazzigen Nuancen und einem freien, urbanen Electronica-Vibe. Wie schon auf den früheren Alben setzt Sängerin Bajka die prominentesten Akzente in diesem so breitbandig inszenierten, an allen Ecken und Enden brodelnden Sound: ihre an Jazzgrößen wie Nina Simone erinnernde Stimme hat soviel Tiefe und Charisma, ihre Phrasierung soviel Einzigartigkeit, dass sich damit praktisch jede gespielte Note in jene Sphären schrauben lässt, die üblicherweise nur von echten Legenden bewohnt werden. Auch die instrumentalen Songs wie beispielsweise "Mountains" lassen mich mit smarten Arrangements und den akzentuierten Dynamiken für verdiente Standing Ovations auf den Wohnzimmertisch klettern. "Lost & Found" ist eine der schönsten Überraschungen des letzten Jahres. Ich weiß nicht, ob man diesen Sound im Kontext der musikalischen Entwicklungen der letzten Jahre mittlerweile schon anachronistisch nennen darf, aber in meinem Buch klingen diese Songs - auch wenn sie einige Jahre auf dem Buckel haben dürften - immer noch frisch und sind mit ihrer funkensprühenden Lebendigkeit absolut zeitlos. 

Eigentlich bin ich geneigt zu sagen: wir brauchen heute mehr denn je genau diese Vibes. Herr Schabel, bitte übernehmen Sie. Ich bin bereit für mehr. 





Erschienen auf Rauschen Records, 2023.

30.03.2024

Best of 2023 ° Platz 8: Element Of Crime - Morgens Um Vier




ELEMENT OF CRIME - MORGENS UM VIER


"Das Leben ohne Liebe ist nicht so einfach, wie Du glaubst." (Sven Regener)



Im vergangenen Juni starb unser Hund Fabbi. Er war unser erster Hund und war seit August 2009 in unserer Mitte, gerettet aus einem spanischen Tötungslager und mit einem Mercedes-Transporter in einem über 20 Stunden dauernden Ritt auf eine Waldlichtung bei Würzburg gebracht. Fabbi wurde 19 Jahre alt. 

Die acht Monate vor seinem Tod waren... - ich habe jetzt ein paar Minuten über das passende Wort nachgedacht, aber ich finde keines. Fabbi wurde im Oktober 2022 krank, und was zunächst nach einer nicht unbedingt ungewöhnlichen, wenn auch unschönen Magen/Darm-Episode aussah, entwickelte sich über einige Wochen zu einem Dauerzustand. Er hörte nichts mehr, er fraß nur noch unregelmäßig, die Demenz verschlimmerte sich zusehends, sein rechtes Hinterbein knickte nach innen weg, weil der Rücken, so oder so geschwächt von einem Bandscheibenvorfall aus dem Jahr 2019, offenbar nicht mehr genug Kraft hatte, ihn hinten gerade zu halten. Alina und ich taten in dieser Zeit alles, um sein Leben so leicht und unbeschwert wie nur irgend möglich zu machen - die Frage, ob es für ihn das leichte und unbeschwerte Leben denn unter diesen Umständen überhaupt noch geben kann, war sowohl ständiger Begleiter wie auch eine ständige Erinnerung an das Ende. Und an die Entscheidung über Leben und Tod, die wir irgendwann treffen mussten. Er würde es uns nicht ersparen können, das war klar. Die Wahrheit aber ist: ich konnte ihn nicht gehen lassen. 

Wir schliefen über diese acht Monate keine einzige Nacht durch. Wir beruhigten ihn, wenn er nachts wie ein Getriebener durch das Schlafzimmer irrte, wir schliefen mit ihm auf dem Boden, vor seinem Bettchen, streichelten ihn, nahmen ihn in unsere Arme, beschützten ihn, küssten seinen Kopf. Traten um 3 Uhr nachts mit ihm auf die leeren Straßen Sossenheims, damit er nochmal pissen oder kacken konnte. Ich lief manchmal eine ganze Abendrunde um den Block zu ihm heruntergebeugt, damit er hinten nicht wegknicken und damit besser laufen konnte. Verbrachte Stunden mit ihm vor seinem gefüllten Fressnapf, um ihn irgendwie zum Fressen zu bewegen. War zu Tode betrübt, wenn es mal wieder nicht klappte und dann wieder fast schmerzhaft unangemessen euphorisch, wenn er aus dem Nichts plötzlich damit anfing, sein Futter geradewegs zu inhalieren. Ich war am Boden zerstört, wenn er seinen sonst so geliebten Plüschknochen nur mit leerem Blick hinterherschaute und weinte vor Freude, wenn er ihm mal drei Meter hinterhersprang und dann versuchte, ihn mir zurückzubringen. Dann war es für wenige Minuten so wie früher. Dann erkannte ich unseren Fabbi wieder. Vielleicht erkannte er sich in jenen Momenten auch selbst wieder, erinnerte sich an das Herumtollen, die Belohnungen, sein geliebtes Nasch-Nasch, die Streicheleinheiten. Aber die Momente wurden seltener. Und dann noch seltener. Und am Ende, da gab es sie schlicht nicht mehr. 


Ich weiß auch nicht, wie das gehen soll
Ich bin schon viel zu lang' allein
Mein Mut ist klein, mein Herz ist kalt
Doch mit dir zu sein ist wundervoll


Emotional und körperlich war ich im absoluten Ausnahmezustand. Und ich muss das so deutlich sagen: ich war ein ferngesteuertes, auseinanderfallendes Wrack. Und für Fabbi hielt ich das Wrack auf Kurs, um jeden fucking Preis. Denn die Wahrheit ist: ich konnte ihn nicht gehen lassen. 

-

Ab dem 22.Juni 2023 waren Alina und ich alleine in unserem Haus. Zum ersten Mal seit 1999 waren wir nur noch zu zweit. Unsere Katzen Kleini und Schnuffel mussten uns schon früher verlassen, Fabbi war der letzte vierbeinige Mitbewohner. Und wie sehr uns sein Sterben wirklich mitgenommen hatte, wie erloschen wir waren, das erkannten wir eigentlich erst so richtig in den kommenden Wochen und Monaten, als wir uns langsam wieder aufrappeln mussten und feststellten, dass das Loch, in dem wir saßen, sogar noch tiefer war als zunächst befürchtet. 


Ende August musste ich als Businesskasper zu einem Termin in Hamburg reisen. Wir entschieden, dass wir die Gelegenheit nutzen und zwei Tage auf eigene Faust anhängen, um mal rauszukommen, um etwas anderes zu sehen, Luft reinzulassen, vielleicht zur Abwechslung auch mal wieder ein bisschen Licht. An einem leicht bewölkten, trüb-sonnigen Sonntagmittag setzten wir uns ins Auto und fuhren von Hamburg nach Timmendorfer Strand an die Ostsee. Fabbi liebte den Strand. Unvergessen sind die vielen Momente dieses komplett durchdrehenden Fellballs, wenn er am Meer war. Als Soundtrack für unsere Reise wählten wir "Morgens Um Vier" von Element Of Crime...

...und ich habe die gut 60 Minuten dauernde Fahrt praktisch durchgeheult. 


