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28.07.2024

Sonst noch was, 2023?! - Gesammelte Werke




"Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
You're having a private experience
Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
Nobody really gives a fuck"
(Neal Brennan)


Ich schwör': ein allerletztes Mal gibt's den Blick zurück ins Jahr 2023. 

Danach...ohjehmine und spoiler alert: geht er sogar noch ein paar Jahre weiter zurück. 


Machen wir also jetzt final den Deckel auf 2023, is' ja auch schon bald August. Grundgütiger.


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EARTH HOUSE HOLD - HOW DEEP IS YOUR DEVOTION


Eigentlich war diese Werkschau von Brock van Wey's Earth House Hold-Projekt für lange Zeit meine Nummer 1 des Jahres 2023, bis ich mich schlussendlich dagegen entschied, eine Compilation in die Bestenliste zu wuchten, noch dazu auf die Spitzenposition. Dann ist es allerdings heute umso wichtiger, über "How Deep Is Your Devotion" zu sprechen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist es 10 Uhr an einem Sonntag im Juli 2024. Es ist sonnig, aber glücklicherweise nicht zu warm. Das Fenster ist sperrangelweit offen und in Sossenheim herrscht eine Ruhe, wie ich sie als Kind von den sommerlichen Besuchen bei meinen Großeltern im pfälzischen Nirgendwo kenne. Man spürt das Nichts mehr, als dass man es hört. Es duftet nach schwarzem Kaffee mit einem Hauch Bergamotte. "How Deep Is Your Devotion" läuft, und ich wünsche mir, dass die Zeit stehenbleibt. Die Entwicklung zu verfolgen, die Brock über die vier EHH-Alben auf die muskalische Leinwand gezaubert hat, das Abdriften eines so oder so schon sehr speziellen Deep House-Ansatzes in eine immer weiter gedehnte, dekonstruierte, eigentlich sich in Auflösung befindliche Version mit solch skurriler Schönheit und mehr versteckten, vergrabenen, vernebelten Zwischentönen, als ich jemals hören könnte, ist das Eine. Das andere ist, dass man sich wünscht, diese Musik würde nie enden. Dieser Moment würde nie enden. 


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.



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FILM SCHOOL - FIELD


Shoegazing in LA. Das kalifornische Sextett um Bandgründer und Chef im Ring Greg Bertens fiel mir erstmals mit ihrem zweiten Album "Film School" im Jahr 2006 positiv auf, und ich bin hocherfreut, dass die Truppe über die ganzen Jahre durchgehalten hat - das gilt umso mehr, wenn noch so starke Platten wie "Field" in ihren Herzen und Köpfen schlummern. Wer vom aktuellen Slowdive-Album auch so enttäuscht wurde, darf schon mal entspannt das nächste Tütchen drehen: "Field" ist ultrakompakt komponiert, hat einen guten Drive und trotzdem soviel Tiefe, dass einem Songs wie "Up Spacecraft" oder "Don't You Ever" (mit einem 1995er Monster Magnet-Gedächtnisriff) sofort unter die Haut kriechen.


 



Erschienen auf Felte, 2023.



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RAY ALDER - II


Soloalben sind immer so eine Sache. Eigentlich stehen sie schon ab dem Moment der Ankündigung ein paar Stufen unter dem Output der Hauptband. Das Solodebut von Fates Warning-Wundersänger Ray Alder "What The Water Wants" aus dem Jahr 2019 war im Rückblick und abgesehen von Alders gewohnt brillantem Gesang eine Enttäuschung. Zu zahm, zu oberflächlich, und irgendwie auch zu egal. Folglich waren meine an "II" geknüpften Erwartungen von leichter Unterkühlung geprägt, aber siehe da - "II" ist um Welten besser als das Debut, ist zu gleichen Teilen emotionaler als auch heavier. Insgesamt inszeniert Alder seine Musik natürlich gradliniger als im Kontext von Fates Warning, und sein immer noch vollkommen intaktes Gespür für einnehmende Gesangsmelodien im Zusammenspiel mit bisweilen satt tiefergelegtem Unterwasser-Riffing, erzeugen ein ums andere Mal echte Überraschungsmomente. Das gilt mittlerweile nicht mehr für Alders Gesangsleistung: man erwartet Übermenschliches - und das bekommt man dann auch. Weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, aber das hat er nun davon, so fucking gut zu sein. SO FUCKING GUT!


 



Erschienen auf Inside Out, 2023. 



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DANNY PAUL GRODY - ARC OF DAY


Und nochmal Kalifornien, dieses Mal San Francisco. Sein Album "In Search Of Light" aus dem Jahr 2011 hatte ich seinerzeit als "Sorgenbrecher" bezeichnet, und seine Musik ist auch 13 Jahre später noch immer genau das. Ich hatte es leider versäumt, über sein 2021er Werk "Furniture Music II" zu berichten, das mir in der Pandemie Hoffnung und Licht ins Sossenheimer Outback brachte, aber das passiert mir nicht nochmal. Die Ruhe und die Kontemplation, die vom inneren Kern von "Arc Of Day" ausstrahlt, macht mein Leben besser. Ich schmecke die Luft an der US-amerikanischen Nordwestküste, spüre den Sand zwischen den Zehen, die Sonne auf der Haut. Eigentlich ist das Psychotherapie, nur ohne Reden. Zuhören sollte man aber. 





Erschienen auf Three Lobed Recordings, 2023.



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AYAAVAAKI & PURL - ANCIENT SKIES


Purl sagte kürzlich über "Ancient Skies", es sei eine der einzigartigsten Platten, die er je aufgenommen hat - und wer sich darüber im Klaren ist, wie viele Alben dieser Kosmopolit schon veröffentlichte und wie bescheiden er für gewöhnlich auftritt, mag erahnen, wie wichtig ihm ausgerechnet dieses Werk ist. Gleichzeitig kann der Eindruck entstehen, "Ancient Skies" sei ein wenig vom Radar der Ambientfans gerutscht und damit also unterschätzt und/oder übersehen - und das muss ich für meine Wenigkeit leider bestätigen. Es gibt einfach viel zu viel Musik und das Leben raubt mir viel zu viel Zeit - und dann legt Purl eben noch immer ein atemberaubendes Veröffentlichungstempo vor. Hinzu kommt: "Ancient Skies" ist in der (digitalen) Orginalfassung fast zweieinhalb Stunden lang, und einfach zu hören ist das nicht unbedingt. "Ancient Skies" ist einerseits dramatisch und opulent, andererseits spielt sich so viel unter den hörbaren Schwingungen dieser Musik ab, ist subtil, manchmal mystisch. Wenn der halbe westliche Planet damit beschäftigt zu sein scheint, das durchs Social Media-Dauerfeuer schön herangezüchtete ADHS zu füttern, erscheint es lohnenswerter denn je, sich einfach mal für zwei Stunden auszuklinken. 

Hinweis: die Doppel-LP hat lediglich acht (statt vierzehn) Songs in zum Vergleich zur digitalen Version editierten Fassungen.


  



Erschienen auf LILA लीला, 2023 




16.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Overkill - Scorched




OVERKILL - SCORCHED


"Heavy Metal is the most conservative of all loud music. Let's face it, not even a gym teacher could get as many people to dress alike." (Jello Biafra)



Über meine besondere Liebesbeziehung zu Overkill habe ich zuletzt vor zwei Jahren im Rahmen meines Reviews zum ihrem "The Atlantic Years"-Boxset referiert, und wer sich diesen unfassbar langen und -weiligen, gut fünfzehnminütigen Monolog noch nicht angeschaut/angehört haben sollte, well: "Enjoy!"





