Posts mit dem Label Fliegenpilze werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Fliegenpilze werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

21.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Young Magic - Still Life




YOUNG MAGIC - STILL LIFE


Ich orakelte schon im 2016er Jahresrückblick über die zu erwartende Ausnahmestellung von "Still Life", und siehe da: ich kenne mich manchmal doch besser als gedacht. 

"Es gab in 2016 so einige Platten, die mein Leben vermutlich auch über das immer noch andauernde Superscheißjahr 2016 hinaus prägen werden; in erster Linie, weil ich mit Ihnen eine bestimmte Zeit, auch ganz besonders ein Lebensgefühl verbinden werde. Und einige davon werden vielleicht wichtig für das restliche Leben werden, sei es, weil sie besondere Saiten in mir angeschlagen haben, sei es, weil ich mit ihnen überhaupt nicht rechnete und die Überraschung und Begeisterung nicht zuletzt genau davon getragen wird und wurde. "Still Life" könnte so eine Platte werden."

Das musikalische Tagesbuch von Sängerin Melati Malay und ihrem Partner Isaac Emmanuel, erdacht und ausgetüftelt auf Malays Reisen, unter anderem auch in ihr Heimatland Indonesien auf der Suche nach den Lebensspuren ihres damals just verstorbenen Vaters, oszilliert durch ätherische Zwischenwelten, sediert die Sinne, durchdringt die Trauer und feiert das Leben. 

Und dennoch fehlen mir immer noch die Worte für die Gefühle, die "Still Life" in mir auslöst. Ich konnte es schon vor vier Jahren nicht genau beschreiben und es macht mich auch im Supersupersuperfuckingsuperscheißjahr 2020 ratlos. Irgendetwas in dieser Musik scheint mir so verflucht nahe zu kommen, dass ich mich beinahe davor fürchte, genauer hinzuschauen. 

Vielleicht das persönlichste und möglicherweise deshalb auch rätselhafteste Album des Jahrzehnts. 




Erschienen auf Carpark Records, 2016.

28.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Brock Van Wey - Home





BROCK VAN WEY - HOME


Hier hätte zunächst das Album stehen sollen, das meinen Einstieg in die Welt Brock van Weys markierte und die Stimmung des vergangenen Jahrzehnts im Erleben meiner Realität, der musikalischen zumal, so stark prägen sollte, wie sonst nichts anderes. "The Art Of Dying Alone", unter seinem hauptsächlich verwendeten Alias bvdub erschienen, verdrehte mir Herz und Kopf gleichermaßen und war dafür verantwortlich, in den kommenden knapp neun Jahren nicht weniger als 30 (!) Titel des Kaliforniers käuflich zu erwerben. 

Die Wahl auf das 2011 erschienene Album wäre also eine leichte gewesen. Weil leicht aber auch ziemlich langweilig ist, entschied ich mich für das unter seinem bürgerlichen Namen erschienene Mammutwerk "Home" und zitiere den Mann, der die Ehre hatte, diesen über 150 Minuten andauernden, mich förmlich gegen die Wand drückenden Emotionsorkan zu mastern. 

Liebe Freunde, Stephen Hitchell (Echospace): 

"The best work I've ever heard from Brock. This was the hardest mastering job I've ever done, it took months and months, I had tears in my eyes through the entire process, the emotion felt here is unlike anything I've heard before. If this doesn't capture the heart and souls of people, well, I don't know what will." 

Und was Hitchell hier angestellt hat, ist in der Bewertung von Home nicht zu vernachlässigen; "Home" als ausufernd zu bezeichnen, wäre eine oder hundert Nummern zu klein, und das liegt nicht nur an der Epik und Dramatik, die einem Brock van Wey sowieso schon aus jeder Pore kommen. Hitchell hat vor allem in den monumental inszenierten und manchmal über 15 Minuten durch Seele und Geist stürmenden Höhepunkten der Tracks wirklich alles aufgedreht, was es aufzudrehen gab. 

Mehr Weite und Drang war nie. 

Mehr Katharsis, Reinigung, Bewusstheit und Heilung war nie. 




Erschienen auf Echospace, 2014.

14.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Flying Lotus - Cosmogramma




FLYING LOTUS - COSMOGRAMMA


Vielleicht das inspirierteste Elektronik-Gefuddel der letzten 10 Jahre. Der Vorgänger "Los Angeles" bedeutete den Durchbruch, "Cosmogramma" holte dann zum großen Schlag gegen jede Form der Apathie und Geistlosigkeit aus: hyperaktives Sci-Fi-Gedaddel aus den grasvernebelten Universen zwischen Sun-Ra-Saturn und Krautrock-Rauhfaser, das Wurzelchakra im purpurnem Astralstaub gebadet, der Stammbaum geht rauf bis zum Merkur. Weil eben alles EINS ist, Stupid! 

Die Besessenheit, über Sounds und deren Anstriche so lange zu grübeln, bis auch der siebzehntausendste Schlag auf die Snare richtig sitzt, ist das Eine - aus dieser Lawine an Ideen, Reflexen und Entscheidungen den spirituellen Überbau aus kosmischer Wahrheit und Liebe zu channeln, das Andere. 

(Das ausführliche Review gibt's in der "Blast From The Past"-Rubrik  >>>)



Erschienen auf Warp Records, 2010.

21.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 8 ° Alfa Mist - Structuralism




ALFA MIST - STRUCTURALISM


Gute Nachrichten: Im Gegensatz zum Vorgänger "Antiphon" gibt es das Vinyl von "Structuralism" noch zu normalen Preisen, ohne dafür allzu komplizierte Moves an Tagen mit ungerader Stundenzahl aufführen zu müssen. Der Release des Debuts, beziehungsweise dessen Vinylversionen, wurde vom britischen Pianisten seltsamerweise strikt limitiert, weshalb selbst Nachpressungen mittlerweile nur noch selten unter 50 Euro zu haben sind. Ein aktuellerer Discogs Kommentar spricht im Zuge der "Öffnung" (sic!) davon, dass der Alfa Mist ja auch schließlich "ein Mann des Volkes" sei und er daher den Release von "Structuralism" auf allen Streamingplattformen erlaubt habe. Da kann man mal sehen.