Hier sei gesagt: Ich bin nicht unbedingt glühender Fan von Element Of Crime. Ich bin der Band grundlegend sehr zugeneigt, einige ihrer Songs hinterließen ihre Spuren in meinem Leben, andere laufen schnurstracks an mir vorbei, ohne eine Berührung zu verursachen. Wenn jedoch "Morgens Um Vier" seine Kreise zieht, steht mein Gefühlszentrum im Vollbrand. Es mag am berüchtigten Set und Setting des Erstkontakts gelegen haben, dass ich so entflammbar war, so empfänglich für diese in purer Schönheit, subtilem Humor, alternativlosem Optimismus und hedonistischer Kapitulation gebatikte Melancholie. Und es mag der wenigstens in dieser Causa noch halbwegs funktionierenden Erinnerung an diese Autofahrt zu verdanken sein, dass es mich auch an einem frühlingshaften Tag im März des Folgejahres noch immer beinahe zerreißt. 

Die Magnolie wird blühn
Und der Rasen wird grün
Und der Flieder die Bienen verzaubern
Und die Vögel singen im Vogelbeerbaum ihre Lieder
Und dann kommst du wieder
Und gehst nie wieder fort
Von hier

In die unnachahmliche Mischung aus Indierock, Chansons, Pop und Jazz, meisterhaft inszeniert sowohl für eine kammermusikalische Aufführung wie für die Grandezza der Elbphilharmonie, mit einem nahezu perfekten Gespür für die eleganten und schwärmerischen Arrangements, setzt Sänger und Texter Sven Regener mit seiner typischen, leicht ruppigen Art seine Worte über die Liebe, das Altern, das Zweifeln, die Furcht, die Sehnsucht, das Erkalten...die Entzündungen des Lebens. 

Im zaudernden, beinahe torkelnden "Wieder Sonntags" singt Regener:

Wer braucht alte Sofas, wenn du nicht draufsitzt
Wer braucht schöne Lieder, wenn du sie nicht singst
Ein Lächeln von dir war schon immer Gottes größtes Wunder
Und den Himmel versprach schon immer die Liebe, die du bringst
Jetzt bin ich ganz allein und sehne mich nach dir
Es ist wieder Sonntag und du fehlst mir so sehr

Und was soll ich bitte dazu noch sagen?






Erschienen auf Vertigo, 2023. 

30.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (4): Amanda Whiting - Lost In Abstraction




AMANDA WHITING - LOST IN ABSTRACTION


"What are they tuning, a harp?!" (Kurt Cobain)


Eine Harfe. Ich liebe Harfenmusik. Ich höre viel zu selten Harfenmusik. Ich sollte viel öfter Harfenmusik hören.

Als ich beim Stöbern im Frankfurter Plattenladen Tactile Records über "Lost In Abstraction" stolperte, fiel die Kaufentscheidung im selben Moment, als ich Amanda Whitings Instrument der Wahl erblickte. Dorothy Ashby, Alice Coltrane und, etwas aktueller, Joanna Newsom haben das engelsgleich klingende Rieseninstrument direkt in meine linke Herzkammer gerollt, jetzt ich bin bereit für einen neuen Namen, eine neue Idee, einen neuen Weg. 

Die Waliserin Amanda Whiting hat sich für ihr sechstes Soloalbum einen etwas missverständlichen Titel ausgesucht. "Abstrakt" klingt hier wenig. Das Album erschien im vergangenen Jahr auf Jazzman und da tanzt für gewöhnlich nicht gerade die Avantgarde auf den Tischen - und erwartbar bleiben die Geschwister "Dekonstruktion" und "Atonal" auch draußen vor der Tür. Im gleichen Atemzug muss ich aufpassen, es nicht gleich wieder ins Despektierliche abgleiten zu lassen, wenn ich das Bild vom "Drinnen" zeichne und von britischer Konfektionierung spreche, diesem doch sehr prosaischen Duktus des größeren Teils der der aktuellen britischen Jazzszene, der mehr Wert auf Versachlichung als auf das manische Erleben von Grenzerfahrungen legt. "Lost In Abstraction" kann bis auf ein, zwei Momente völlig problemlos als Hintergrundmusik für den sonntäglichen Brunch in der Alten Oper in meiner Heimatstadt verwendet werden. Das mag an sich schon eine Qualität sein, die es zu schätzen gilt - die Harfe ist ein leises Instrument, daher ordnet sich die Musik des Quartetts ihr ganz natürlich unter und wird grazil, elegant, zu gleichen Teilen subtil wie direkt und bietet viel Oberfläche zur räumlichen Entfaltung. Diese Vielfalt gibt es bei all der polierten Fassade tatsächlich auf "Lost In Abstraction", und es ist lohnenswert, auch besonders diese Räume zu besuchen.

Whiting verwendet ihre Harfe mal als Substitut für ein Piano zur Begleitung, als Grundierung für die melodischen Akzente, die Chip Wickham, ein alter bekannter der britischen Jazzszene, mit seinem Saxofon und seiner Flöte in den Mix einwirft. Tritt sie in Solopassagen oder in harmonisch stärker ausdifferenzierten Momenten mehr in den Vordergrund, erwächst aus ihr eine beinahe mystische Qualität, etwas Phantastisches. Zusammen mit dem Perkussionisten Baldo Verdú bereist sie in "Where Would We Be" die nächtliche Wüste, und besucht Oasen auf dem wackligen Rücken von Kamelen. Im Solostück "Discarded" perlen die Töne durch ein kaskadenförmiges Wasserspiel, frei beweglich, spielerisch - und es ist auch sechzig Jahre nach Alice Coltrane immer wieder verblüffend, wie viel Texturen dieses so liquide Instrument ausformulieren kann. In "Too Much", einem der Höhepunkte des Albums, duelliert sich Whiting gar mit dem Bassisten Aidan Thorne, der zunächst mit einem virtuosen Solo startet, bevor er mit der Band ein pulsierendes Rhythmusdickicht inszeniert, auf dem Whiting sich mit einem stilisierten Gitarrensolo austobt. 

Wie so oft liegen auch auf "Lost In Abstraction" die hocherfreulichen Entdeckungen der Musik unter der Oberfläche, sind etwas verborgen, ein bisschen Chiffre hier, ein bisschen Mystik da. In Zeiten, in denen wirklich alles am Exterieur verhandelt wird, weil Kapazitäten und Ressourcen als Folge von kompletten Verlust von Fokus so knapp sind, dass sie nur für die reine Existenz im Maschinenraum des Lebens die Notbeleuchtung aufrecht erhalten, sind Momente solchen Eintauchens Gold wert. 


Vinyl: Jazzman Pressungen sind selten fehlerfrei, und so ist es auch hier. Schlimmster Makel ist der Seitenschlag auf der B-Seite, das heißt: die Rillen sind nicht zentriert gepresst und je weiter der Tonarm in Richtung Plattenmitte wandert, desto mehr Raum bekommt der LSD-Trip des Leierkastenmanns. Darüber hinaus: non-fills und zahlreiche Klicks, vor allem auf der B-Seite. Ich höre mir die Platte trotzdem an, weil Streaming immer noch der hinterletzte Vollscheiß ist, aber gut ist ist das nicht. Das Frontcover ist toll. Das Foto der Musikerin auf dem Backcover ist hingegen diskussionswürdig. Welche*r halbwegs professionelle Fotograf*in schaut sich sowas an und denkt sich "Sieht prima aus, das nehmen wir!"?! Dafuq?! (+)


 



Erschienen auf Jazzman Records, 2022.