Nun ist es aber auch so, dass ich mit meiner Abneigung sowohl gegen zeitgenössichen Metal als auch gegen jene Bande von abgehalfterten Geronten, die vor vierzig Jahren mal eine Handvoll Songs auf die Reihe bekommen haben, nun am Nasenring durch die kapitalistischen Endverwerterfestivals des "Häffi Meddl" (Loddar) geschleift werden, um sich mit ein paar Euro den knittrigen Rentensack aufbügeln zu lassen und praktisch nur für die Stagetime aus dem Krankenhausbett und/oder Nachttopf geschweißt werden, nicht unbedingt hinterm Berg halte und sie damit also auch nicht zum ersten Mal äußere - was mir stets nur die allerfeierlichsten Liebesbriefe von den Kuttenadolfs mit bioelektrischem Gewitter in der Großhirnrinde beschert. Und auch wenn Overkill weder in die eine, noch in die andere Kategorie so richtig hineinpassen - (1) zeitgenössichen Metal machte die Band zuletzt circa 1991 und (2) trotz ihrer nur schwer aushaltbaren Schwächephase in den nuller Jahren waren sie einfach IMMER da und spielten konsequent ihren Stiefel - so lassen sich dennoch Elemente davon ihrer Musik und ihrem Auftreten finden; es scheint ihnen allerdings in meiner Welt weniger als anderen Metalboomern etwas anzuhaben. Daher gilt das eiserne Gesetz im Hause Dreikommaviernull: in jede neue Overkill-Platte wird wenigstens reingehört. Ihr ureigener, hochspezialierter Thrash Metal-Stil mit den typischen Punk- und Hardcorevibes der US-amerikanischen Ostküste, ihre kaum glattpolierte Räudigkeit mit seltsamerweise immer noch authentischer "Fuck You!"-Attitüde, ihr immer noch sehr hohes Energielevel - mein vierzehnjähriges Reptiliengehirn findet vieles davon auch heute noch sehr, sehr anziehend. 

Und so höre ich seit dem 1999er Album "Necroshine" in jedes neue Album rein, schätze fast immer den Drive und die Frische, finde ebenfalls fast immer ein paar Höhepunkte und ein paar solide Overkill-Generika, wundere mich darüber, wie gut die Stimme von Blitz immer noch klingt, und sinniere darüber, wie sie ihn wohl fürs Studio immer wieder so gut hingebogen bekommen (die Antwort: reiner Sauerstoff!), ärgere mich über den heutzutage leider typischen, lauten, undynamischen, phantasielosen Plastiksound, ärgere mich noch mehr über die seit vielen Jahren ubiquitären Einflüsse klassischen Metals mit eingängigen, kitschigen, hypermelodischen Refrains und Soli, wirklich der allerschlimmste Offenbarungseid eines ganzen Genres gegenüber des mental tiefergelegten ADHS-Publikums, und freue mich dennoch schlussendlich, dass sie immer noch da sind. Denn eine Metalszene ohne Overkill ist zwar möglich, aber sinnlos. Ich entschuldige mich für das absolut frische und unverbrauchte Zitat aus dem Loriot-Pleistozän. 

Seit 1999 und also "Necroshine" hat es allerdings kein einziges neues Album des New Yorker-Quintetts mehr in die Sammlung geschafft - und wie anhand dieses Reviews zu erkennen ist, änderte sich dieser Zustand mit "Scorched". Wer hätte das gedacht?

Ich jedenfalls nicht, aber sei's drum: mindestens die Hälfte der Songs auf dieser Platte sind so gut wie seit des 1994 erschienenen Albums "W.F.O." nicht mehr. Der Titeltrack, "The Surgeon", "Wicked Place", "Fever" und "Bag O' Bones" sind knallharte, funkensprühende, energiegeladene Granaten, die jeden Thrashfreak in den Wahnsinn treiben können. Dazu gibt es einige Experimente, die zwar im Kontext Ihres Lebenswerks nicht umwerfend revolutionär erscheinen - die Band hatte vor allem in der Frühphase ihrer Karriere sowohl den Mut wie auch die Fähigkeiten, ihrer Liebe zu Black Sabbath mittels einiger sehr doomigen, schleppenden Songs wie zum Beispiel "Playing With Spiders/Skullkrusher" Ausdruck zu verleihen  - die aber vor dem Hintergrund des Zustands aktuellen Metals fast schon wie ein "Aufstand der Anständigen" (Gerhard "Acker" Schröder) wirken. "Fever" ist beispielsweise eine harzige Huldigung an Ozzy/Sabbath, die angesichts der stimmlichen Ähnlichkeit zum Oppa of Darkness beinahe meinem bislang erfolgreich verlaufenden Unterfangen, einen Ozzy-freien Haushalt zu führen, gefährlich wird. Und obwohl "Fever" hier und da einen ganzen Gang runterschaltet, verursacht es keine Schäden an der wuchtigen Gesamtwirkung des Albums. Toll! "Wicked Place" bringt uns im Chorus ebenfalls einen doomigen Touch mit viel Macht, viel Druck, viel Neunziger. Viel Gut!

Die übrigen Songs sind im besten Fall solide wie "Harder They Fall" oder "Twist Of The Wick", im weniger guten Fall unnötig bis ärgerlich: "Going Home" startet eigentlich als guter, straighter Thrasher mit Reminiszenzen an die "W.F.O."-Ära, bevor er vom melodischen Chorus und den ultrapeinlichen Kosackenchor-Shouts gekidnappt und mit Handschellen gefesselt ins niederste Bierzelt gezerrt wird, wo sich schon Jürgen und Annika das Prosit zur Gemütlichkeit gegenseitig ins Genital singen. Einziger echter Tiefpunkt ist für mich "Won't Be Coming Back" und ich fürchte, ich muss es dabei schon belassen - das ist für Overkill-Verhältnisse schlicht ein unwürdiges Nichts von einem Song. Mir fällt dazu nicht viel ein. 

Insgesamt aber, und abgesehen von zwei, drei heiklen oder gar unterwältigenden Momenten, ist "Scorched" eine echte Überraschung. Ein hartes und gewaltiges, in einigen Passagen sogar intensives Thrashalbum und ziemlich sicher das beste Genrewerk seit Toxik's "Dis Morta" aus dem Jahr 2022. In Hinblick auf den Backkatalog der Band lasse ich mich mittlerweile sogar dazu hinreißen, "Scorched" als bestes Overkill-Album seit 1994 ins Karteikästchen einzusortieren. 

In voller Anerkennung dessen, dass meine Wenigkeit nicht dafür bekannt ist, solche Sätze allzu leichtfertig ins Weltnetz zu häkeln: ich empfehle Ihnen dringend, "Scorched" auf Urknall-Lautstärke zu hören. 

Herzlichst, 
Ihre Ilona Christen 




Erschienen auf Nuclear Blast, 2023.

01.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (2): Voivod - Synchro Anarchy

 




VOIVOD - SYNCHRO ANARCHY


Uff, das wird nicht leicht. Den scharf denkenden Scharfdenker*innen mag aufgefallen sein, dass im letztjährigen Bestengetümmel ausgerechnet jene Band fehlte, die ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit als die beste Metalband aller Zeiten bezeichne. Und das, obwohl das kanadische Ensemble im Jahr 2022 sogar ein neues Album herausbrachte - nicht, dass der Umstand zwingend notwendig ist, um in die Bestenliste zu rutschen - für Voivod würde ich immer einen Weg finden; notfalls erfinde ich einfach eine Platte, mir doch egal. 

Lösen wir hiermit also wenigstens dieses Rätsel (des süßen Nichts), dass uns alle (niemanden) schon so lange (noch nie) so beschäftigt (langweilt). 

Nun erschien "Synchro Anarchy" also im Februar 2022 und ich hörte und hörte und hörte und hörte und hörte - und es bewegte sich absolut gar nichts. Nada. Rien. "Nassing!"(Olaf "ohne Deutschland darf nie wieder ein Krieg ausgehen" Scholz). Das war schockierend. Noch ein kleines bisschen schockierender war es, dass sich daran auch im weiteren Verlauf des Jahres nichts änderte. Die Band klingt auf "Synchro Anarchy" zum allerersten Mal in ihrer Karriere blutleer und bräsig. Ich kann beinahe nicht glauben, dass ich das wirklich öffentlich schreibe, aber sogar das Schlusslicht ihrer Diskografie "Infini" hatte noch eine Handvoll mehr Lebensgeister in den Plattenrillen stecken. In erster Linie muss ich das wohl der Produktion von "Synchro Anarchy" ankreiden, der wirklich jeder Esprit, jede Energie, jedes Leben abgeht. Das Album klingt, als wäre es in einem sterilen 4x4 Meter großen und komplett gedämmten Raum aufgenommen worden, in dem der Band vor dem Drücken der Aufnahmetaste all das operativ entfernt wurde, was sie für gewöhnlich ausmacht: Spielfreude, Spritzigkeit, Luft, Raum, Heaviness, die Lust am Wahnsinn. Vor allem Chewys Gitarre klingt so verdammt clean und gedrungen wie ein Gitarrenvideo von Peter Bursch aus dem Jahr 1986. 