Abgesehen von all dem Business- und Hype-Remmidemmi unterscheidet sich "Structuralism" in der stilistischen Ausprägung nicht fundamental von seinem Vorgänger und was ich an anderer Stelle, et medium: bei anderen Platten, oft lautstark und enervierend wortreich beklage, dass nämlich more of the same in erster Linie eine Geschäfts- und seltener eine Kreativentscheidung und außerdem wie Norwegen (lang und weilig; Hape) und also supersackfuckingöde ist, stört es mich hier nicht die Bohne: ich verbrachte mal eine ganze Stunde mit dem Opener ".44" auf Endlosschleife in der 50°C heißen Badewanne und ließ mir Hirn, Herz und Hämmorhoiden dampfmangeln, bevor ich das Album anschließend für fünf weitere Stunden in ebenfalliger™️ Endlosschleife über die Anlage in die DNA purzeln ließ. Viel Atmosphäre, viel Groove, viel Virtuosität, viele leise Töne und ein bis drölf Säcke Kudos für die großartige Rythmusabteilung (allen voran an den Drums: Jamie Houghton und Peter Adam Hill, mein liebster Youtube-Kommentar: "Drummer is sick in the head."), die mit ihren punktgenauen Akzentuierungen für Freudenschreie sorgen.

Die Jazzpresse findet's derweil offenbar eher unterwältigend, eine halbe Million Plays alleine auf Youtube für einen Undergroundjazzer aus England sprechen hingegen eine deutliche Sprache.

Vielleicht ist Alfa Mist ja doch und tatsächlich ein "man of the people."




Erschienen auf Sekito, 2019.

12.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 11 ° Toki Fuko - Spring Ray




TOKI FUKO - SPRING RAY


Geheimnisvoll. Hypnotisch. Nokturn. "Spring Ray" ist ein auraler Spaziergang durch einen tropischen Regenwald bei Nacht. Aus der Tiefe des Waldes sind Trommeln zu hören, die langsam lauter und zum Puls der Nacht werden. Das Zirpen der Insekten verwandelt sich in ein diesiges Hintergrundrauschen, die Blätter in den Baumkronen werden vom Wind geküsst. 

Je weiter wir in diesen Zauberwald eindringen, desto präsenter werden die tiefer liegenden Schichten dieser Musik: Einheit, Bewusstsein und Vertrauen. Und es zeigt sich, dass die Schatten der Dunkelheit nur in Deinem Kopf existieren. Wer sich darauf einlässt, wird zu einem besseren Menschen. 




Erschienen auf Silent Season, 2019.

08.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 13 ° 36 - Fade To Grey




36 - FADE TO GREY


Alben von 36, die auf Vinyl via A Strangely Isolated Place erscheinen, sind meist in Windeseile ausverkauft, und wer verspätet zum Vorverkauf erscheint, darf nur wenige Tage später den Blutsaugern auf Discogs die Ehre (und ein schön leergeräumtes Konto) erweisen. So erging es mir mit "Fade To Grey", weshalb ich zur Strafe einen grotesk hohen Betrag in Richtung, na klar: Berlin überweisen sollte. Immerhin noch bevor sich die Bandscheibe unseres Hundes meldete und ganz alleine den Jahresbonus auffraß. No food, just wax and dogs. 

Dennis Huddleston ist einer der Stars der Ambientszene und in solchen Momenten zeigt es sich auch abseits des Sammel- und Exklusivitätswahns heutiger Schallplattensammler. "Fade To Grey" ist der Einsamkeit und der Isolation gewidmet, die aus unserem Social Media-Kladderadatsch entsteht, die uns von unserem Selbst entfernt, uns sowohl durchlässig und verletzlich, als auch hart wie Beton macht. Es ist ein elegisches Werk für eine Zeit ohne Empathie. Ein Werk, das den leeren, emotionslosen Blick gegen die weiße Wand vertont, gleich einer Embryonalstellung der Seele gegen den Weltschmerz. Interessanterweise klingt "Fade To Grey" dabei nicht dunkel oder abgründig, sondern leuchtet im Gegenteil hell und heiter - wie ein Abbild unserer Realität zwischen sinnbetäubender Euphorie und bodenloser Tristesse. 

Einer wird gewinnen.

"Considering the landscape of our own world right now, where a handful of companies control everything we consume, where convenience is more important than privacy, where personal choice is pre-determined by algorithms analyzing our behavior, and where the internet has become a battleground for influence and propaganda... It's not a stretch of the imagination to believe we're already witnessing our very own dystopia."




Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2019.

05.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 15 ° Die Wände - Im Flausch




DIE WÄNDE - IM FLAUSCH


Ich erinnere mich daran, dass ich der Herzallerliebsten das phänomenale Cover-Artwork zeigte und dazu verlauten ließ, die Platte heiße "Im Flausch" und mir sei es nun völlig wurscht, wie das klingt, ich müsse das jetzt blind und taub kaufen. Als Antwort erhielt ich ein "Ich bitte darum!" und im Subtext eine neuerliche Erinnerung daran, dass wir verheiratet, vulgo: "ein Kopf und ein Arsch" (H.Schenk) sind. Jetzt sind wir hier, im Sinne von am Jahresende angekommen und wie zu sehen ist, habe ich die Entscheidung nach dem Anhören nicht nur nicht bereut, sondern ganz außerordentlich begrüßt: das Trio spielt im Postpunk-, Indie- und Noise-Sandkasten, hat nicht nur im Gestus den obersten Hemdknopf geschlossen und rasselt mir mit nonchalant vorgetragenen Texten wie "Ich finde nichts mehr gut. Ich lege mich nicht mehr fest. Ich schmeiße alles hin." nebst anschließendem Noise-Ausbruch direkt in die linke Herzkammer. Die angenehm dosierte Dissonanz, sowohl in der Musik als auch in den hintergründigen Texten, piekst mich genau dort, wo ich's gerne hab: kein breitbeiniger Rockzirkus, sondern eher distinguiertes Detachement. Und wenn es doch schmutzig, krachend und laut wird, räumt hinterher jemand schön auf und macht wieder alles sauber - allerdings mit dem Kommentar, dass das ja jetzt schon ziemlich unlocker sei. 

Unser Leben ist ein einziger, stets größer werdender Widerspruch - und das hier ist sein Soundtrack. 



Erschienen auf Späti Palace, 2019.

03.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 16 ° Flying Lotus - Flamagra



FLYING LOTUS - FLAMAGRA


Die gute Nachricht zuerst: "Flamagra" ist wieder deutlich inspirierter ausgefallen als der Vorgänger "You're Dead", das bis heute einzige FlyLo-Album, das den bitteren Gang zum Second Hand-Dealer antreten musste. Dennoch war auch das sechste Studioalbum zunächst ein Wackelkandidat für die Top 20. Vermutlich ist es meine Erwartungshaltung, die mir (und ihm) immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen will, vielleicht macht man ein Album wie "Cosmogramma" aber auch wirklich nur einmal im Leben. Denn auch wenn die Musikredaktionsstuben zwischen zwei Mariacron aus dem Rollcontainer immer noch derart vehement die seit vielen Jahren bekannten zentralen Aspekte des Sounds von Flying Lotus betonen, erkenne ich zumindest stilistisch nichts bahnbrechend Neues auf "Flamagra" - natürlich ist die Detaildichte seines Sounds immer noch hoch, natürlich sind das immer noch die bizarren, übergroß auf die Kinoleinwand projizierten Science Fiction-Drehbücher und natürlich lassen sich selbst in den etwas zurückgenommeneren Momenten noch mehr eingebaute Bells & Whistles in diesem wahnsinnig kuratierten Gedankenfluss finden, als bei jedem anderen Remmidemmi-Produzenten. Was Flying Lotus für mich indes so einzigartig macht, sind seine Interpretationen von Jazz und Hip Hop und deren Verschmelzung in postmoderne Lebensrealitäten.  