09.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (2) - Shabaka And The Ancestors - We Are Sent Here By History




SHABAKA AND THE ACENSTORS - WE ARE SENT HERE BY HISTORY

Neuer Jazz stand 2020 nicht hoch im Kurs im Hause Dreikommaviernull. Ich habe von neuen Veröffentlichungen tatsächlich nur sehr wenig mitbekommen - das liegt an meiner Ignoranz und nicht an dem Mangel neuer Musik, just sayin' - und die neuen LPs von Nubya Garcia oder Nubiyan Twist stehen immer noch auf dem Einkaufszettel, anstatt bereits (ausgiebig gehört) im Schrank. Der Fotograf und Betreiber der Jazzpages Frank Schindelbeck kommentierte letztes Jahr auf Twitter, für sein Bankkonto sei es überaus erfreulich, dass ich so selten über Jazz schreibe - und mich machte das wirklich etwas betroffen. Nicht weil ich mich über Gebühr um Franks Bankkonto sorge, sondern weil Jazz auf dreikommaviernull.de seit ein paar Jahren tatsächlich stark unterrepräsentiert ist, und das ist vor allem hinsichtlich der sich über das letzte Jahrzehnt entwickelten Renaissance der Jazzszene im Vereinigten Königreich beinahe ein kleiner Offenbarungseid - das gilt selbst unter Berücksichtigung des fehlenden Anspruchs dieses Blogs, über aktuelle Ereignisse oder Strömungen im Sinne eines Magazins zu informieren. Das war nie der gedachte Sinn von all dem geschriebenen Unsinn (sic!), aber ich hätte mich schon ein bisschen mehr anstrengen können, bon.

Es ist vor diesem Hintergrund gleichfalls verstörend, mit Shabaka Hutchings einen der bedeutendsten Protagonisten jener florierenden Szene lediglich zwei Mal auf diesem Blog namentlich erwähnt zu haben, anstatt auch über seine Werke zu schreiben. Das im Jahr 2016 erschienene "Wisdom Of Elders" (noch auf Brownswood Recordings erschienen) hätte bereits in die damalige Top 20 gehört und ähnliches könnte ich auch über das 2018er Durchbruchsalbum "Your Queen Is A Reptile" seines Projekts Sons Of Kemet schreiben. "We Are Sent Here By History" ist nun das zweite Album des Tenorsaxofonisten mit seinen Ancestors, ein herausforderndes, manchmal verwirrendes, manchmal erleuchtendes Monument des Jazz, das künftigen Generationen als Zeitkapsel dienen wird, um sich über den Zustand der Welt im Jahr 2020 zu informieren. Aufgenommen in Johannesburg, wo die Ancestors zu Hause sind, vibrierend vor Spannung, drückend. Köpfe in den Wolken, geerdet im Zerfall. 

Meine persönlich gezogenen Linien zwischen dieser Platte und der Zeit, in der sie entstand und wirkte, beziehen sich vor allem auf die globalen Black Lives Matter-Proteste aus dem Mai des vergangenen Jahres, die in den USA mit der Ermordung von George Floyd begannen und sich von dort aus zu einem globalen Phänomen ausweiteten. Der Schmerz, die Verzweiflung und der bebende Zorn derer, die jahrhundertelange Unterdrückung plötzlich so klar wie nie zuvor sehen konnten auf der einen, und die wohl noch nie so stark gespürte Anerkennung der eigenen Schuld und Verantwortung auf der anderen Seite, vereinigten sich zu einer mitreißenden Bewegung, die für mich das Jahr mindestens so bestimmte wie die Covid-19-Pandemie - und unter diesem Eindruck des Aufruhrs, der Erweckung, aber auch der Verbrüderung hörte ich "We Are Sent Here By History" als weitere Stimme dieses Chors, als Aufschrei, als Weckruf. Die Worte von Autor und Dichter Siyabonga Mthembu begleiten die Band dabei auf ihrem Weg durch das Album, sie untermalen und untermauern das thematische Konzept eines neu gedachten Humanismus nicht nur, sie stehen ganz zentral für Veränderung: 

"We are sent here by history/The lighter gave fire, and was present at the burning/The burning of the republic/Burnt the names, burnt the records, burnt the archive, burnt the bills, burnt the mortgage, burnt the student loans, burnt the life insurance/An act of destruction became creation."


Hutchings selbst sagt:

"'We Are Sent Here by History’ is a meditation on the fact of our coming extinction as a species. It is a reflection from the ruins, from the burning; a questioning of the steps to be taken in preparation for our transition individually and societally if the end is to be seen as anything but a tragic defeat. For those lives lost and cultures dismantled by centuries of western expansionism, capitalist thought and white supremist structural hegemony the end days have long been heralded as present with this world experienced as an embodiment of a living purgatory."

Was die Musik dieses Sextetts (unter anderem mit dabei: Schlagzeuger Tumi Mogorosi, über dessen Debutalbum ich vor einigen Jahren schrieb) so drastisch und expressiv macht, ist die authentische Wucht des Vortrags einerseits, ein tosender, entfesselter Sturm aus einer Million Kehlen und Lungen, andererseits die tief verwurzelte Spiritualität der Gruppe, ihre Geschichte, ihre Verbindung zu ihrem Land und ihren Menschen. Aus diesen zwei vornehmlichen Strömungen in dieser Musik entsteht eine Wahrhaftigkeit, eine Überzeugung darüber, dass Veränderung unausweichlich ist. 

Man antizipiert den Schmerz, man hört geradewegs das Auseinanderreißen alter Strukturen, die Zerfaserung, das Splittern. Man schmeckt die Tränen. Alle gemeinsam für ein neues Morgen.


 


Erschienen auf Impulse Records, 2020.



27.01.2021

Best of 2020 ° Platz 20 ° Zara McFarlane - Songs Of An Unknown Tongue



ZARA MCFARLANE - SONGS OF AN UNKNOWN TONGUE

Bring me the snowfall, bring me the cold wind, bring me the winter
(New Model Army)

Ein neuer Sound, ein neuer Weg, schon wieder. Elektronische Beats, Jamaica, Bass. Viel Bass. Viel Raum. Überzeugung, Emanzipation und Mut. Darunter ein beinahe durchgängig raschelnder Geräuschteppich, der nach Waldboden unter den tanzenden Füßen klingt. 