Vor dem Hintergrund meiner früher getätigten Einlassungen, die Band in den aktuelleren Mark VI/Mark VII-Besetzungen immer dann am besten zu finden, wenn sie die Haudraufundschluss-Ästhetik für psychedelischere und insgesamt leicht zurückgenommene, luftigere Momente ausfranst und nicht auf Teufel-komm-raus den Kuttenheinzies mit der x-ten Neueinspielungen ihres "Killing Technology"-Albums gefallen möchte, könnte man jetzt mit leicht schnippischem Unterton darauf hinweisen, dass "Synchro Anarchy" doch jetzt genau solche heruntergedimmten Elemente vorweisen würde - und jetzt wär's mir also auch wieder nicht recht? Ich bin kognitiv in der Lage, den imaginären Einwand nachzuvollziehen und vielleicht verstehe ich das ja alles auch nicht mehr, zu alt, zu doof, lebendig begraben unter der Last der Erwartungshaltung, aber: mit "zurückgenommen" meine ich nicht "ausgeblutet". 

"Synchro Anarchy" ist mir ein Rätsel. Es macht überhaupt keinen Spaß, diese Platte zu hören. 



Vinyl: Meine Version auf silberfarbenem Vinyl ist flach (no pun intended) und hat keine gröberen Hintergrundgeräusche. Die Schallplatte rettet den plattgequetschten Sound der Aufnahme aber leider auch nicht. Außerdem: bedrucktes Inlay mit Texten und ein beiliegendes A2-Poster. (++++)


 


Erschienen auf Century Media, 2022. 

07.01.2023

2021 Revisited: Cynic - Ascension Codes



CYNIC - ASCENSION CODES

Ein Blick auf meine Musiksammlungsdatenbank aus Giga-Nerdhausen, vulgo: Discogs, verrät, dass ich im Jahr 2021 tatsächlich nur drei Platten gekauft habe, für die der Stempel "Rockmusik" passt. Neben Cassius Kings "Field Trip" (prima) und Quicksands "Distant Populations" (naja), war insbesondere die Anschaffung von Cynics "Ascension Codes" eine echte Herzensangelegenheit. 

Zum einen bin ich seit fast dreißig Jahren Fan und finde ihre Musik selbst, oder besser: besonders nach den stilistischen Anpassungen über die letzten 15 Jahre einfach hoffnungslos attraktiv. Zum anderen bewundere ich Paul Masvidal, einen der kreativsten und eigenständigsten Musiker der Metal-Szene. Mutig und unerschrocken, offen, spirituell - und durch den unerwarteten Tod seiner beiden Freunde und ehemaligen Bandmitglieder Sean Reinert (Schlagzeug; Januar 2020) und Sean Malone (Bass, Dezember 2020) voller Trauer und Verzweiflung. Masvidals Beiträge auf seinem Instagram-Account geben Zeugnis von dem Schmerz, den er durch die kurz hintereinander erfolgten Verluste erleiden musste. Ebenfalls, und das soll nicht unerwähnt bleiben, ist Masvidal in meiner Wahrnehmung einer der verkanntesten Songschreiber des Heavy Metal. Warum ihm angesichts des Meisterwerks "Ascension Codes" nicht die halbe Metal-Welt die Tür einrennt, ist angesichts der sich zunächst zeigenden Sperrigkeit des Albums vielleicht nicht die allergrößte Überraschung - auch wenn sich die Komplexität mit ein bisschen Zeit und Eingewöhnung naturgemäß auflösen kann und wird. Aber ich habe durchaus Verständnisschwierigkeiten damit, warum nicht wenigstens die Anhänger des Progressive Rocks/Metals auf Knien angerutscht kommen, und zwar in Scharen. 

Denn das hier sollte eigentlich exakt ihr Sound sein: verspielt, komplex, ultrakomprimiert und dennoch leichtfüßig und mühelos - im Prinzip die musikalische Entsprechung zum Spruch meines Vaters über den ehemaligen Eintracht-Stürmer Anthony Yeboah: "Der spielt dich in einer Telefonzelle schwindelig!". Spektakuläre technische Fähigkeiten, ein atemberaubendes Coverartwork und eine spirituelle Story über das Leben, das Universum, das Unsichtbare, das Mystische, das Außerweltliche - "Ascension Codes" ist die beste Cynic-Platte aller Zeiten und in ihrer emotionalen Ausrichtung und ihrer offen dargestellten Zerbrechlichkeit das Progressive Metal-Album, das ich mir im Jahr 2020 von Fates Warnings "Long Day Good Night" erhoffte, aber nicht bekam. 

Ich möchte über Jahre in diesen Sounds versinken und mich verlieren. Masvidals Gitarre weist mir den Weg und mir ist im Grunde egal, wohin er mich führen wird. 

Chuck Schuldiner prägte den Satz "Let the metal flow!" - Paul Masvidal hat nun die passenden Songs dafür geschrieben. 


Vinyl: Das Mastering meiner Version auf türkisem Vinyl scheint die sowieso schon wahrnehmbare Kompression im Sounddesign noch weiter in den Vordergrund zu stellen; man merkt, dass es der Musik etwas schwer fällt, die Luft zum Atmen zu finden. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um eine aktive Entscheidung im Entstehungsprozess des Albums handelt. Cynic Platten klingen nicht zum ersten Mal so. Die Pressung ist komplett fehlerfrei. Das wirklich atemberaubende und wertige Triple-Gatefold auf mattem, sich seidig anfühlendem Karton in Verbindung mit dem grandiosen Cover-Design von Künstlerin Martina Hoffmann ist nichts weniger als imposant.


   


Erschienen auf Seasons Of Mist, 2021. 

04.09.2022

OVERKILL - THE ATLANTIC YEARS 1986 - 1994 (Vinyl Boxset Review)


Ich hatte es im letzten Videoreview zu Voivods "Forgotten In Space"-Boxset bereits mehrfach angedroht, hier ist es nun: der zweite Beweis dafür, dass ich es mit vollmundigen Einlassungen wie "Ich mag keine Boxsets" oder despiktierlichen Fragen wie "Wer soll denn den ganzen Scheiß kaufen?" besser sein lassen sollte. 

Ich habe mir also Overkills "The Atlantic Years 1986 - 1994"-Rückschau vorgenommen und dabei versucht, es wenigstens ein kleines bisschen weniger zäh werden zu lassen als mein Review-Debut, und was immerhin den Blick auf die Uhr betrifft, ist mir das auch ausnahmsweise gelungen. Inhaltlich gibt es immer noch konfus abschweifendes Gelalle - aber das sind meine werten Leser über die letzten 15 Jahre schließlich auch gewohnt. Und ein wenig Kontinuität erlaube ich mir durchaus in diesen so chaotischen Zeiten. Weil ihr es mir wert seid. 

Enjoy!


 


26.08.2022

Die Top 10 Der Besten Voivod-Songs



Schon wieder Voivod? 

Schon wieder Voivod!

Ende des vergangenen Jahres erhielt ich die Möglichkeit, für die 160. Ausgabe des legendären Ox-Magazins über meine Lieblingsband zu schreiben (Vielen Dank, Simon!). Genauer gesagt, ich erhielt die Möglichkeit, über die zehn besten Songs meiner Lieblingsband zu schreiben. Das war eine Ehre für mich, einerseits wegen des Ox, andererseits wegen Voivod - ich durfte das also auf keinen Fall zersägen. 

Und obwohl ich sofort Feuer und Flamme war, mich in ihre Platten einzugraben und umgehend loszulegen, wusste ich um die große Herausforderung - und wurde gleich mal für die nächsten Tage ausgebremst. Nicht nur wegen der umfangreichen und qualitativ so konstant hochklassigen Diskografie der Band, was eine Auswahl so oder so schwierig machen würde, sondern auch wegen ihres so diversen Repertoires. Wie soll ich diese enorme Bandbreite abdecken, von dem räudigen, chaotischen Thrash Metal zu Beginn ihrer Karriere über eine Heavy Metal-Version von Pink Floyd oder King Crimson bis hin zu einem verwehten Progressive-Industrial-Golem? Oder diesen Wagemut? 

Ihre einzelnen Entwicklungsphasen, und jetzt, wo ich's schreibe, weiß ich gar nicht mehr, was ich mit einer "Entwicklungsphase" eigentlich meine, oder ob sowas in ihrer Realität überhaupt existierte, haben schließlich gleich mehrere Eigenleben entwickelt. Und je weiter ich mich in ihre Welt über die letzten 25 Jahre eingegraben habe, desto mehr wucherte das Selbstverständnis dieser Band, ihr Anspruch und ihre Progressivität über die Brüche in ihrer Musik. Und all das soll ich in nur zehn Songs abdecken? 

Ich brütete über zwei, drei Wochen jeden Tag über dieser Liste. Dezent obsessiv. 