Jede der rund 6420 Sekunden von "Flamagra" scheint für einen klitzekleinen Moment ein Bewusstsein darüber zu haben, woher sie kommt und wohin sie geht  Und jede einzelne erzählt in atemberaubender Geschwindigkeit Mikro-Poesie vom Anfang und vom Ende ihrer Welt - und aus diesem virtuellen Netz von Gedanken, Ideen, Hoffnungen und Enttäuschungen speist sich der ganze gottverdammte Scheißkosmos. Blingbling. 



Erschienen auf WARP Records, 2019.

31.12.2019

Best Of 2019 ° Platz 18 ° Ishmael Ensemble - A State Of Flow




ISHMAEL ENSEMBLE - A STATE OF FLOW


England brodelt. Nicht nur politisch, aber auch ganz besonders kulturell. Sicher, die seit Jahren florierende Jazzszene, und hier besonders das Epizentrum in London, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr; sie wird auch außerhalb der Landesgrenzen wahrgenommen und gerechterweise gefeiert. Das Ishmael Ensemble um den aus Bristol stammenden Produzenten Pete Cunningham scheint sich jedoch noch etwas unter dem Radar der bekannteren Namen Shabaka Hutchings, Nyubya Garcia oder Alfa Mist aufzuhalten: das Debut "A State Of Flow" heimste zwar fleißig Lorbeeren von den üblichen Verdächtigen wie Gilles Peterson ein, läuft aber immer noch als Geheimtipp durch's 2019er Musik-Dickicht. Umso mehr freue ich mich darüber, diese Platte gefunden zu haben - so zahlt sich die jeden Monat wiederholende und stundenlange Suche nach neuer Musik aus. 

"A State Of Flow" ist eine Fusion aus Bonobo'scher Leichtfüßigkeit, der Tiefe des Cinematic Orchestras, Kieran Hebdens Progressivität und den Emotionen des Submotion Orchestras: Jazz, Electronica, Soul und Ambient in bester Tradition des Bristol-Sounds. Vielleicht im Detail noch ein bisschen rough around the edges, aber mir kommt die zwischenzeitliche Störung von allzuviel glattpoliertem Mainstream gerade sehr gelegen. Könnte den Status eines unentdeckten Kultalbums erreichen, wenn Social Media endlich tot ist. Und wenn es wieder möglich ist, "Kult" zu sagen, ohne hinterher vom Knorr-Papi verprügelt zu werden. 



Erschienen auf Severn Songs, 2019.

14.05.2019

Alive In New Light





IAMX - ALIVE IN NEW LIGHT



Die Herzallerliebste hatte den veganen Rollbraten zuerst gerochen und quittierte meine Ignoranz gegenüber des aktuellen IAMX-Albums Ende des letzten Jahres mit geharnischtem und obszön lautem Trommelfeuer aus ihrem Musikzimmer, denn "wenn der Alte das nicht hören will, dann lasse ich ihn es einfach mithören - und mit ihm darf auch die Landbevölkerung auf der Hochplateauebene Chiles noch zuhören!" Und so kam es, wie es so oft kommt: mit Lautstärke, Repetition und Liebesentzug zerbröselten meine zunächst vorbehaltlos validen Vorbehalte wie das Ehrgefühl von Julian "8,8cm" Reichelt beim verzweifelten liebevollen Gedanken an Moritz Hürtgen.

Dabei erschienen mir jene Vorbehalte gar nicht so balla-balla wie sie es sonst üblicherweise tun, sondern im Gegentum recht sorgfältig begründet: Chris Corner, Sänger, Produzent, Erfinder, Designer, Hirn und Herz des IAMX Kosmos ist ein getriebener Workaholic, der seine inneren Dämonen jahrelang versuchte mit Drogen zu bekämpfen. Von schweren Depressionen geplagt, auf der Suche nach Erlösung, Frieden und Liebe. Seine Musik erschien mir immer als bipolares Abbild seines Lebens, manisch zuckend zwischen einer bizarr überzeichneten Lust am Hedonismus und der sich anschließend zeigenden tiefen Agonie. Der Thrill des Untergangs. Drama, Baby! Nun findet in meinem Leben als bald 42-jähriger Golf-Fahrer mit Ersatzhundedecke im Kofferraum hingegen ziemlich wenig Drama und Verzweiflung statt, sieht man mal vom emotionalen Totalausfall ab, wenn der Kaffee zu dünn geraten ist oder wenn mal wieder morgens nach dem Aufstehen Wetter ist, denn so ist sie, die deutsche Kartoffel: es ist zu kalt, zu warm, zu nass oder zu trocken - und außerdem, und in erneuter Anlehnung an den unsterblichen Polt: "Ich bin schon früher zusammengebrochen, ich weiß wie's geht." Chris Corner weiß es auch - und auf dem zuletzt gehörten Album "Metanoia" aus dem Jahr 2015 legte er erneut ein ausführliches Zeugnis davon ab, wie das eigene Ich einem auch mit Mitte 40 noch böse an den Kragen gehen kann - aber mir war's dieses Mal schlicht zuviel. Zuviel Pose, zu wenig Echtheit, zu weit entfernt von meinem Erleben, meiner Realität. 

Dabei habe ich ja grundlegend eine Affinität zum Selbstzweifel und -mitleid, ich bin schließlich in den prachtvoll inszenierten Opferrollen des Heavy Metal groß geworden - außerdem war ich mal katholisch und noch schlimmer: Messdiener. Beides drängt die Denkmurmel nicht immer in Richtung einer positiven Selbstwahrnehmung, macht sie aber empfänglich für die Lust an der Apokalypse. "The Alternative" aus dem Jahr 2006 war der erste Berührungspunkt mit Corners zwei Jahre zuvor aus der Taufe gehobenem Projekt, nachdem seine Band Sneaker Pimps auf dem Erfolgszenith verglühte, und entwickelte sich über die Jahre zu einem Klassiker im Casa Dreikommaviernull, nicht zuletzt und -sätzlich gefördert von zwei nicht weniger als legendär zu bezeichnenden Konzerten im Frankfurter Bett. Vor allem der zweite Auftritt in der locker 50°C heißen und komplett ausverkauften Halle im Hochsommer verbleibt bis heute als erotisch aufgeladener, wild durchdrehender Zirkus mit Konfetti, goldigem Glitzer-Glitter, Schweiß und viel nackter Haut in bester Erinnerung. Abende, die man einfach nicht vergisst. Trotzdem räumte ich nach "Metanoia" zunächst alles beiseite, was aus dem Hause IAMX kam. No hard feelings - ich bin eben rausgewachsen. Das kann ich akzeptieren.