"Songs Of An Unknown Tongue" entstand in Zusammenarbeit mit den beiden Produzenten Wu-Lu und Kwake Bass nach einem längeren Aufenthalt in Jamaica, wo McFarlane die traditionellen Rhythmen und Melodien jamaikanischer Riten und Tänze wie Bruckin oder Dinki Mini erforschte. Das Ergebnis ist nach der schon beim letzten Album "Arise" vorgenommenen Öffnung eine erneute Erweiterung ihres Stils, dieses Mal noch deutlicher als zuletzt: anstatt sich wie auf ihren vorangegangenen Werken und hinsichtlich der Instrumentierung in einem weitgehend traditionellen Jazz/Soul-Umfeld zu bewegen, richtet sie "Songs Of An Unknown Tongue" auf ein elektro-akustisches Konzept aus, das die Künstlerin in bislang noch nicht erschlossenes Gebiet bringt. In tief pumpendem Bass-Gestrüpp hängen Gesangsarrangements, die sich nicht zwischen Avantgarde und Tradition entscheiden können und wie Farbklekse auf eine Leinwand geworfen werden, mal unmittelbar und frei, mal bis ins letzte Detail durchkomponiert. Ihre Stimme hat eine ganze Menge zu leisten, denn wenn es hinter ihr minimalistich pluckert, schnarrt und raschelt, braucht es die Struktur ihres charaktervollen Gesangs, die den Laden zusammenhält - oder aber in voller Absicht nicht mal das, wie beispielsweise in "Run For Your Life" oder "Saltwater", zwei Tracks, die auch im ohnehin nicht kerzengeraden Albumkontext ziemlich weit draußen ihre Kreise ziehen. Im Gegensatz dazu stehen weite Teile der B-Seite, deren Songs versöhnlicher klingen und mit dem herausragenden "Roots Of Freedom" beinahe eine moderne, spirituelle Version eines alten Grace Jones-Klassikers anbietet - abzüglich dessen Hedonismus, versteht sich; damit hat McFarlane auf dieser sehr geerdeten und erdigen Produktion nichts an der Frisur. 

"Songs Of An Unknown Tongue" erzählt vom Leben einer schwarzen Frau im urbanen London. Es zieht Linien zwischen Rassismus, Kolonialismus und der eigenen Identität, es feiert die Geschichte ihrer Vorfahren. Diese Musik vermittelt die Suche nach dem eigenen Ich und dessen Platz in dieser Gesellschaft mit Hilfe einer ebenfalls suchenden Musik - deren Grenzen eingerissen werden müssen, bis sie frei schwingen kann. 

Kein Platz und keine Zeit für Zorn. Was wir brauchen ist ein aufrichtiger Blick in eine selbstbestimmte, selbstbewusste, freie Zukunft.

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Pressung: Was für Brownswood-Pressungen üblicherweise richtig ist, gilt auch hier: flach, keine Störgeräusche. Einfach gut. (+++++)

Ausstattung: Fantastisches Coverartwork, bedruckte (ungefütterte) Innenhülle, schwarzes Vinyl. Kein Downloadcode. (++++)
  

   



Erschienen auf Brownswood Recordings, 2020.


23.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (5): Sadik Hakim - Sadik Hakim


SADIK HAKIM - SADIK HAKIM

So richtig schlau werde ich aus dem US-amerikanischen Pianisten Sadik Hakim nicht. Seine Karriere startete recht früh und inmitten der Bop-Bewegung in den 1940er Jahren mit Gigs für Ben Webster, Charlie Parker, Miles Davis und Lester Young. Er begleitete außerdem die größten Jazz-Sängerinnen wie Billy Holiday, Dinah Washington und Ella Fitzgerald, spielte auf Thelonious Monks Beerdigung und hat gerüchteweise einige sehr bekannte Bop-Stücke geschrieben, deren Urheberschaft sich andere unter den Nagel gerissen haben sollen - und weil ich gerade bei Monk war: "Eronel" stammt angeblich aus Hakims Feder. Könnte man nun nicht erwarten, dass sein Status in der Jazzszene ein anderer, ein ruhmreicherer ist? 

1962 nahm er sein erstes Album als Leader auf, aber seltsamerweise war "East And West Of Jazz" lediglich eine Art Split-LP mit dem Pianisten Duke Jordan auf Charlie Parker Records. Mitte der 1960er Jahre zog Hakim nach Montreal, wo er mit gleich zwei Jahren Verspätung sein nächstes Album als Leader einspielte, ein 1973 für die Canadian Broadcasting Corporation (CBC) aufgenommenes Werk, das unter gleich mehreren Titeln vermarktet wurde - "London Suite", "Transcription", "Canada" und "Sadik Hakim" - wie immer eine extragute Marketingstrategie. Das Album gilt für viele Jazzfreunde als das Magnum Opus Hakims, nicht zuletzt wegen der die komplette A-Seite in Beschlag nehmenden Mammutkompostion "London Suite", die sich über vier Teile erstreckt und vor allem in den balladesken Momenten wie dem eröffnenden "Heathrow In The Morning" und dem abschließenden "Harlow Homcoming" Hakims melodische Tiefe und kompositorische Dehnung zeigt. 

Das Album wurde 2014 unter dem Namen "Canada" auf dem italienischen Spezialistenlabel seriE.WOC (eine echte Fundgrube für raren Jazz, übrigens - und das meine ich als Warnung: https://eatingstanding.bandcamp.com/) wiederveröffentlicht, allerdings nur in einer kleinen Auflage und daher leider zu einem sehr unattraktiven Preis für um die 40 Euro. 2019 nahmen sich die Kanadier von Return To Analog der Platte an, und ließen 500 Exemplare bei der Precision Record Pressing in Ontario herstellen, einem 2017 gegründeten Joint Venture mit, Achtung, festhalten: GZ Media. GZ Media erstellte den Schnitt und die Lacqeurs, PRP presste die Platten - und beide haben hier einen wirklich guten Job gemacht, denn zumindest meine Kopie ist flach und läuft ohne Störgeräusche. Nun ist dieses feine Werk auch für kleines Geld zu haben. 

Werte Leser, "i soag's ganz ehrli" (Karl "Der" Moik): die stundenlange Recherchearbeit habe ich nicht umsonst gemacht! Ihr kauft das Ding jetzt. Hopp, hopp. Fogg it!


   



Erschienen auf Radio Canada Internation 1973/Return To Analog, 2019.


21.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler 2020 (4): Keith Jarrett - The Melody At Night, With You



KEITH JARRETT - THE MELODY AT NIGHT, WITH YOU


In gewisser Weise ließen sich Teile des kürzlich geschriebenen Texts über Ministry auch auf Keith Jarrett übertragen. Der Pianist hat sich aus echter Überzeugung eine Kontroverse nach der anderen an die Griffel geflammt, von seinen frühen Statements zu elektronischen Instrumenten und elektronischer Musik ("It may not apply to somebody else, although I could go into the philosophical aspects of it and make it almost an objective argument whereby playing electric music is bad for you and bad for people listening, which I do believe." - Ähnliches könnte der Autor dieses Blogs übrigens über Musikstreaming im Allgemeinen und Shitify im Speziellen schreiben, aber wer wittert hier schon eine Kontroverse?!) bis hin zu den abgebrochenen und manchmal nicht mal begonnenen Konzerte, weil das Publikum hustet und/oder Fotos anfertigt. Jarrett war dabei immer aufrichtig und echt, aber freilich fügte es ihm in den eher hochgeschlossenen Kreisen des Jazz und darüber hinaus auch enormen Schaden zu - und wer das Publikum des Umbria Jazz Festivals in einem minutenlangen Meltdown als "Arschlöcher" beschimpft, würde in einem anderen Kontext, sagen wir 1981 im New Yorker CBGB, zuerst anerkennend angespuckt und anschließend auf Händen getragen. 