Als die Songs für die Top 10 endlich ausgeknobelt waren, ging es endlich ans Schreiben - und damit begann das eigentliche Martyrium: Zeichenlimit. 

Ein Zeichenlimit. Ich! Ein Zeichenlimit! Ha! Hahaha! 

Es war eine verdammte Pest. Aber ich liebte jede Sekunde der Auseinandersetzung mit den Songs dieser einzigartigen Band.

Enjoy!

 


(Klicken für eine vergrößerte Ansicht)


Für eine möglicherweise verbesserte Lesbarkeit gibt es hier auch noch die Textversion:



„Tribal Convictions“ 
"Tribal convictions" vom Sci-Fi-Thrash Meilenstein "Dimension Hatröss" ist einer der großen Klassiker der Bandgeschichte und bedeutete 1988 den Durchbruch für VOIVOD – auch dank des Videos, das MTV in sein Programm aufnahm und damit den Bekanntheitsgrad der Kanadier signifikant vergrößerte. Schneller waren fünf Minuten seither nie wieder vorüber. Ein durchgeknalltes Arrangement, das auf eine bizarre Weise trotzdem catchy war, gekrönt von einem umwerfenden Solo von Riffmeister Piggy. Öffnet Türen in Deinem Kopf, die vorher verschlossen waren. 

„Tornado“ 
Für das dritte Album „Killing Technology“ schluckte die Band erstmals ihre Supervitamine. Die Energie dieser Aufnahmen ist legendär und „Tornado“ macht seinem Namen alle Ehre: ein unbarmherziges und außer Kontrolle geratenes Getöse, das vor allem wegen Piggys dissonanten Gitarrenriffs und Aways geradewegs durch Panzerglas marschierenden Schlagzeugs den Vagusnerv mit Juckpulver traktiert. Dazwischen gibt’s nervöse Breaks und manisches Geschrei, die das Chaos nur noch mehr anheizen. Blutdrucksenker, olé!

„Forlorn“ 
Das zweite und letzte Album der Triobesetzung mit dem Bassisten und Sänger E-Force über einen der beiden Monde des Planeten Mars ist eine apokalyptische Tour de Force mit „Forlorn“ als glühend-intensivem Höhepunkt. Die brachiale Mixtur aus verwehtem Industrial Metal und kauzigem Progressive Rock vertont Einsamkeit und Verzweiflung im Zeichen des Untergangs und geht dabei stets über jede physische und emotionale Schmerzgrenze hinaus. „Forlorn“ ist übrigens der einzige Song dieser Ära, der auch nach der Reunion mit Sänger Snake ab und an den Weg in die Live-Setlist fand. Gewaltig. 

„Post Society“ 
Nach dem Tod ihres Riffmeisters Piggy im Jahr 2005 versackte der VOIVOD auf manch neuem Album im stilistischen Verwaltungsmodus; statt irrwitziger Reisen durch die Galaxis bog man lieber an der Autobahnraststätte Ennepetal ab. Mit „Post society“ und den neuen Crewmitgliedern Chewie (Gitarre) und Rocky (Bass) nahmen unsere Helden wieder direkten Kurs auf Centaurus A: der erfreulich angepunkte Titeltrack fächert Psycho-Breaks wie in allerbesten Zeiten auf und zeigt die Band in funkensprühender Spiellaune mit erstaunlichem Drive. Eine Wiedergeburt. 

„Clouds In My House“ 
„Angel Rat“ war nach Aussage von Schlagzeuger Away das Album, bei dem der Band der Wille zu „härter, lauter, schneller“ fehlte. Stattdessen zeigten sich VOIVOD melancholisch und introvertiert – und stießen die nach dem erfolgreichen Vorgänger „Nothingface“ angefütterte Fangemeinde vor den Kopf. Stilistisch steht „Clouds in my house“ zwischen Wave-Geflacker, sprödem Prog und dem „Anything Goes“-Vibe der frühen 1990er Jahre selbst für ihre Verhältnisse auf sehr ambivalentem Terrain. Warum der Song auf MTV’s „120 Minutes“ nicht durch die Decke ging, versteht kein Mensch.

„Into My Hypercube“ 
Völlig gleich, was uns in den letzten dreißig Jahren an neuen Trends und Extremen aufgetischt wurde, das Durchgeknallte, Knallbunte, Exzentrische, das Emotionale und Verletzliche, das Progressive und das Reaktionäre, ein zweites „Nothingface“ war nicht dabei. „Into my hypercube“ steht etwas im Schatten der Klassiker „The unknown knows“ und dem PINK FLOYD-Cover „Astronomy domine“, aber wer könnte dieses unvergleichliche Amalgam aus subtiler Punk-Aura und softer Fliegenpilz-Psychedelik je wieder vergessen, wenn es nur einmal die Blut-Hirn-Schranke passiert hat? 

„Jack Luminous“ 
Der Versuch, den VOIVOD-Sound über wildes Namedropping zu decodieren, wird spätestens nach den 17 Minuten von „Jack luminous“ zu einem traurigen Häufchen Asche zerbröselt. Jeder Vergleich wirkt trivial, jedes Bemühen, den Code dieser Wahnsinnigen zu knacken, endet zwangsweise am Boden existenzieller Unzulänglichkeit. „Jack luminous“ ist in der Bündelung aller Wahrzeichen dieser Band der Urknall ihres Universums, die Stunde Null des VOIVOD. Wer den endgültigen Beweis dafür haben möchte, dass die Oberstübchen dieser Typen einfach anders verdrahtet sind, wird ihn hier finden. 

„Cosmic Conspiracy“ 
Der Alternative-Industrial-Tanzflächenfeger „Nanoman“ vom selben Album „Negatron“ wäre die offensichtlichere Wahl gewesen, aber wir müssen über „Cosmic conspiracy“ sprechen - vor allem über die auf dem 2000er Livealbum „Lives“ veröffentlichte Version. Intensiver hat sich der VOIVOD trotz des etwas besseren Bootlegsounds nie wieder in den Orbit geschossen. Vor allem das Break zur Songmitte und das folgende so simple wie alles zersägende Mega-Riff zeigen, welche Energie diese Besetzung auf der Bühne entfesseln konnte. Die drei Typen machten Krach für zehn. Eine Naturgewalt.

„Nuclear War“ 
Wo wir gerade bei „Lives“ waren, bleiben wir für „Nuclear war“ gleich hier. Ursprünglich auf dem 1984er Debut „War And Pain“ erschienen, bekommt das holpernde Stakkato-Geprügel des Erstlings in der Liverversion mit Sänger/Bassist E-Forst seine definitive (wenn auch leicht gekürzte) Ausbaustufe. Das militärisch stampfende Monster klingt mit der gurgelnden Stimme des neuen Frontmanns bedrohlicher und beklemmender als je zuvor, während Piggy Töne aus seiner Gitarre herausholt, die er ganz offensichtlich per Standleitung von einem anderen Planeten herübergebeamt hat. 

„Fix My Heart“ 
Der Opener des 1993 erschienenen Wunderwerks „The Outer Limits“ steht stellvertretend für einen weiteren Entwicklungsschritt der Band, die selbst nach den energieraubenden Metamorphosen der vorangegangenen drei Alben immer noch nicht müde wurde, nochmal einen draufzusetzen. VOIVOD zeigten sich insgesamt rockiger, ihr Sound schien durchlässiger für einen optimistischen Swing zu sein, die Grooves saßen lockerer, ohne dabei ihren legendären Drive einzubüßen. Ein besserer Beleg als das atemberaubend perlende Hauptriff von „Fix my heart“ wird sich nicht finden lassen.  

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(Mit freundlicher Genehmigung der Ox-Redaktion)

07.08.2022

VOIVOD - FORGOTTEN IN SPACE (Vinyl Box Set Video Review)

Beinahe fünf Monate Blog-Pause sind selbst für meine Wenigkeit ein starkes Stück. Es gibt Gründe - aber um offen zu sein: ich bin zu müde, um sie zunächst in Gedanken und anschließend Schrift nochmal Revue passieren zu lassen. Kommt Zeit, kommt irgendwas. Vielleicht aber auch nicht. 

Ich habe indes nach reiflicher Überlegung, und wer mich kennt, weiß, dass "reiflich" die Untertreibung des Jahrhunderts ist, ein Video aufgenommen, in dem ich über das neue Vinyl-Boxset meiner allerliebsten Metalband VOIVOD referiere. Alles, was ich dazu benötigte, waren zwei Liter schwarzen Kaffees, drei frische Unterhosen und ein kleiner Spritzer LSD. 