Angesichts von "Alive In New Light" scheint es nun drei Jahre später, als müsste zaghaft der Rückwärtsgang eingelegt werden. Corner hat nach Jahren tiefer Depressionen seinen Weg zurück ins Licht gefunden: 

‘Part of being a creative artist is tied to deep self-confidence issues and self-doubt and ego waves. You are navigating that constantly because of what you do. And you do it because you are navigating it constantly. It’s a cycle of feeling great and feeling worthless. That can be a little bit challenging to stabilize the mind. I did work a lot on self-surrender, acceptance and self-love as well as self-compassion. That can be a huge step in relaxing into healing because one of the biggest problems is just coming down and being able to heal. Self-love is a big part of that.’ (Chris Corner)


Und somit wirkt das Album als das Produkt eines Heilungsprozesses, ist lyrisch optimistischer, versöhnlicher und ja: gereinigt. Es ist vor diesem Hintergrund nur konsequent, dieser Platte den vielsagenden Titel "Alive In New Light" zu geben  und die Livekonzerte mit dem Titelsong zu eröffnen: 


There's a power much bigger than hate
Still lost in the urge to annihilate
But I know I will overcome this
You dragged me through the darkest days
By the skin of my teeth you restored my fate
And I raised myself out of the ashes
Now I'm alive in new light
I'm alive in new light




Spätestens nach dem zu Jahresbeginn stattfindenden Konzert im Frankfurter Gibson (signifikant größer als das Bett und trotzdem ausverkauft) lag ich dann leise wimmernd in den Armen der Herzallerliebsten - mit dem gerade frisch vom Merchandisestand erworbenen Album und einem T-Shirt - und alle drei eben erwähnten Komponenten lassen sich übrigens auf dem obigen Bild erkennen. "Alive In New Light" ist, abgesehen von der etwas optimistischeren Ausrichtung, stilistisch immer noch ein lupenreines IAMX Album: sexy, theatralisch, hymnisch; und vielleicht das qualitativ homogenste und hochklassigste IAMX-Album seit dem Klassiker "The Alternative". Und wäre ich erstens nicht so vernagelt gewesen und außerdem zweitens früher auf die Idee gekommen, der Platte eine Chance zu geben, wäre "Alive In New Light" mit (gelbem) Schmackes in die Top Ten gerauscht. 

Blame it on the Flow. Wie immer. 




P.S.: IAMX veranstalten auf der immer noch laufenden "Mile Deep Hollow"-Tournee sogenannte Mental Health Gatherings und spenden die daraus entstandenen Einnahmen Stiftungen und Organisationen, die auf fortschreitende gesellschaftliche Epidemien wie Depressionen, Angstzustände und Suizid aufmerksam machen. 



Erschienen auf Orphic, 2018.

13.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 2 ° Wanderwelle - Gathering Of The Ancient Spirits




WANDERWELLE - GATHERING OF THE ANCIENT SPIRITS



Den härtesten Kampf mit der Leere auf dem virtuellen Blatt Papier und jener im eigenen Kopf musste ich für den aktuellen Jahresrückblick mit "Gathering Of The Ancient Spirits" austragen. Das hat zwei Gründe. Einerseits war ich sehr spät dran: ich schlief für die Erstpressung dieses Juwels den Schlaf der Gestörten und wachte erst auf, als erstens die Preise für das schön anzuschauende gelbe Vinyl in absurde Höhen kletterten, und ich mich zweitens auf den Repress - diesmal auf blauem Vinyl - freuen konnte. Meine anfänglich nur mit wenig Konfetti schmeißende Libido lässt sich indes auch mit dem ausbleibendem Kniefall vor Wanderwelles Debutalbum "Lost In A Seas Of Trees" erklären, das mich im Jahr 2017 offenbar auf einem falschen Fuß erwischt zu haben schien und letzten Endes an mir ähnlich folgenlos abprallte wie kognitives Leistungsvermögen an der substantia alba von Ulf Poschardt. Und bis ich mich unfallfrei dazu entschließen kann, vom falschen auf den richtigen Fuß umzutänzeln, braucht es hin und wieder ein Weilchen.

Andererseits ist da eine gewisse Furcht, in den ubiquitären Chor vom Ambient-Rezensionen einzustimmen, der wie auf Knopfdruck Begriffe wie "Kopfkino" (es wird tatsächlich immer fucking noch verwendet; vgl. "zeitnah") oder Flug-Analogien ausspuckt. Manches braucht nicht nur Zeit, sondern ab und zu tatsächlich auch mal sowas wie einen Gedanken, einen gescheiten noch dazu. Und es braucht die Basis aus beiden: Inspiration.

"Gathering Of The Ancient Spirits" liefert mir auf zu vielen Ebenen eher zu viel Inspiration - und daraus folgen unweigerliche Kapazitätsengpässe im Oberstübchen: wie fange ich an, über diese Musik zu schreiben? Ich habe sowas noch nicht gehört. Und eigentlich habe ich sowas auch noch nie gefühlt. Und hier könnte diese Rezension zu Ende sein.

Das Produzenten-Duo aus Amsterdam widmet sich auf diesem Konzeptalbum den letzten Jahren des Künstlers Paul Gauguin und seinen Reisen in die Südsee. Gauguin brach erstmals im Jahr 1891 in Richtung Tahiti auf, um das in seiner Fantasie ausgemalte unberührte Paradies zu finden, weit entfernt von seiner Heimat Frankreich, weit entfernt von den Sitten Europas. Er schuf dort Bilder und Holzskulpturen, die weniger ein tatsächliches Abbild dessen waren, was er dort sah und erlebte, als viel mehr die Projektionen seiner Vorstellungen und Hoffnungen eines solchen Lebens in Abgeschiedenheit. Als er zwei Jahre später nach Frankreich zurückkehrte und die dortige Bevölkerung seinen Arbeiten die kalte Schulter zeigte, verließ er seine Heimat ein zweites Mal. Dieses Mal sollte er nicht zurückkehren: er starb 1903 auf Hiva Oa, einer Insel des abgelegenen Marquesas-Archipels. Wanderwelle erzählen über das Leben und die Erlebnisse Gauguins in dieser Zeit.