Die Aufnahmen zu "The Melody At Night With You", einer Sammlung von Standards und Traditionals (plus eine Improvisation) für Solo-Piano, entstanden in der Erholungsphase seines Chronic Fatigue Syndroms Ende der 1990er Jahre und waren ursprünglich als Weihnachtsgeschenk für seine damalige Frau gedacht. Das 1999 veröffentlichte Album wurde zu einem großen Erfolg und wer es hört, versteht warum: Jarrett versinkt über die 55 Minuten über den Tasten und eigenen Abgründen, wird eins mit dem Piano und durch die Töne hindurch: mit der Stille. Wo sonst riesige Konzertsäle vor Ehrfurcht (und dank beim Einlass verteilter Hustenpastillen) verstummen, sind es hier einerseits Jarretts Liebe und Zuversicht, andererseits seine durch die Krankheit verursachte Kraftlosigkeit, die seine umgebaute Bauernscheune im Nirgendwo an der US-amerikanischen Ostküste zum leisen Vibrieren bringen und in kaum wahrnehmbares, diskretes Licht tauchen.


   


Erschienen auf ECM, 1999.



Hey ECM, ich warte übrigens immer noch auf die 4.LP Box von "Radiance"



08.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (3): The Cinematic Orchestra - Motion




THE CINEMATIC ORCHESTRA - MOTION


Talking about "zeitloser Klassiker" und "Wiederentdeckung": "Motion" des Cinematic Orchestras passt wie Jazzanovas "In Between" in beide Kategorien. Die Vinylfassung des 1999 erschienenen Debuts dieses Kollektivs stand bereits seit vielen Jahren auf meinem Wunschzettel, aber es sollte erst im Herbst des Jahre 2020 endlich soweit sein. 

Mein erstes Zusammentreffen mit "Motion" muss wie bei "In Between" etwa zur Mitte der nuller Jahre stattgefunden haben; einer sehr turbulenten Zeit, in der sich mein Leben praktisch alle zwei Wochen neu erfand - und neu erfinden musste. Ich entdeckte elektronische Musik, ich entdeckte Jazz und irgendwie entdeckte ich mich dabei selbst mehr und besser als in den vorangegangenen 28 Jahren. Die innere Befreiung, dass es mehr zu sehen, denken und fühlen gab, öffnete mich im Außen für Inspiration und Neugier. Es brauchte in diesem Zustand keine besondere Anstrengung, mich in einem Album wie "Motion" gleichermaßen zu spiegeln und zu verlieren. Die Atmosphäre aus verdichtetem cut-and-paste Jazz und grobkörniger Electronica entwickelt eine unnachahmliche Dringlichkeit und wirkt spätestens beim Höhepunkt "Night Of the Iguana" wie ein Film Noir-Soundtrack from outer space: fremdartige Bewegungen aus der Tiefe der Nacht, des Raums und der Zeit. 

Fanfaren, Drama, Kontemplation und Exzess.


   



Erschienen auf Ninja Tune, 1999.


05.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (2): Jazzanova - In Between




JAZZANOVA - IN BETWEEN


Es war gar nicht so leicht, ein gut erhaltenes Exemplar des Jazzanova-Debuts zu ergattern, wenn man nicht gleich einen japanischen Postdienstleister bemühen wollte, und ich kann nur spekulieren, dass die drei Scheiben von "In Between" auf den Plattenspielern dieser Erde über die letzten 18 Jahre so oft, so lange und mit so viel Begeisterung gespielt wurden, bis mit letzter Kraft und zitternder Hand nur noch ein "G+" in das Feld für die Zustandsbeschreibung auf dem Plattensammlerportal Discogs eingepflegt werden konnte. Ich könnt's verstehen.

"In Between" war neben "The Cosmic Game" der Thievery Corporation mein Einstieg in die Welt elektronischer Musik und trotzdem rutschte es mir bis zum 2018er Comebackalbum "The Pool" unerklärlicherweise vom Radar - und nachdem ich mich angemessen geschämt hatte, begab ich mich für die nächsten zwei Jahre, ich habe ja sonst auch nichts zu tun, auf die Suche nach dieser LP. Und als ich sie endlich fand, fehlten die Original Inlays von zwei der drei Platten. Die Leiden des alternden Plattensammlers im Jahr der globalen Pandemie. Es geht schon wieder, danke für die Nachricht.

Das erste Auflegen in der brütend heißen Behausung im Frankfurter Westen schleuderte mich gefühlsecht in den Frühling des Jahres 2005, ins riesige Wohnzimmer unserer Wiesbadener Altbauwohnung mit den großen Fenstern und den langen weißen Vorhängen, durch die sich der Duft des herannahenden Stadtsommers mit dem sanften Aroma des frisch gebrühten Jasmintees vermählte und dem leichtfüßigen, raffinierten Gemisch aus Downtempo, Broken Beat, Jazz und HipHop einen passenden Rahmen schenkte. "In Between" ist Jazz für den Club, sophisticated, urban, elegant, sexy.

This stuff just never gets old. 

                     

Erschienen auf Jazzanova Compost Records, 2002.

01.01.2021

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (4): Jackie McLean - It's Time

 




JACKIE MCLEAN - IT'S TIME


Über Blue Notes im Jahr 2019 gestartete Tone Poet-Reihe gäbe es genügend Gründe, um bis nächsten März durchzuschreiben und ich muss mich ein ganz kleines bisschen beherrschen, es nicht wirklich zu tun. Vielleicht braucht es demnächst an dieser Stelle mal etwas Ausführlicheres zu der ein oder anderen Platte.  

Die in die Fußstapfen des eigentlich im Jahr 2018 gestoppten und im Jahr 2019 mit einem Verweis auf das neu eingesetzte SRX Vinyl, ausgeschrieben "Silent Running Xperience" - dafuq r u talkin' about?! - überraschend wieder gestarteten Music Matters-Projekts (Neupreis 75 Dollar pro Platte, natürlich alles längst ausverkauft) tretende Tone Poets-Serie soll vermutlich den Markt der Viertel- bis Halbstarken audiophilen Zielgruppe bedienen und bietet eine sich sehr wertig anfühlende und -hörende Schallplatte auf 180g schwerem Vinyl, gepresst von Record Technology Incorporated in Kalifornien, zu Hause in einem dicken Tip-On Gatefold-Cover mit eleganten und großformatigen Schwarzweiß-Fotografien. 