Ja, es ist viel zu lang. Niemand, wirklich niemand wird diese 32 Minuten durchhalten, ohne vorher sanft und friedlich wegzudämmern. Aber im Prinzip ist das nicht mein Problem. 

Ja, es ist im Hochformat aufgenommen (was subbi dämlich ist). Das ist definitiv mein Problem.

Ja, ich bekomme Selbstschamattacken. Und es wäre furchtbar, wenn ich sie nicht bekäme. 

Und dennoch: all das hält mich trotzdem nicht davon ab, derart full of myself zu sein, es hier zu posten. 

Enjoy!

   



12.09.2021

Cassius King - Field Trip



CASSIUS KING - FIELD TRIP


Wenn sich drei Viertel der Besetzung des umwerfenden und leider bislang letzten Hades-Albums "DamNation" zusammenschließen, und dann noch Gottsänger Jason McMaster mitmischt, dann drehen eingeweihte US-Metalfans aufgeregt am Kläppchen - und angesichts des kürzlich erschienenen Debuts "Field Trip" darf ich sagen: mit Recht. 

Und dabei war ich zunächst skeptisch, und das nicht zu knapp: Gitarrist Dan Lorenzo hat nach dem erwähnten mächtigen Paukenschlag mit Hades aus dem Jahr 2001 nicht mehr viel gerissen (speziell über das 2004er Soloalbum "Cassius King" mit dem wirklich unfassbar debilen "4 More Years/USA" decken wir mal besser alle dicken Mäntel dieser Erde, for fuck's sake!), McMaster versucht sich seit über 20 Jahren mit Broken Teeth an einer texanischen Version von AC/DC, ex-Hades-Bassist Jimmy Schulman unterstützte Lorenzos letztes Doom-Stoner-Projekt Vessel Of Light und Drummer Ron Lipnicki war bis zu seinem Ausstieg 2016 für immerhin gute zehn Jahre der Schlagzeuger von Overkill. Das schreit jetzt bei allem Respekt nicht unbedingt nach einer neuen Supergroup. Und weil selbst Herr Dreikommaviernull mittlerweile gelernt hat, von den allermeisten seiner ehemaligen Helden heute nur noch traurige Vollrotze vorgesetzt zu bekommen, hält sich meine Begeisterung in sehr engen Grenzen, wenn die alten Herren den x-ten Anlauf nehmen, es doch noch irgendwie zu schaffen. Zumal meine Affinität zu aktueller Rockmusik im Allgemeinen und aktuellem Metal im Speziellen über die letzten zehn zwanzig Jahre immer weiter hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen verschwand. Es muss sich schon um etwas sehr Besonderes handeln, wenn es mich nochmal hinter meiner ollen Furzkanone hervorlocken soll. 

Und ich bin mittlerweile soweit: "Field Trip" ist besonders, und das liegt nicht zum kleinsten Teil daran, dass die Musik des Vierers wirklich komplett aus der Zeit gefallen ist - allerdings nicht so, wie man's angesichts der Vita der Protagonisten eventuell vermuten könnte. Denn auch wenn einige Reviews über "Field Trip" von klassischem US Metal mit kantigen 1980er Jahre-Vibes fantasieren (wirklich komplett absurd!), regieren auf "Field Trip" überraschenderweise die neunziger Jahre. Genauer gesagt, ein bestimmter Sound aus einer bestimmten Zeit der neunziger Jahre, der heutzutage scheinbar aus dem kollektiven Metal-Gedächtnis gestrichen wurde. Fairerweise muss ich dazu anmerken, dass die Erinnerung an sowohl Zeit als auch Klang sich nicht mal eben mit links wieder ins Kleinhirn einspeisen lässt, weil's einerseits weniger Strömung als viel eher Situation war, und andererseits die subjektive Flori-Metaebene ihr Köpfchen aus dem Zeitstrahl steckt, meint: im Zweifel mag das jeder anders bewertet haben als meinereiner. Bon.

"Field Trip" führt im Prinzip den Sound der Hades-Nachfolgeband Non-Fiction weiter und nimmt dabei die Schwingungen des Mitt- bis Spätneunziger Metals auf, dieser verwunschenen Twilight Zone also, in der sich Enttäuschung, Existenzbedrohung, Orientierungslosigkeit auf der einen, Sturheit, Durchhaltevermögen und eine Prise Demut auf der anderen Seite trafen und gleichermaßen für Zusammenbruch und Neuanfang einer sorgfältig unter die Räder gekommenen Szene sorgten. Ich höre urzeitliches Soundgarden-Riffing, bekifft-schlurfende Sabbath-Mammutts, ätherische "Reload"-Vibes, ein Körnchen Pathos aus dem Hause Solitude Aeturnus und die niedergebrannten Ruinen dessen, was man auf dem 1995er Hades-Album "Exist To Resist" mit viel Glück und Geschick noch als Thrash Metal erkennen konnte. Und in irgendeinem durchgeknallten Paralleluniversum in einer anderen Dimension ließe sich noch der Beiklang zum Ethos einer Band wie Nevermore vor ihrem "Dead Heart In A Dead World"-Album anschlagen, dessen Ernsthaftigkeit und Intimität sich mit Angriffslust und Aggressivität verbanden und ihrer Musik so zu einer ganz eigenen Identität verhalf. Im Grunde fassen die letzten Zeilen die musikalische Essenz dieser Platte zusammen. 

Für mich ist "Field Trip" aber auch deshalb so bemerkenswert, weil mich dieser Sound gleich aus mehreren Gründen triggert. Aus nostalgischer Sicht betrachtet ist das einfach "meine" Musik, die mich schnurstracks in mein Lebensgefühl im Jahr 1996 zurückschleudert. Als Ecken und Kanten noch charmant waren und nicht als unprofessionell galten. Als Metalbands nicht jedem dahergelaufenen Volltrottel gefallen wollten (oder noch schlimmer: mussten!) und einen Refrain nach dem anderen mit kitschigen Kinderliedmelodien strecken mussten, damit die Plattenfirma bestenfalls zwölf Singles auf einem Album unterbringen konnte. Als man sich noch echt fucking geile Sänger in die Band holte, weil sie echt fucking geile Stimmen hatten. Als die spätkapitalistische Kulturverwertung das Proprium noch nicht mit Normierungsprozessen geflutet und final zum Absaufen brachte, während die Armee der talent- und gesichtlosen Hautsäcke wie eine ganze Legion der apokalyptischen Reiter alles platttrampelte, was gerade noch mit letzter Kraft die eigene Integrität in den Schutzbunker schleifen wollte. Als Hookline-freie Zonen noch dazu führten, dass man die Platten hunderte Male hören konnte; nicht nur ohne sich zu langweilen, sondern um viel mehr immer tiefer in dieses fremde Universum abzutauchen, das sich so dagegen zu sträuben schien, dechiffriert zu werden. Das nach Auseinandersetzung verlangte, das Aufmerksamkeit einforderte, wenn man ihm näher kommen wollte. So habe ich mir meine Lieblingsplatten entdeckt: Mit Zeit. Mit Geduld. Über Anziehung und Ablehnung, manchmal beides zur gleichen Zeit. Eingraben, auf den richtigen Moment warten, den richtigen Ort, die richtige Stimmung. 

Ich habe diese Musik vermisst. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Jetzt ist sie wieder da.  

Cassius King spielen auf "Field Trip" die uncoolste Musik der Welt. 


Cassius King spielen auf "Field Trip" die coolste Musik der Welt.


   


Anmerkung: die CD gibt es aktuell offenbar nur auf der oben verlinkten Bandcamp-Page des Labels zu kaufen (mit horrenden Versandkosten), wenn jemand eine Bezugsquelle aus Deutschland oder Europa kennt: bitte melden! Eine Veröffentlichung auf Vinyl ist geplant, aber durch die Auslastung der Presswerke (es müssen ja auch die ganzen geilen Boxsets von den Dire fucking Straits und den motherfucking Doors gepresst werden, klar!) stark verzögert.   




Erschienen auf Nomad Eel Records, 2021.



11.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (11) - Armored Saint - Punching The Sky




ARMORED SAINT - PUNCHING THE SKY


Es wäre zu viel gesagt und gemeint, diese legendäre US Metal-Band zur "Banda non grata" im meinem Plattenschrank zu erklären, dafür sind mir ihre Alben nach dem 1991 erschienenen Klassiker "Symbol Of Salvation" alle zu sehr ans Herz gewachsen. Aber die Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten hatte auch im Fall von Armored Saint ein paar für mich kaum zu ignorierende negative Folgen: Schlagzeuger Gonzo Sandoval outete sich als beinharter Anhänger des orangeheaded fuckweasels und sorgte mit eindeutigen Posts auf seinen Social Media Kanälen für einige Irritationen Kotzkrämpfe im Hause Dreikommaviernull. Also schaltete ich folgerichtig und hinsichtlich aller Neuigkeiten aus ihrem Camp auf sturen "Ignore"-Modus, selbst nachdem Bassist Joey Vera mir auf Instagram tatsächlich schrieb, Gonzo spreche damit AUF GAR KEINEN FALL für den Rest der Band. Bon. 