Hier ist die Synopsis zum Album zu finden. http://silentseason.com/ssv13/

"Gathering Of The Ancient Spirits" ist geheimnisvoll. Getrieben. Unheimlich. Und es steht eigentlich ein paar Stufen über fast allem. Stilistisch, weil die Kombination aus Dubtechno, Ambient, Electronica und Tribal so einzigartig ist. Auf der Metaebene, weil die Musik in Verbindung mit den wortlosen Erzählungen über Natur, Kunst, Leben und Spiritualität und dem umwerfenden Coverartwork plötzlich mehr wird, als nur Klang.

Es ist ein Kunstwerk. Und ich bin ehrlicherweise davon überfordert.


Pressung: +++++ (Makellos)
Ausstattung: +++++ (Gelbes/Blaues Vinyl, Gatefold-Cover, ausführliche Liner Notes, großartiges  Art-Design)





Erschienen auf Silent Season, 2018.

01.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 4 ° Earth House Hold - Never Forget Us




EARTH HOUSE HOLD - NEVER FORGET US


"Memories. Because that's what we are, really. Memories." (Penelope Wilton)

Vielleicht liegt's an meiner katholischen Erziehung und der endgültigen Demütigung, gar in der Funktion als Messdiener Gottesdiensten beigewohnt und erwachsenen Menschen beim Ausleben ihrer zerebralen (und immerhin nicht erektilen) Dysfunktion erlebt zu haben, vielleicht ist es der Wunsch nach Vertrautem und am Ende des Tages: nach Sicherheit, Rituale so anziehend zu finden, dass ihre erfolgreiche oder -lose Integration in den Alltag über meine Gemütslage entscheiden können. Und vielleicht kommt es auch mit dem fortgeschrittenen Alter, denn noch vor fünf Jahren wäre das mit der Herzallerliebsten gemeinsame Einnehmen des ersten Kaffees am Morgen wegen unterschiedlicher Prioritäten und daraus resultierendem Zeitmangel unvorstellbar gewesen - heute ist es im besten Fall eine ganze Stunde quality time, die wir für die restliche Zeit des Tages nur selten im Überfluss kredenzt bekommen. Zumal in einem morgendlichen Setting, das einerseits noch so viel Verheißung und Hoffnung auf das, was da heute noch kommen mag verspricht (verbunden mit der nachhallenden Freude darüber, dass es dem "lieben Gott" (Rudi Assauer) offensichtlich noch nicht einfiel, unserer Existenz über Nacht ein jähes Ende zu bereiten), und andererseits noch ohne den nach Feierabend auf Seele und Herz verspritzen Klärschlamm der Lohnarbeit auskommt, der zur Ausführung halbwegs strukturierter menschlicher Interaktion und kognitiver Prozesse bisweilen etwas hinderlich sein kann. 

"Warum erzähle ich ihnen das, Hundskrüppel?" (Polt, o.s.ä.) 

"Never Forget Us", beziehungsweise die Auseinandersetzung mit "Never Forget Us" ist in meinem Emotionszentrum eng mit dem beschriebenen Ritual und den darin gemalten Bildern verknüpft. Das liest sich banal, und ich muss sie enttäuschen: vermutlich werden Sie, werter Leser, das schale Gefühl ebenjenes Banalen auch mit den nächsten Sätzen weder von der Netzhaut noch von ihrem Lebenszeitkonto kratzen beziehungsweise streichen können. Es muss sein, halten Sie sich fest: ein leichter Nieselregen an einem trüben, aber dennoch atmosphärischen topgelaunten und üerraschenderweise hellen Frühlingstag (jetzt besonders stark sein: ich teile diese helle Toplaune nur ganz selten!), eine leichte Brise Petrichor durchs gekippte Fenster, die sich mit dem Duft einer frisch gebrühtem Tasse Kaffee verbindet. Dazu - jetzt wird's final so richtig Punkrock: ein Spritzer Acqua di Parma aufs frischgebügelte und mittlerweile drei Nummern zu große hellblaue Hemd und "Never Forget Us" von Earth Hose Hold auf dem Plattenteller - das Vinyl selbstverständlich in enger farblicher Abstimmung mit der Oberbekleidung, nämlich auch in blau, wenn auch etwas deutlicher ins türkise/petrolige marschierend. Earth House Hold ist ein Alias von Brock van Wey - auf diesem Blog hauptsächlich Stammgast unter seinem Moniker bvdub - und nach langen Jahren des Planens und Wartens endlich auf A Strangely Isolated Place vertreten. 

Ich kann nicht mal sagen, ob sich das eben beschriebene Szenario wirklich eines Tages mal so abspielte; ich meine, wann bitte hat letzten Frühling mal geregnet, "LOL"(Till Schweiger), aber die emotionale Bindung zu dem Moment, der für mich grob unter "pures Glück" abgespeichert ist, ist stark - so stark, dass selbst der dunkle und nasskalte November in die Flucht geschlagen würde. Jedes neuerliche Hören von "Never Forget Us" bringt mich an einen guten Ort. Einen Ort der Ruhe und Kontemplation. Meditation. 

Wie klingt es? Vielleicht tatsächlich wie etwas, was bisher noch nicht zu hören war. In meinem letztjährigen Instagram Beitrag zu "Never Forget Us" schrub ich von atemberaubenden "next level sounds", weil ich die Kombination aus Brocks opulenter Ambientbühne, seinen klassischem Deephouse-Erinnerungen und den typisch souligen Vocalsamples einerseits, und der daraus erwachsenden Atmosphäre aus schwebender Melancholie und funkelnder Euphorie andererseits in dieser Form vorher noch nie gehört hatte. Möglicherweise gibt es aus diesem Grund auch einen Anteil in dieser Musik, der fremdartig erscheint, wie nicht von dieser Welt. Und ebenfalls möglicherweise ist es kein Zufall, eine weitere, eine zweite Platte in dieser einen entdecken zu können. Spielt man "Never Forget Us" nicht wie vorgesehen auf 33rpm, sondern auf 45rpm ab, morpht die Aura des Albums deutlich in Richtung House und entwickelt eine ganz eigene Dynamik, ohne dabei aber auch nur einen Beat der eigenen Identität zu verlieren. Auf links umgekrempelt, aber immer noch derselbe Stoff, aus dem die Träume sind. 





Eine auf mehreren Ebenen außergewöhnliche Platte, die angesichts Brock's bisherigem Schaffen mit der deutlichen Fixierung auf House unter diesem Projektnamen besonders stilistisch überrascht. A Strangely Isolated Place Labelboss Ryan Griffin berichtet, dass er und Brock schon lange über eine Zusammenarbeit nachdachten und nur auf den richtigen Moment warteten, bis Brocks Musik endlich (und erstmals) auf ASIP erscheinen sollte. "Never Forget Us" teilt die Leidenschaft und den Respekt der beiden Männer an den frühen klassischen House-Sound, der sowohl Inspiration als auch Basis für Brocks Musik ist und ist damit die perfekte Ergänzung zum Labelportfolio: Für mich ist "Never Forget Us" ein Gamechanger - ein Album, das in seiner Ausrichtung, seiner Ausstrahlung neues, bisher unberührtes Terrain betritt - im Außen und im Innern. Die Einführung in Brocks Musik mit dem Album "The Art Of Dying Alone" hat mein Leben verändert, und es hat auch neun Jahre später nicht aufgehört. Wie so viele seiner Veröffentlichungen hat auch "Never Forget Us" an meinem Lebensrad gedreht und wenn ich ich die Kamera von hier auf das große Bild aufziehe, dann hat es sich vermutlich schon lange nicht mehr so schnell gedreht. 