Gemastert von Kevin Gray von den originalen Mastertapes unter der künstlerischen Aufsicht von Music Matters-Gründer Joe Harley soll sich Tone Poet hinsichtlich der Titelauswahl in erster Linie auf die eher unbekannten oder gar obskuren Alben aus dem Blue Note Katalog konzentrieren. Die erste Veröffentlichung im Februar 2019 war gleich ein solch obskurer Fall: Wayne Shorters "Etcetera" wurde ursprünglich 1965 aufgenommen, von den damaligen Verantwortlichen Blue Notes aber aus unbekannten Gründen bis ins Jahr 1980 in den Safe gesteckt und erst dann mit einem zu jener Zeit so typischen wie hässlichen Blue Note-Artwork herausgebracht. Ein Großteil der danach erschienenen Tone Poet-Editionen machen es dem Beobachter indes nicht ganz so leicht, einen roten Faden in der Auswahl der Titel zu entdecken. So ist mir auch der Hintergrund für "It's Time" nicht ganz klar. Das Album war bis in die 1980er Jahre hinein verfügbar und wurde erst 2016 für den europäischen Markt von Elemental Music (Spanien) lizenziert und mit einer ebenfalls als "audiophil" vermarkteten Pressung von GZ Media (lol) veröffentlicht. Unabhängig von den ganzen Fragezeichen über die unterschiedlichen Pressungen ist "It's Time" aber ein weiteres beachtenswertes und für die Zeit der Aufnahme sowohl typisches als auch untypisches McLean Album. Zwei der drei Tracks von Trompeter Charles Tolliver, hier auf seiner vermeintlich allerersten Plattenaufnahme überhaupt zu hören, wagen sich vor allem in den Solopassagen in den Bereich des Free Jazz vor, folgen dabei allerdings einer greifbareren Ästhetik als es McLean auf seinen ebenfalls freieren Alben jener Zeit wie "One Step Beyond" oder "Destination...Out" getan hat. Weniger tonale Überforderung als freigetupfte, windschiefe Arrangements (Grachan Moncur, Grachan Moncur, Grachan fucking Moncur!). Auf "It's Time" ist es vor allem Herbie Hancock zu verdanken, den Rest der Rasselbande nicht zu weit draußen wildern zu lassen; er knüpft das Band zum Hard Bop und hält es zumeist fest in der Hand. Das Quartett arbeitet also nicht selten in einer Art Zwischenwelt - und dort kannte sich McLean zu jener Zeit besonders gut aus.   

Alles an dieser Veröffentlichung ist zum Heulen schön: die Musik, die Pressung, das Artwork - man möchte sich geradewegs reinlegen. Was nicht so schön ist, ist der in Europa sehr hohe Preis von knapp 40 Euro pro Exemplar der Tone Poet-Serie. Gemessen an den mittlerweile aufgerufenen Preisen für die bekannteren Titel der Music Matters Reihe ist das freilich ein Schnäppchen. Aber ich frage mich trotzdem die ganze Zeit: werde ich hier eigentlich kolossal verarscht? Und, viel schlimmer: Interessiert mich das wirklich?


 



Erschienen auf Blue Note 1965/2020. 


23.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Gil Scott-Heron - I'm New Here




GIL SCOTT-HERON - I'M NEW HERE


"I'm New Here" ist möglicherweise die wichtigste Platte des vergangenen Jahrzehnts. Mir wurde das in vollem Umfang erst in den letzten Tagen so richtig bewusst, als ich mich nochmal mit dem Werk beschäftigte, um die richtigen Worte für diesen Text zu finden (und im Anschluss des neuerlichen ersten Durchlaufs natürlich dann doch die kürzlich veröffentlichte Jubiläumsausgabe auf pinkem und grünem Vinyl bestellte - einfach, weil ich nie gesagt habe, ich sei nicht quadratverblödet). 

Bis in den Februar des Jahres 2010 war mir der Name Gil Scott-Heron zwar durchaus geläufig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, seine Musik jemals bewusst gehört zu haben. In den 1980er und in weiten Teilen der 1990er Jahre wäre ich für seinen Sound sowieso noch komplett juvenil-vernagelt gewesen, und die erste Hälfte der nuller Jahre waren hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung noch zu sehr von den Irrungen und Wirrungen meiner Orientierungslosigkeit aus den späten neunziger Jahren geprägt, als ich mit den neuen Entwicklungen in der alten Komfortzone nicht mehr klar kam. Oder deutlicher: als Heavy Metal anfing, so richtig knalldoof zu werden. Erst mit der Entdeckung Coltranes in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wurde vieles wieder klarer. Und just, als ich knietief in Freejazz-Kakophonien von Clifford Thornton und William Parker stand und mich mit entsprechender Literatur immer tiefer in den Kaninchenbau hineinwühlte, holte Produzent und XL Recordings-Gründer Richard Russell den vom Leben gebeutelten Scott-Heron aus der Versenkung. Ich war bereit. 

Russell hatte dieses Projekt schon lange geplant. Er kontaktierte Scott-Heron erstmals, als jener noch wegen Kokainbesitz auf Rikers Island einsaß und erzählte später, sie hätten schon in ihren ersten Briefwechseln auf einer Wellenlänge miteinander kommuniziert. Russells Begeisterung war offenbar ansteckend: der Godfather of Rap lehnte normalerweise die meisten Anfragen ab, für "I'm New Here" sagte er jedoch sofort zu - auch wenn er später davon sprach, das Album sei in erster Linie Russells Werk:

"This is Richard's CD. My only knowledge when I got to the studio was how he seemed to have wanted this for a long time. You're in a position to have somebody do something that they really want to do, and it was not something that would hurt me or damage me—why not? All the dreams you show up in are not your own."


Richard hatte von Beginn an eine Vision für "I'm New Here", die von Scott-Herons Debut "Small Talk at 125th and Lenox" beeinflusst war: minimalistisch, spartanisch, dürr. Auch die kurze Spieldauer von gerade mal 29 Minuten entspringt diesem Gedanken, denn auch, wenn die Sessions mehr aufgenommenes Material hergaben, sollte die Platte in einem hochkonzentrierten Durchgang alles sagen, was es zu sagen gibt. Das ist geglückt. "I'm New Here" ist ein tief grummelndes, nachdenkliches Stück Musik zwischen dystopisch pumpenden Beats und dunkel schimmerndem Blues, in dessen Kern Scott-Herons schlackernder Bariton-Sprechgesang das Leben reflektiert, Bilanz zieht. Und so hart er mit sich selbst ins Gericht geht, so weise sind seine Pointen. 
Because I always feel like running
Not away, because there is no such place
Because if there was I would have found it by now
Because it's easier to run
Easier than staying and finding out you're the only one
Who didn't run
(aus "Running")

And I'm shedding plates like a snake
And it may be crazy, but I'm
The closest thing I have
To a voice of reason 
(aus "I'm New Here")

Ich war von "I'm New Here" ab der ersten Sekunde fasziniert. Alles, was dieser Mann in diesen 29 Minuten sang und sprach klang wichtig. Fürs Leben. Fürs Anerkennen der eigenen Limitiertheit. Fürs Erforschen der Möglichkeiten - weil es hinterm Horizont eben weitergeht, dem eigenen zumal. Wusste schon Udo "Dichter Denker" Lindenberg. Und hinter meinem Horizont ging es tatsächlich weiter, denn "I'm New Here" war die Initialzündung für das Entdecken von Scott-Herons Musik. Die frühen Arbeiten aus den 1970er Jahren mit seinem kongenialen Mitstreiter Brian Jackson. Die drei Soloalben aus den Achtzigern, die bislang nicht neu aufgelegt wurden und kommerziell nie an die früheren Klassiker heranreichten. Das 1994er Album "Spirits", das seinen Ruf als "Godfather of Rap" nur weiter im Boden des zu jener Zeit in voller kommerzieller Blüte stehenden HipHops verwurzelte. 