Steht aber ein neues Album auf dem Plan, kann ich im Prinzip kaum widerstehen, zumindest mal ein Test-Öhrchen zu riskieren. Die erste Single "End Of The Attention Span" war zwar gefällig, ließ sich aber dank des peinlichem Boomer-Texts und -Videos über die Abgründe dieser neumodischen Kommunikation über dieses "Internet" (o.s.ä.) noch schmerzfrei wegdrücken, bei der zweiten Auskopplung "Standing On The Shoulders Of Giants" brach jedoch die so sorgfältig hochgezogene Mauer im Schädel zusammen: eine geradewegs geniale Hookline, kraftvoll-frisches Songwriting "vom Fass" (Matthias Breusch), ein immergrüner John Bush, dessen Stimme einfach nicht altern will - eine Blaupause klassischen Heavy Metals mit implantiertem Jungbrunnen-Gen für die Ewigkeit. Ein Wahnsinn! "Punching The Sky" musste also trotz einiger moralischer Bedenken zunächst ins Warenkörbchen und anschließend auf den Plattenteller. 

Rein taktisch ist die Songreihenfolge ein cleverer Schachzug: die beiden erwähnten und mit Abstand stärksten Tracks des Albums brennen gleich zu Beginn ein wahres Endorphin-Feuerwerk ab, danach reicht's jedoch allenfalls noch für ein paar LED-Lichterketten aus dem Sommerkatalog von Tchibo. Der Band gehen ab dem dritten Song hörbar das gute Songmaterial und die traditionell herausragenden Hooklines aus. Ausnahme ist das gute "Fly In The Ointment", für das aber auch Steve Harris angerufen hat und seine Akkordfolge zurückhaben will, er hätte da ein Copyright oder Patent oder dicke Backen oder was weiß ich. Was die Platte insgesamt rettet ist das nach wie vor umwerfende Energieniveau einerseits und die taufrische Inszenierung desselben andererseits - beides nicht zuletzt unterstützt von einer sensationellen Produktion, die perfekt zwischen modern-kraftvoll und klassisch-leger balanciert. "Punching The Sky" wirkt befreit und befreiend, sogar bisweilen hedonistisch. Muss man mit Mitte 50 auch mal hinbekommen.   

Für eine Truppe, die so lange im Geschäft ist und wirklich so gar niemandem mehr etwas beweisen muss, ist das eine ziemlich große Leistung. Vermutlich ist "Punching The Sky" aus diesem Blickwinkel betrachtet insgesamt mehr als die Summe seiner einzelnen Teile - und darf daher zurecht in dieser Liste auftauchen.

 

Erschienen auf Metal Blade Records, 2020.

04.05.2021

The Story Of thOught industry

Meine leider etwas holzig formulierte Lobeshymne auf eine der interessantesten, mutigsten, vielseitigsten, technisch versiertesten und scheißrein, ich sag's jetzt: besten Bands der 1990er Jahre ist schockierenderweise beinahe volle 12 Jahre alt, und es ist einer jener Texte, bei denen ich mir heute wünsche, ich hätte sie etwas später geschrieben. Es zeigt sich wiederholt, dass zwischen "gut gemeint" und "gut gemacht" zwei bis drei Enden der Welt liegen können; zumindestens gilt das für die frühen Texte des "Flohihaan" (Monaco Franze) - und manchmal sogar immer noch für das aktuell Erbrochene. Sad.

Inhaltlich gibt es indes nur wenig zu mäkeln, auch wenn meine Ergebenheit gegenüber ihrer Musik im Jahr 2021 sicherlich noch größer ist und im Falle eines heute geschriebenen Textes eine nochmal bedeutend euphorischere Wortwahl verwendet werden müsste. thOught industry stehen in meiner Realität in jener Reihe großer Bands, denen der "OK, Boomer!"-Sticker mit der Aufschrift "Solche Bands werden heute nicht mehr gebaut" bestens zu Gesicht stehen würden. Und verfickt nochmal, ich sag's jetzt nochmal, und zwar laut:


SOLCHE BANDS WERDEN HEUTE NICHT MEHR GEBAUT!!!1111eins1


Ich habe mich über die Jahre sehr oft gefragt, was die ehemaligen Mitglieder wohl heute so treiben mögen und auch wenn ich darauf immer noch keine Antwort habe, kam ich dem Mysterium dieser Irren kürzlich ein bisschen mehr auf die Schliche: Der Youtube-Kanal STAUNCH T.V. hat tatsächlich den früheren Gitarristen Christopher Lee Simmonds ausfindig gemacht und ihn eine knappe dreiviertel Stunde über die Geschichte der Band erzählen lassen. Es bieten sich so faszinierende wie abstoßende Einblicke in die Welt der thOught industry. Die wichtigsten Erkenntnisse, erstens: man muss nicht miteinander befreundet sein, um großartige Musik zu machen. Zweitens: Metal Blade waren (?) offenbar mal ein totaler Saftladen. Drittens: Suff und Drogen killen jede große Band, es ist schlicht erschütternd. 

Wer die Band bislang nicht auf dem Radar hatte und nun Lust auf ihre Musik bekommen haben sollte: es ist egal, welches ihrer Alben man anwählt - sie sind alle (!) großartig. Kein Witz. Isso.


 


 

22.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (6) - Korgüll The Exterminator - Sharpen Your Spikes




KORGÜLL THE EXTERMINATOR - SHARPEN YOUR SPIKES


Die Redaktion von 3,40qm freut sich ganz besonders, Ihnen heute eine Leseprobe des mittlerweile aus den Katalogen gestrichenen Zukunftsromans "2021 - Gedanken im Nachttopf" des Gelsenkirchener Autors Schlötz Kügelründ aus dem Jahr 1994 vorstellen zu dürfen. Das 116 Seiten starke Manifest ist das zentrale Werk im Schaffen des streitbaren Toast Hawaii-Liebhabers und frivolen Felgenbürsters und gilt unter Fachleuten als Klassiker im immer noch unterschätzen Genre der WC-Literatur. Weitere Bestseller des Kügelründ sind "Trendkacke. Braucht kein Schwein", eine einfühlsame Erzählung über Körperhygiene, Elektrizität und Brennessel-Knoblauch-Smoothies im urbanen Brennpunkt Olpe und "Hexenpisse", eine Biografie über die westdeutsche Ulknudelkapelle Rave Zigger mit einem Vorwort von Flips Bolzenkahl-Kahlenbolz. Und nun wünschen wir viel Spaß mit der folgenden Leseprobe aus dem Roman "2021 - Gedanken im Nachttopf".

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"Achtung, "Real-Talk": Es gibt keine schlechtere Musik als schlechten Heavy Metal. Schlechter Metal ist die furchtbarste, peinlichste, absurdeste, verschissenste Musik auf diesem Erdball. Ich würde mir lieber freiwillig eine Platte von Bob Marley anhören oder den Eurodance-Remix von "Ob-La-Di, Ob-La-Da" von den verdammten Beatles in Endlosschleife, als eine Minute schlechten Metal. Schlechter Metal ist unecht. Gespielt, aufgesetzt, künstlich, kommerziell endverwertet, aufgeblasen, over-confident, muskelbepackt. Er trieft vor Testosteron, riecht nach Reihenhausküche, er spricht "Mutti ist die Beste" und denkt "Frauen an den Herd", er fährt einen SUV von Volkswagen, in dem es jeden August auf "Wackööön" geht, abfeiern und danach wählt man die CDU. Eine Linie. Eine fucking Linie.  