Pressung: ++++ (Bisweilen leise Pops, die aber das Gesamtbild nicht stören)
Ausstattung: +++++ (Klappcover, dicke, aber ungefütterte Papp-Innenhüllen, türkisblaues Vinyl. Fantastisches Art-Design)





Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2018.

04.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 8 ° Tocotronic - Die Unendlichkeit




TOCOTRONIC - DIE UNENDLICHKEIT


Auf Dreikommaviernull.de ist exakt ein Beitrag zu Tocotronic zu finden, zu mehr hat es in knapp 12 Jahren nicht gereicht - und das hat Gründe. Meine Haltung gegenüber der Hamburger Indie-Institution war bisher in allerhöchstem Ausmaß mit indifferent noch sehr höflich beschrieben, und mit Ausnahme des hier rezensierten "Kapitulation"-Albums aus dem Jahr 2007 zuckte ich im besten Fall mit den Schultern. Das hat sich 2018 gründlich geändert. Die Zeit war gekommen. 

Ich weilte im Dezember 2017 berufsbedingt für zwei Tage in Hamburg und lag nach dem obligtorischen Besuch bei Michelle Records und der Einnahme eines vegetarischen Burgers im Hotelbett und konnte nicht schlafen. Es folgte ein über Stunden andauerndes zielloses Herumtapsen auf dem Telefon, bis mir plötzlich die Youtube-App das neue Video von Tocotronic vorschlug. Es war der Titeltrack und damit der erste Teaser des im Januar erscheinenden neuen Albums.

Und es traf mich wie ein Blitz.

Es gibt Momente in meinem Leben, die ich mir nicht erklären kann. Momente, in denen Zeit und Raum ausgehebelt erscheinen, in denen oben plötzlich unten und unten plötzlich oben ist. Wenn alles vorher gelernte, geglaubte, fantasierte und manipulierte keinen Sinn mehr macht, das Herz schneller pocht, die Augen weit aufgerissen sind, eine Euphoriewelle nach der anderen durch den Hypothalamus schwappt und das innere Brodeln sich mit Licht und Liebe verbindet. Wenn klar ist, dass solche Momente noch in 50 Jahren glasklar vor einem liegen werden, in der strahlendsten und unauslöschbarsten Erinnerung. So wie ich mich bis heute an den Sprung von der elterlichen Couch auf die Auslegeware vor dem Röhrenfernseher erinnere, als ich zum ersten Mal "Smells Like Teen Spirit" hörte. Dieses Gefühl wieder zu erkennen, wieder zu entdecken, dass dank Lohnarbeit, Schlafmangel, Bluthochdruck und innerem Bleigießen noch nicht alles erstarrt ist - ein Seelenöffner. 

"Die Unendlichkeit" war mir ab der ersten Sekunde ganz nah. Es wurde mehr als nur Musik, es wurde zur Begleitung, mehr noch: zum Lebensgefühl. Wie bereits zur "Kapitulation" wurde ihre Musik mehr als nur Klang und Worte, sie wurde zum Leitmotiv, zur Stütze, zum Ratgeber. Und ich erkannte, dass es vermutlich keine andere Band gibt, die mit ihren Texten eine derart tiefe Verbindung zu mir herstellen kann. Ich verstand sie endlich. 

Ihr Intellekt, ihr Mut, ihre Verletzlichkeit und auch ihre Freundschaft untereinander waren im letzten Jahr eine große Quelle der Inspiration. 


Pressung: +++++ (Tadellos)
Ausstattung: +++++ (Glow In The Dark-Coverartwork, Gatefold, bedruckte Innenhüllen)





Erschienen auf Vertigo, 2018.

22.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 11 ° Submotion Orchestra - Kites




SUBMOTION ORCHESTRA - KITES


Es ist einigermaßen skandalös, dass "Kites" nicht zum endgültigen Durchbruch für dieses britische Kollektiv geführt hat. Auch nach ihrem heute als Klassiker bezeichneten Album "Finest Hour" von 2011, erschien mir die siebenköpfige Band immer etwas unterbewertet und selbst unter dem Radar der eigentlichen Zielgruppe umherirrend. Die Zielgruppe, die ist dabei Legion: alles, was sich in den letzten zehn Jahren zwischen dem eher gemäßigten Bereich des englischen Spezialistenlabels Ninja Tune, Bonobo, dem Cinematic Orchestra und Matthew Halsall's Gondwana Label hin- und herflippern ließ, muss bei "Kites" sogar sehr uneigentlich heiße Tränen der Freude und Liebe weinen - und das sind ja nun deutlich mehr als zwei Handvoll verwirrter Einzelkämpfer. "Kites" ist schwer, tief, melancholisch, ernst - und manchmal auch hörbar schmerzhaft:

"In the two years since ‘Colour Theory’ there have been a number of significant events for us all including new life and family death. We wanted to use these events as creative inspiration so we bought a disposable camera each and took photos based around these events, or the themes that they represented. Once developed, we selected 10 photos to be used as the inspiration for the 10 tracks on the album. Each track explores a different emotion, theme or event. All are honest, relevant and often hugely personal." (Tommy Evans)

"Jahaaa, dann ist's ja kein Wunder, dass die Leute hier nicht hinhören! Ernst, Melancholie, Schwermut, Introspektion - das will doch niemand hören! Die Leute wollen Parteueueueueu! Guck's Dir an: Trump ist Präsident. Klotzehohl, aber die Leute haben Spaß - selbst wenn sie ihn hassen." (Logger P. Eder, knapp zweistelliger IQ, mag Heringssalat aus der Dose)

Die Wahrheit indes lautet: "Kites" inspiriert. Macht den Blick weit, die Gedanken frei. Ist schwärmerisch, voller Wärme und Liebe. Bringt Dich durch die Kälte. 

Ein Breitbandemotikum

Eine meiner meistgehörten Platten des Jahres. 


Pressung: + (Furchtbar, wird dieser wunderbaren Platte nicht gerecht: durchgehende non-fills und Pops, kein sonderlich großes Vergnügen)
Ausstattung: + (Einzel-LP ohne Bilder, Texte, Liners. Keine gefütterten Inlays. Super low-budget, dafür aber relativ günstig zu haben - und mit "relativ" meine ich "Wäre vor 10 Jahren teuer gewesen.")