So wie Iron Maidens "Live After Death" mich zum Metal, "Nevermind" zum Alternative Rock, Bad Religions "Generator" zum Punk, bvdubs "The Art Of Dying Alone" zum Ambient und das SF Jazz Collective zum Jazz brachte, öffnete "I'm New Here" die Türen zum Soul und Funk. All diese Begegnungen mit Musik waren lebensverändernd, grenzenlos wichtig für das eigene Selbstverständnis, zur Selbstidentifikation. Ich sah die Welt jedes Mal mit anderen Augen, wenn sie mir von Steve Harris, Kurt Cobain, Greg Graffin, Brock van Wey, John Coltrane und Gil Scott Heron in neuem Licht gezeigt wurde. 

Vielleicht ging es vielen Menschen mit "I'm New Here" ähnlich. Richard Russell sollte sein Ziel, Scott-Heron auch jungen Menschen näher zu bringen erreichen - was nicht zuletzt mit den aus den Sessions entstanden Remix- und Tributeplatten gelingen sollte, die Jamie XX mit "We're New Here" und kürzlich Schlagzeuger Makaya McCraven mit "We're New Again" produzierten. 



I think, for whatever reason, I feel a bit of duty to introduce him to people because he was never that commercial, crossover figure. What Makaya [McCraven] did and what I asked Jamie [xx] to do earlier is all a part of that reintroducing. Historically, there’s a lot of great artists who get overlooked. It makes me happy that Gil is not one of them and that people are still discovering him. 

Ich habe Gil Scott Heron wegen Richard Russell entdeckt. Der Einfluss auf mein Leben war und ist bis heute allgegenwärtig. Dankbarkeit. 









Erschienen auf XL Recordings, 2010.

26.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


In den letzten zehn Jahren erschienen gerade mal zwei Alben von The Sea And Cake, und wer sich nicht erst seit gestern auf diesem Blog herumtreibt oder mich gar, Himmel hilf!, persönlich kennt, ahnt, dass frei nach Vicco von Bülow eine Bestenliste ohne The Sea And Cake zwar möglich, aber komplett sinnlos gewesen wäre. Seit 15 Jahre trage ich meine Liebe zu diesem Quartett auf, neben, unter, vor und hinter dem Herzen spazieren und es gibt nur wenige Bands, die mich mit links zu einem furiosen, mit leuchtenden Augen und bebender Stimme vorgetragenen Monolog über Schönheit, Raffinesse, Subtilität, Virtuosität von Musik schubsen können. 

Vielleicht erfuhr meine Wertschätzung mit "Any Day" einen neuen Höhepunkt, denn das ist das Schöne am Älterwerden: man lernt Außergewöhnliches eben doch noch mehr zu schätzen, als wenn Testosteron, Samenstau und generelle juvenile Quadratblödheit im Weg stehen. Fünf Jahre nach dem ebenfalls hervorragenden "Runner" haben sich die dreieinhalb stillen Helden tatsächlich nochmal aufgerafft und ihren unnachahmlichen Sound weiter verfeinern können. Jede noch so diffizile Akzentuierung gelingt mühelos, jedes Break wird sicher und souverän durch alle Stromschnellen hindurch geführt, jede Melodie als Kokon sorgfältig verschnürt und mit großer Selbstverständlichkeit und einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit geschickt. Wer ihnen genau auf die Finger und auf die funkelnden Hochenergiesynapsen in den vernetzt arbeitenden Gehirnen und Herzen schaut, wird im Verlauf von "Any Day" kaum ohne spitze Freudenschreie auskommen. 

Nie war dieses Urteil wertvoller und wahrer als heute: Was für ein Erlebnis, diesen absoluten Könnern zuzuhören. Ich lebe für solche Momente. 

The Sea And Cake ist Leben. 




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018. 


16.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Kamasi Washington - The Epic




KAMASI WASHINGTON - THE EPIC


Eine Bestenliste des letzten Jahrzehnts ohne diesen Meilenstein ist kaum vorstellbar. Auch auf die Gefahr hin, ein bisschen zu dick aufzutragen: "The Epic" hat die Welt verändert, praktisch aus dem Nichts. Und jeder, der es hörte, ahnte schon früh, dass die Ohren bitteschön zu spitzen seien. 

Denn etwas Großes war im Gange, man möchte fast zum despektierlichen "Größenwahn" greifen: 180 Minuten Musik verteilt auf drei LPs beziehungsweise CDs, ein Orchester, ein Chor, überlange Songs, für deren Arrangements die Beschreibung "opulent" nichts weiter als ein abgeschmackter Euphemismus ist, ein ikonisches Coverartwork und eine inszenierte Sogwirkung, die in ihrer Begeisterung alles mitriss, was sich nicht in die hinterste Ecke des Jazzclubs zu den anderen Betonköpfen retten konnte, die seit 50 Jahren auf "Bitches Brew" herumquallen und dabei langsam zu Staub zerfallen. 

"The Epic" wurde zum großen Vermittler und zur spirituellen Einigungsstelle und ja, "The Epic" hat die Welt zu einem besseren Ort gemacht. Das mag angesichts eines Irren, der nur 18 Monate später als herumstammelnde Hämorrhoide das Weiße Haus besetzen sollte, etwas schwer zu begreifen sein - aber wer diese Platte gehört hat, wird schon verstehen. 

(Mehr Hintergrundinformationen gibt es in meinen alten Posts HIER und HIER)



Erschienen auf Brainfeeder, 2015.

01.05.2020

2010 - 2019 - Das Beste Des Jahrzehnts: Melanie De Biasio - No Deal




MELANIE DE BIASIO - NO DEAL


Eine DER Entdeckungen des vergangenen Jahrzehnts, und es ist vor allem dieses umwerfende Debut der belgischen Sängerin, das mir über Gebühr den Kopf verdrehte. 

"No Deal" ist nokturne Erotik zwischen Chansons und Jazz, selbstbewusst und lasziv, zu gleichen Teilen stark und zerbrechlich. Ein heruntergedimmtes, tiefrot pulsierendes Glühen in einer vernebelten Nacht, in der die Adern der Großstadt zu schlafen scheinen - und doch: im Untergrund brodelt es, der Puls ist erhöht, die durch die Dunkelheit treibenden Gestalten so anziehend wie abstoßend. Das Spiel mit dem Verbotenen, dem Gefährlichen, das Zögern und das Dehnen, die bittersüße Versuchung ziehen sich durch jede Sekunde von "No Deal", bis sich die daraus geformte ambivalente Spannung im Abschlusstrack "With All My Love" langsam entlädt - ein Stück, das auch sechs Jahre später nichts von der betörenden Intensität verloren hat. 