Der US-amerikanische Produzent Mick Realo, der im Jahr 2021 als "You Tube Influencer" Bekanntheit erlangte, einer sich zur Mitte der 2010er Jahre entwickelnden und auf den Leichenbergen der postdekadenten Generation Z tanzenden Lebensform, stellte kürzlich die Top Ten der meistgestreamtengespielten Metal-Songs auf Shitify vor, und wenn es danach geht, muss man sich um den Herrn Heavy Metal wirklich so rein gar keine Sorgen mehr machen; der liegt nämlich schon mausetot in der Kiste - und wenn man diesen überproduzierten Kitschkackhaufen, diesen substanzlosen Einheitsbrei, diese leidenschaftslose und bis zum blanken Kotzen glattpolierte Fickpisse hören muss, kann man nur sagen: Glück gehabt! Aber es sind nicht nur die jungen Bausparer, die sich so schamlos an der Idee der einst so rebellischen Subkultur vergehen - die ließen sich in einem Paralleluniversum schließlich noch mit der unvermeidbaren Degenerierung im Zeichen von Weiterentwicklung und der damit verbundenen turbokapitalistischen Komplettverwertung von Kultur durchwinken und also  wegfloskeln. Bedeutend schwerer fallen jene ins Gewicht, die sich aus der schwermetallischen Ursuppe der späten 1970er und 1980er Jahre emporwürmelten, die mit unbekümmerter Naivität, echter Lebensfreude und authentischem Krach zu Vorreitern und Fixpunkten einer ganzen Generation junger Heavy Metal-Fans wurden - und sich 30 Jahre später von neureichen Businesskaspern als gut getarnte Zirkuskapelle am mittlerweile rostigen Nasenring durch die Manege schleifen lassen und ihre wie Gebirgsmassive zerklüfteten Hackfressen in Hochglanzvideos zeigen müssen, in denen sie ihre auf 340 Gigapascal hochgepeitschte leere Hülle einer ehemaligen Ahnung von Heavy Metal im Vollplayback vortanzen. Solche mausetot klingenden und bis zur Unkenntlichkeit durchgestylten Alben von Bands wie Onslaught oder, Gott steh' mir bei: den ehemaligen Alleskönnern von Heathen, die mittlerweile wohl nicht nur ihre Musikproduktionen, sondern gleich die ganze Bandbesetzung am vielzitierten Reißbrett entwerfen lassen, sind das eigentliche Ende des Heavy Metal, wie wir ihn mal kannten. Eine tieftraurige und gleichzeitig quietschfidel inszenierte Vollverarsche "von Behämmerten für Behämmerte" (Holger Stratmann) - das ist schon kein potemkinsches Dorf mehr, das ist ein ganzer verschissener potemkinscher Planet. 

Es braucht ein Gegengift. Ein starkes Gegengift. Ein stark rumpelndes Gegengift."

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Wir beamen uns zurück in die Gegenwart. 

Wenn sich eine Band nach einem alten Song der Science Fiction-Metallegende Voivod benennt, ist das schonmal ein guter Anfang für eine möglicherweise sehr tiefe Freundschaft mit meinem Herzen, und wenn ihr hysterisch hackender Black/Thrash Metal dann auch noch so klingt, als würden Venom seit 30 Jahren die längste Treppe der Welt herunterfallen und dabei ununterbrochen von einer manischen Sabina Classen angebrüllt werden, dann ist das wenigstens charmant - und manchmal sogar ein bisschen mehr als das. Das katalanische Quartett kann modernen Metal genauso wenig ab wie unser eben zitierter Schlötz Kügelründ und spielt sehr kompromisslos nur das, auf was es Bock hat, als Hobby. Dahinter steckt kein großes Label, ehrlicherweise nicht mal ein mittelgroßes, dahinter steckt auch kein ausgeklügelter Marketingplan, der mit den Extremen protzen muss - Korgüll nehmen einfach seit 2008 stoisch ihre Musik auf, die fürs sanftgebettete Mainstream-Pack völlig unzugänglich, kaputt und derb klingen muss: "Sharpen The Spikes" steht auf Bandcamp bei nur 85 Menschen in der Sammlung, auf dem Plattensammlersupergiganerdportal Discogs sind's gerade mal 25 Besitzer. Aber man ahnt auch ohne ausgefeiltes Studium dieser Platte, dass ihr räudiger Mix aus 1980er Patronengurtgeballer und 1990er Black Metal-Mystik entweder etwas für den fortgeschrittenen Kenner oder aber für den zurückgebliebenen Kartoffelficker ist. Die "Meddal-Midde" (Birne) hält sich die Ohren zu.  

"Sharpen The Spikes" ist ein durch und durch echtes, rebellisches, in Teilen kakophonisches, irre (IRRE!) treibendes Lets-Fetz-Gehacke aus dem Bilderbuch, schwer behängt mit Nietenarmbändern und mariniert in billigem Bier, hinsichtlich der Intensität eventuell mit einer zugekoksten Version der Mitt/Endneunziger Blackthrash-Urgesteine von Defleshed vergleichbar, nur lässiger, wilder und noch roher. Das geht logischerweise nicht immer klar in meiner Realität, und die Herzallerliebste lässt nach dem ersten, auf selbstredend infernalischer Lautstärke abgespieltem Urschrei von Sängerin Lilith Infernal Punisher nur ein trocken-bedrohliches "Is' klar!" in den Raum gleiten, aber in manchen Momenten kalibriert mir dieser primitive Chaoshäcksler die hohle Denkmurmel so aufs Vortrefflichste wieder auf NormalNull, dass ich mich diesem Zauber des wahren, echten, reinen, unverfälschten und unkaputtbaren katalanischen Superstahls einfach nicht entziehen kann. 


Kills all fucking posers on fucking contact.


 



Erschienen auf Xtreem Music, 2020. 



 

17.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (5) - Psychotic Waltz - The God-Shaped Void




PSYCHOTIC WALTZ - THE GOD-SHAPED VOID

Da waren Psychotic Waltz für sage und schreibe 23 Jahre weg vom Fenster und veröffentlichen ihr erstes Album seit 1997 nach jahrelangem und schier endlosem Warten ausgerechnet im Februar 2020, und damit kurz bevor Covid-19 die Welt zunächst stoppen und dann vermutlich langfristig verändern sollte - hier von "schlechtem Timing" zu schreiben, wäre eine geradewegs unanständige Untertreibung. "The God-Shaped Void" wäre ähnlich wie "Long Day Good Night" von Fates Warning unter normalen Umständen ein sicherer Kandidat für meine Top 20 des Jahres gewesen und wie es die geneigte Leserin, der geneigte Leser (nicht) lesen konnte: es kam schon wieder anders. 

Ich weiß schon: es herrschen nicht erst seit gestern schlechte Zeiten für Mut und Experimentierfreudigkeit im Heavy Metal, ganz besonders gilt das für Bands älteren Semesters, deren Wiederbelebung klassischerweise auf die paar Handvoll Fans zugeschnitten ist, die von früher übrig geblieben sind. Als Psychotic Waltz im Sommer 2017 eine kleine Europatournee aufzogen, fanden sich im Frankfurt Club "Das Bett" optimistisch geschätzte 150 Leute ein, die unter Garantie allesamt bereits 1997 in der Offenbacher Hafenbahn zur Tour des damals aktuellen "Bleeding" Albums anwesend waren, das verrieten die gleichermaßen ausgeblichenen und verkrumpelten Bandshirts und Gesichter. Dass jene Gruppe in aller Regel nicht (mehr) zu den Draufgängern zählt, den musikalischen zumal - im Alter wird man erstens komisch und zweitens erschütternd oft konservativ - ist wenig überraschend. Hinzu kommt im Falle der Anhänger von Psychotic Waltz sicherlich auch der Umstand, in einem von großen musikalischen Verwerfungen gezeichneten und damit stark polarisierten Jahrzehnt wie den neunziger Jahren aufgewachsen zu sein; ein Jahrzehnt, in dem alles, was sich auch nur einen Nanometer von der reinen Metallehre entfernte, in der Wahrnehmung der Fangemeinde automatisch zu Dreck wurde. Und es benötigt vermutlich auch kein Studium der Wirtschaftspädagogik, um nachvollziehen zu können, dass eine Band, die die Rückkehr nicht mehr als zwingendes Lebenselixier, sondern lockere Feierabendsause unter Freunden begreift, sich nicht in ihre Einzelteile zerreißen wird, um ein künstlerisch ambitioniertes Statement zu veröffentlichen, das die Zuhörer schlimmstenfalls verwirrt; da sollen bitte nach einer Tournee noch dreifuffzig im Portemonnaie landen. Ist alles geschenkt, ich weiß das, ich versteh' das. 

Nun nehme ich bereits mit meinen 43 Jahren erschreckenderweise bereits ziemlich ungute Entwicklungen im Sinne eben/oben genannter Parameter bei mir selbst wahr, habe mir aber immerhin meine Abenteuerlust in Sachen Musik behalten können - paradoxerweise ebenso bestimmt von den 1990er Jahren, nur vice versa: der Anything Goes-Vibe ist für mich noch immer über alle Maßen attraktiv. Und um ehrlich zu sein, falle ich damit aus der Zielgruppe für "The God-Shaped Void" raus. Plumps. 