Erschienen auf SMO Recordings, 2018.

17.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 12 ° Nik Bärtsch's Ronin - Awase




NIK BÄRTSCH'S RONIN - AWASE


"Awase" ist das erste Studioalbum Ronins seit "Llyria" aus dem Jahr 2010 und die erste Veröffentlichung der Band seit der 2012 erschienenen Liveplatte "Live". Seitdem hat sich einiges getan: der langjährige Perkussionist Andi Pupato hat die Band mittlerweile verlassen und folgte damit dem bereits zuvor ausgestiegenen Bassisten Björn Meyer (der 2018 sein fantastisches Solodebut "Provenence" veröffentlichte, dessen Vinylversion durch eine wirklich granatenschlechte Pressung seitens ECM jedoch völlig in den Sand gesetzt wurde). Pianist und Bandleader Nik Bärtsch sagt über die lange Pause, er wollte der Band "Frieden und Raum" für ihre Entwicklung geben, und sie nicht unter Druck setzen. Das ist dem Album anzuhören. 

Dabei ist nicht alles neu, was hier glänzt: "Modul 60" wurde bereits auf "Continuum", dem letzten Werk von Bärtsch's zweiter Formation Mobile, präsentiert. "Modul 36" stammt vom immer noch umwerfenden ECM-Debut "Stoa" und erhält zehn Jahre später eine Neubehandlung, auf der vor allem Neu-Basser Thomy Jordi mit toller Dynamik brilliert, "Modul 34" wurde bereits 2003/2004 geschrieben und wird auf "Awase" erstmals auf einem Tonträger veröffentlicht. Darüber hinaus darf noch eine weitere Neuerung beklatscht werden: erstmals lässt sich auf einem Ronin-Werk eine Komposition des Saxofonisten Sha finden, die dann auch gleich für einen bislang ungeahnten Emotionsausbruch sorgt. 

Die Grundstruktur ihres Sounds hat sich indes nicht verändert. Was Bärtsch schon ab den ersten Häutungen Ronins als "Ritual Groove Music" beschreibt, bleibt auch auf "Awase" eisernes Gesetz: kristallklar, dürr, asketisch in den Kopfnoten, während das Herz Bewegung, Licht, Humor aus hunderten purpur glühenden Kammern in die Lebensbahnen dieser Band pumpt und sich in der Basis mit Lust und Verlangen paart. Nach zehn Jahren mit ihrer Musik und drei erlebten Livehaftigkeiten dieser einzigartigen Formation sind die zentralen Gegensätze ihrer Musik auf "Awase" so gut spürbar wie noch nie: ihre raffinierte Subtilität, die sich in so feinem Nebel über alle Töne und Bewegungen setzt, kurz vor dem Verdampfen in die Ewigkeit auf der einen Seite und ihre Stärke und ihr Mut in der Ausführung auf der anderen Seite, die ganze Kathedralen zum Wanken bringen können. So mächtig und zugleich so diffizil, gespielt mit einer euphorisierten Lässigkeit in zwischenweltlichem Hochgefühl, die meine Ratio bis heute in ungläubiges Staunen versetzt, meinen Körper in einen reflexartig zuckenden Sack voller Schrauben verwandelt. 

Das unten eingebettete Video des live dargebotenen Albumhighlights "Modul 58" werden die besten 20 Minuten sein, die Du dieses Jahr gesehen und gehört hast. Höre, Staune, Siehe und Tanze.


Pressung: ++++ (Schrammt aufgrund eines etwa zehnsekündigen Kratzrauschens am allerletzten Ende auf Seite C haarscharf an der Höchstpunktzahl vorbei - perfekter Klang, tolles Mastering. Dürfen sich meinetwegen auch all die Weini-Weini-Nerdis mal anhören, die der Meinung sind, die Qualität nehme ab 8 oder 18 Minuten pro Vinylseite ab)
Ausstattung: ++++ (Gewohnt tolles ECM-Artwork und -Design, Gatefold, gefütterte Innenhüllen)




Erschienen auf ECM, 2018.

26.11.2018

Vinyl, Motherfucker!

Sehen Sie nur, diese Stilbrüche!(Peter Struck)


Bevor wir im Dezember zu der traditionellen "Neue Scheiße"-Abteilung gelangen - dieses Jahr übrigens wieder mit den "nur" zwanzig besten Alben des Jahres 2018; man muss es ja nicht zu einem noch prätentiöseren Dreck aufblasen, als es eh schon ist - flechte ich hier und heute freudestrahlend und blutkotzend noch einen Hauch "Alte Scheiße" ein. Vom Gedanken, einen neuerlichen Minusrekord hinsichtlich der in den letzten elf Monaten geschriebenen Beiträge zu verhindern, habe ich mich "innerlich" (Jan Ulrich) schon zur Jahresmitte verabschiedet, aber vielleicht fällt der Gebrauch von Psychopharmaka ja geringer aus, wenn ich versuche, das Delta zur Anzahl von Postings aus den vorangegangenen Jahren akzeptabel klein und also "in Schach" zu halten.

Dabei ist's doppelt tragisch, denn wenn ich mir seit Jahren und vor versammelter Bloggergemeinde mit den vielbesungenen "vielen, tollen Ideen" ein Horn laberte, ging es unter anderen "vielen, tollen Ideen" auch genau darum: welche Alben brauchen denn entweder ganz megaultradringend eine erstmalige LP-Veröffentlichung - digital scheißegal, uns ist mittlerweile eh alles schnurz - oder superduperdringend einen Repress, weil die ehemals veröffentlichten Versionen nicht nur ausverkauft sind, sondern darüber hinaus mittlerweile auch noch richtig Asche kosten? Zero World Problems, klar - und vor zwei Jahren, als ich in meiner Funktion als "Se Buckholder of Rogg'n'Olaf" (Die Herzallerliebste) mit der ersten Auswahlliste in Excel begann, wäre das auch noch "a thing" gewesen. Mittlerweile schreibt wohl selbst Familie Fliewatüt sowas in irgendeine gesponsorte und total unabhängige Scheißplattform in diesem Internetz, dafür dann aber auch total ausgewogen im Sinne von Universal und Warner Music. Von Experten für Experten.

Haha! Reingelegt! Heute schreibt doch keiner mehr über Musik!