Die minutenlang schwingende Erlösung zum Schluss war zweifellos einer der eindrücklichsten Momente des letzten Jahrzehnts.





Erschienen auf Play It Again Sam, 2014.

26.04.2020

2010 - 2019 - Das Beste Des Jahrzehnts: Electric Wire Hustle - Love Can Prevail




ELECTRIC WIRE HUSTLE - LOVE CAN PREVAIL


Möglicherweise ist der Sound dieses Produzenten-Duos aus Neuseeland zu speziell und zu anspruchsvoll für den Mainstream - ich habe ansonsten keine Erklärung dafür, warum ganz besonders dieses Album so dermaßen unter jedem Radar blieb. 

Seit ihrem im Untergrund gefeierten Debut aus dem Jahr 2010 mit prominenten Fürsprechern wie beispielsweise Gilles Peterson, warte ich eigentlich auf den ganz großen Durchbruch für Electric Wire Hustle - stattdessen ist es nach ihrem letzten Album "The 13th Sky" beunruhigend leise geworden. "Love Can Prevail" ist ein Geniestreich: die Mischung aus Soul, Broken Beats, Jazz und Electronica ist völlig einzigartig, Songs wie "Loveless", "Light Goes A Long Way" oder mein Favorit auf Lebenszeit "Blackwater" oszillieren zwischen visionärem Sounddesign und Pop-Appeal, und das Video zur Single "By & Bye" ist in der künstlerischen Eleganz in Verbindung mit einem rastlosem, nie so recht ankommen wollenden Arrangement das Beste, was in den letzten zehn Jahren zu Klang gedreht wurde. 

Thinking Man's Urban Soul Party.





Erschienen auf Somethink Sounds, Okayplayer Records, 2014.


19.04.2020

2010 - 2019 - Das Beste Des Jahrzehnts: Zara McFarlane - If You Knew Her




ZARA McFARLANE - IF YOU KNEW HER


Urlaube waren dank unseres Haustierzoos rar in der letzten Dekade. Als es uns 2017 doch mal in die Ferne trieb, genauer gesagt zu einem Herbsturlaub an die stürmische Nordsee, machten wir zu später Stunde Gebrauch vom im Strandhaus befindlichen Kamin, öffneten eine Flasche Rotwein und versuchten, die sehr volatil arbeitende Heizung mit Decken und aneinandergekuschelten Körpern zu ignorieren. Es liest sich wie billigstes Klischee, aber der Chronist in mir verlangt nach Akkuratesse. 

Jedenfalls: wir hörten Zara McFarlanes "If You Knew Her" bis in die frühen Morgenstunden und es wurde einer jener Momente, in denen aus einer sehr, sehr guten Platte eine wird, die man künftig nur selten auflegen mag, aus Angst, diesem magischen Moment etwas von seiner überwältigenden Romantik zu nehmen. 

Der unten verlinkte Hit "Open Heart" darf als Blaupause für eine Platte gelten, die randvoll mit so subtil wie selbstbewusst inszeniertem Souljazz gepackt ist - urban und nokturn, zerbrechlich und mit einer nur selten gehörten Dringlichkeit. 

Last Exit Olympus.




Erschienen auf Brownswood Recordings, 2013/2014.

10.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Qluster - Antworten




QLUSTER - ANTWORTEN


Ein Album für gewisse Stunden. Für Zeit und Raum. Für Dunkelheit. Für Stille. Für Liebe. Für Einkehr. Für Inspiration. Für Kraft. Für Trauer. Für Trost. Für Selbstgestricktes. Für Gebäck. 

Was in dieser Nacht auf der Bühne der Berliner Philharmonie zwischen Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock geschah, das spirituelle Fluten von Synapsen mit Energie, Verständnis und Vertrauen, wird wohl auf ewig ohne eine angemessene Erklärung auskommen müssen. Dass wir diesem gewaltigen Naturschauspiel trotzdem beiwohnen dürfen, und zwar immer wieder aufs Neue, dass wir uns immer wieder in der Tiefe jener Nacht verlieren dürfen, ist ein großes Geschenk. Kein berühmter Name, kein Marketinggekröse und aus der Ferne betrachtet eigentlich ein eher kleines, unscheinbares Werk - bis zu jenem Moment, in dem sich die Nadel auf diese Platte herabsenkt, die erste Musikrille erreicht und mit jeder weiteren Sekunde die Kinnlade ein Stückchen weiter nach unten kracht. 

Aktives Zuhören scheint in Zeiten  von Dschingdarassabumm-Streaming und dem ubiquitären Profit-Geflacker von Weltkonzernen nicht mehr über Gebühr en vogue zu sein, und ich möchte auch nicht der hinterletzte pretentious prick sein, der fürs Ressort des Kulturpessimismus' den wöchentlichen Leitartikel schreibt, aber for fuck's sake: hört dieser Platte zu! 




Erschienen auf Bureau B, 2012.


04.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Oddisee - People Hear What They See




ODDISEE - PEOPLE HEAR WHAT THEY SEE


Urban wie ein Solo-Sonntagsbrunch im Hamburger Neustadt-Kiez mit frisch gedruckter Wochenzeitung, intellektuell wie ein tiefes, reflektiertes Gespräch mit einem guten Freund. Ein bisschen Philosophie über guten Kaffee und die sozialen Verwerfungen in den USA, eine Idee über Tanzen und Realitätsflucht, Jazz und Soul. 

Unter der Conscious-Pudelmütze im Arbeitszimmer irgendwo in Brooklyn steckt ein Einzelgänger, ein mutiger, smarter, offener Geist, auf der Bühne steht und derwischt hingegen ein Teamplayer, der mit seiner Begleitband Good Compny jeden Laden in die Knie glühen kann. Ich durfte das Spektakel zwei Mal erleben, und vor allem das Konzert im leider eher unzulänglich besuchten Bett zu Frankfurt im November 2013 wird mir mit seinen positiv geladenen Power-Vibes zwischen klassischem Hip Hop, Soul, RnB und Jazz wohl auf ewig in Erinnerung bleiben. Sicherlich eines der besten Gigs, die ich im vergangenen Jahrzehnt gesehen habe. 

Wer es mit eigenen Augen und Ohren erleben will, klickt das folgende Video vom Into The Great Wide Open Festivals aus dem Jahr 2015 an und hält schon mal den Sack für die Glücksgefühle weit auf):



"People Hear What They See" war möglicherweise Oddisees Durchbruch im Hip Hop Underground - und auch wenn die größeren Hits wie "That's Love" oder "Things" auf den späteren, und darüber hinaus ebenfalls brillianten Alben "The Iceberg" und "The Good Fight" erschienen, ist das 2012 erschienene Soloalbum des (ex-)DC-Mannes nicht nur wegen der umwerfend aussehenden Vinylpressung der Klassiker seiner bisherigen Diskografie. Und es ist für mich bis heute ein Rätsel, wie dieser ultradicke und alles niederpumpende Bass auf "People Hear What They See" die Nadel nicht dazu bringt, nach zwei Sekunden aus der Rille zu flumpfen. 

"Hip Hop never died. It just went underground." 




Erschienen auf Mello Music Group, 2012.