"The God-Shaped Void" ist ein gutklassiges, wenn auch leicht antiquiert wirkendes Metalalbum geworden, das die Verspult-, Verrückt- und Verspieltheiten vergangener Zeiten konsequent vermeidet. Was das immerhin in Originalbesetzung auftretende Quintett anbietet, ist für Waltz'sche Verhältnisse äußerst konventionell und gemütlich geraten, wenngleich sich stilistisch zu den beiden Vorgängern "Mosquito" und "Bleeding" gar nicht mal so viel geändert hat: dicke Grooves, dezent heruntergedimmtes Powerchord-Riffing, ausladende Melodiebögen und spacig-bekifftes Abtauchen in Synthieglitter gab es in hochkonzentrierter Form schon nach ihrem deutlichen Stilwechsel zur Mitte der neunziger Jahre zu hören. Wofür man 1997 aber lediglich drei Minuten benötigte, dauert heute fast immer fast doppelt so lang, und das Konzept geht nicht nicht so richtig auf: natürlich lassen sich auf "The God-Shaped Void" immer noch herausragende Momente entdecken, die sich nur diese Band ausdenken kann,. Wo jedoch früher die Ideen superverdichtet wurden, um sie in kleine funkelnde Diamanten zu pressen, zieht sich heute so manches wie Kaugummi. Hier eine Wiederholung, da noch eine Wiederholung, zweites Solo, drittes Solo, und warum zur Hölle nicht nochmal der Refrain zum Schluss? Ein Track wie "Sisters Of The Dawn" hätte zweifellos auch auf "Bleeding" stehen können - nur eben drei Minuten kürzer, knackiger. interessanter. fokussierter. Über Vergleiche zu den ersten beiden Sternstunden ihrer Karriere "A Social Grace" und "Into The Everflow" müssen wir im Jahr 2020 endgültig nicht mehr reden. Genausowenig übrigens wie über den Fremdscham-Text von "While The Spider Spins", der mit nachdenklichen Hinweisen alter Männer über die Mediendiät junger Menschen referiert. Sweet baby jesus, srsly? Hat da irgendwer mal auf den Kalender geschaut? 

"The God-Shaped Void" ist ein gutes, bequemes Alterswerk. Ich freue mich wirklich, nochmal neue Musik von einer meiner absoluten Lieblingsbands hören zu dürfen, aber ein bisschen mehr Mut und Mumm hätten wirklich nicht geschadet.


 


Erschienen auf Inside Out, 2020.



08.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (1) - Fates Warning - Long Day Good Night

Für den Top 20-Jahresrückblick blieben ein paar Alben auf der Strecke, manchmal unerwartet, manchmal einfach nur, weil ich sie zu spät kennenlernte. Um nicht wie in den fucking 13 Jahren zuvor immer wieder den selben Fehler zu machen und solche Kandidaten irgendwann einfach zu vergessen, werden wir also über die nächsten Wochen Monate öfter mal ein Wort über das verlieren, was sich abseits der vermeintlich besten Platten des Jahres noch so getan hat. 

2020 wird uns also noch eine Weile beschäftigen - und das gilt vermutlich sogar über die Musik hinaus. 

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FATES WARNING - LONG DAY GOOD NIGHT

Ich liebe Fates Warning. Ich liebe ihre Unaufgeregtheit, ihre Melancholie, ihre Brillanz. Dass sie nach ihrem Comeback mit "Darkness In A Different Light" im Jahr 2013 nur drei Jahre später einen echten Meilenstein aus dem Hut zauberten, traf mich bei aller Verliebtheit wie ein Öltanker bei Nacht: "Theories Of Flight" ist ein überragendes progressives Metalalbum, über das ich bereits hier und hier ausgiebig referiert habe. Dass der im November 2020 erschienene Nachfolger "Long Day Good Night" in meine Top 20 gehört, war glasklar, eigentlich schon vor dem Hören. 

Aber es kam anders. 

Es stimmt etwas nicht mit dieser Platte, und ich kann nicht mit Gewissheit sagen, was es ist. Es gibt aber Indizien. Erstens: das Album ist zu lang. Die Vierminüter aus dem letzten Drittel gehören streng genommen komplett gestrichen, weil der Band hier jede Spannung aus den Händen gleitet. In diesem Zusammenhang ist es zweitens mindestens genauso wichtig zu erwähnen, dass kein einziger Song der besagten Gruppe für sich genommen medioker oder gar Schlimmeres ist - dass sich trotzdem jener Eindruck verfestigt, deutet auf ein echtes Problem aus dem Regieraum hin. Drittens: wenigstens in der ersten Hälfte meint man hinsichtlich der Songstrukturen ein Abziehbild des Vorgängers zu hören. Ich nenne dieses Phänomen den Tool-Effekt: definitiv andere Songs, definitiv andere Vibes - und dennoch: "Das kenne ich doch genau so schon von der letzten Platte, dafuck?!" Viertens: die ohnehin nicht gerade üppig gesäten Experimente wollen nicht recht gelingen. Der ZDF-Fernsehgarten-Schunkler "Under The Sun" ist mindestens diskussionswürdig und sorgt spätestens im Refrain bei meiner der Band ebenfalls überaus zugeneigten Herzallerliebsten für den so berüchtigten wie wort-und verständnislosen Blick über den oberen Brillenrand. Und der Longtrack "The Longest Shadow Of The Day", angeblich bereits über mehrere Jahre in Arbeit, man fragt sich leise "Warum?", gerät mit einem - ich möchte offen sprechen: komplett ratlos machenden Instrumentalteil zu Beginn zu einem zwar ambitionierten aber gleichzeitig orientierungslosen Epos, das beim Versuch, dem Intensitätsmonster "The Light And Shade Of Things" ein Eckchen abzuknabbern, sich ordentlich verschluckt. Fünftens: sollten sich die Gerüchte bestätigen und "Long Day Good Night" ist tatsächlich das letzte Studioalbum dieser legendären Band, dann müsste ich mir angesichts des zwar (ein bisschen zu) programmatisch betitelten Abschlusssongs "The Last Song" und seiner auffallenden emotionalen Lethargie und Schlaffheit beinahe ein paar Sorgen machen. Vielleicht entgeht mir aber auch die Verbindung jener Lethargie zu einer wirklichen, echten Erschöpftheit der Protagonisten; ein so naheliegender wie profaner Gedanke, aber es gibt auch hier ein Problem: "Long Day Good Night" kann selbst diese vermeintliche Dramatik weder tragen noch klären, dafür fehlen Tiefe, Ausdruck, Engagement. Ich wiederhole mich: Es stimmt einfach etwas nicht mit dieser Platte. 

All das liest sich wie ein furchtbarer Verriss. Das ist jedoch nur das viertelchen Wahrheit. 

Ich liebe Fates Warning. Es gibt ganz wunderbare Momente auf "Long Day Good Night", es war alleine im Digitalformat eines meiner meistgehörten Platten des vergangenen Jahres (und in dieser Statistik sind die Schallplattendurchgänge freilich nicht mal aufgeführt.) Und ich liebe Ray Alder. Ich würde mir jede weitere Fates Warning Platte taubstummblind kaufen, und hätte ich letztes Jahr einen großen und damit auch irgendwie einmaligen Schluck aus der Schnapspulle genommen und mir gar eine Top 30 vorgenommen, wäre "Long Day Good Night" vermutlich dabei gewesen. Der Begleittext hätte indes nicht bedeutend anders ausgesehen als dieser hier. 

Möglicherweise saß das Problem aber wie so häufig mal wieder vor dem Plattenspieler. Ich kann nicht abstreiten, dass ich nach dem Höhenflug von "Theories Of Flight" (und auch der Arch/Matheos-Sternstunde "Winter Ethereal") auf eine Wiederholung dieser Erfahrung hoffte und jedes Bröckeln dieser Erwartung nichts weniger als einen kleinen Weltuntergang bedeutete. Die Logik weiß, dass die herausragende Qualität solcher Platten wie eben "Theories Of Flight" auch deswegen so herausragend ist, weil sie so selten passiert. Wunderwerke sind eben rar. 

Das Herz will das alles nicht verstehen. Das Herz will Überfluss, Euphorie, Drama - 24/7, auf allen Kanälen und aus allen Rohren gefeuert. Man nennt's Leben.


   



Erschienen auf Metal Blade, 2020.