"Ich streame mir die Haare glatt." (Fips Arschmuskel)

"Solange ich lebe, wird es keine Blank When Zero Songs auf Spotify geben." (Florian Fluppsi, Arzt)

"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihr Premium-Abonnement...was? Falscher Balkon? Sorry @ All, muss wieder weg, Tschö mit Ö!" (Genschman)


Jedenfalls: Ich weiß nix. Merke ich immer wieder. Mein ganzes Getue in unterschiedlichen Genres über fucking Jahrzehnte - alles für den Piepmatz. Daher ist auch der so oft und seit locker 15 Jahren geäußerte Wunsch, das eigene Leben mit Inhalt zu füllen und also ganz vielleicht einen Plattenladen zu eröffnen, komplettes Kokettieren mit dem süßen Hauch des Untergangs, den es gratis und automatisch als Dreingabe gibt, wenn die Gedankensynapsen mal wieder von der Lohnarbeitsleine gelassen werden. Ich möchte gar nicht wissen, welche ultrarare Scheiben schon von mir im Plattenladen und auf Flohmärkten stumpf überblättert wurden. Dafür erinnere ich mich an einen Besuch bei Tommes Records in Stuttgart, in dessen Verlauf mir der Inhaber eine Platte einer deutschen Krautrock-Band aus den 1970er Jahren unter die Nase hielt und mir überlegen lächelnd mitteilte, dass er ebenjenen Titel vor wenigen Tagen aus einer 3-Euro-Kiste vom Flohmarkt herausfischte. Meinen fragenden Blick nebst vehementem Schulterzucken konterte der Mann mit der Feststellung, dass er gedenkt, dieses Exemplar für mehr als das 280-fache des Einkaufspreises zu veräußern - und dass der auserwählte Käufer noch am selben Tag vorbeikäme, um ihm, Tommes, die Ladenmiete für diesen Monat zu überbringen. Es erübrigt sich, gesondert darauf hinzuweisen, dass der feine Herr Dreikommaviernull, selbsternannter Plattensammler mit total relevantem Blog weder Band noch Album kannte, ich hatte gar noch niemals in meinem Leben auch nur den Namen gehört oder gelesen. Für mich hätte es nach dem Durchblättern besagter Schnäppchenkiste vermutlich nur zwei Optionen gegeben:

1. "Puh, nur alte Rotze. Frag' mich ja echt, wer die Scheiße überhaupt kauft."

2. "Whoah, geiiiiiil - die dritte Doro-LP als Picture Disc für nur drei Eu... - achnee, hab' ich ja schon."


Klar ist indes auch: man kann nicht alles kennen. Was ich seit einigen Jahren so nonchalant als "Mut zur Lücke" schönrede, ist in Zeiten von schnellebigem Streamingdreck nebst seiner Algorithmen und dem unheiligen "Einer Million Dummbatzen gefiel die neue Single von Gustav Glücksbärchi - come on and join the Dummbatzes!" aus der Mode gekommen. Selbst in den Genres, in denen ich mich wenigstens nach kritischer Selbsteinschätzung noch ganz gut auskenne, also dem Rock-und Metalbereich ab Mitte der 1980er Jahre bis zum Ende der 1990er Jahre, muss ich die ein oder andere Lücke in der Größe des Mariannengrabens einräumen. So verkaufte ich im vergangenen Jahr im Auftrag einer Freundin etwa 250 Schallplatten aus der Heavy Metal/Speed/Thrash/Death/Progressive-Schublade und dem grob definierten Zeitfenster von 1986 bis etwa 1995, meist Titel, die ich aus dem EffEff kannte, sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Versionen. Zumindest zu Letztgenanntem bleibt mir im Rückblick nur ein mitleidiges Lächeln übrig, denn: I knew shit! Ich stakste über Wochen durch das Plattensammlerportal Discogs wie durch ein Minenfeld aus rohen Eiern und lernte, wie eine an einer einzigen Stelle abbweichende eingravierte Matrixnummer in der Auslaufrille der Schallplatte dafür verantwortlich sein konnte, ob ein Exemplar nun für hundertachtzich oder einsachtzich den Besitzer wechselt.

Was ich mit der wieder mal elendig langen Einlaufkurve sagen will: man erwartet, wie übrigens immer auf diesem Blog, bitt'schön keine Auflistung des Supernerd-Kanons, mit welcher der geneigte Perlentaucher dann lokale Plattenläden abklappert - und besser schon gar keinen alten Scheiß von den üblichen Verdächtigen: im Dickicht oller Pink Floyd, Beatles, Doors und Rolling Stones Pressungen aus drei Miliarden Jahren kompletter Geschmacksverirrung kenne ich mich nicht aus. Und ich möchte mich dort auch nicht auskennen. Das war nie ein Thema für diesen Blog, und es wird auch nie eines werden. Außerdem sei freundlich darauf hingewiesen, dass mir besonders in den letzten zwei Jahren schon so einiger Wind aus den Segeln genommen und meine bedeutendsten Wünsche erhört wurden: "Dogman" von King's X, "Nocturne" von Charlie Haden, "Transmission" von The Tea Party, der komplette Solokatalog des Iron Maiden Sängers Bruce Dickinson wären zu 10000% in den hier folgenden Listen aufgetaucht, mittlerweile haben sie sich alle im Plattenschrank manifestiert. Dolles Ding.

Was es stattdessen geben wird, ist ein banales Wunschkonzert. Ein ganz normales, total weltfremdes Wunschkonzert von einem, der nix weiß, der aber immerhin eine kleine Special Interest-Liste zusammengestöpselt hat.

Als Überbrückung bis zum Jahrescountdown also in Kürze: die zehn am ärgsten erwarteten Kandidaten in den Kategorien "Repress Now, Mofo!" und "First Time Now, Schnakenhals!", aufgeteilt in zwei je fünf Kurzreviews umfassende Beiträge pro Kategorie. Supereinfach.

Und supergeil.


25.08.2018

Die Runkelrübe und der Wattegott




KILLING JOKE - PYLON


Audiophile Supersnobs können mich sowohl zum Lachen als auch zum Weinen bringen - ab und an ist sogar ein schöner Wutanfall drin, wenn die Voodootänze um bei Vollmond geschliffene Tonabnehmersysteme und mit aus dem Erdkern handdestilliertem (sic!) Edelgas gefüllte Lautsprecherkabel all zu hysterisch ausfallen. In den Discogs-Kommentaren zu "Pylon" des britischen Wave/Industrial-Flagschiffs Killing Joke wird die Soundqualität auf der Schallplatte, diplomatisch formuliert: bemängelt, und angesichts meiner zwar mit einigen, in dem noisigen Inferno der Tracks sowieso niemals wahrnehmbaren, Knacksern ausgestatteten, davon abgesehen aber tadellos klingenden Kopie frage ich mich durchaus bisweilen, ob der ein oder andere die derzeit ubiquitäre (und im Kern ja durchaus notwendige) Diskussion um schlechte Pressungen "wie vernagelt" (Polt) am Laufen halten muss und dabei die Musik wegen des ganzen HiFi-Kladderadatsch in den Hintergrund drückt. Schließlich gibt es ja auch noch so etwas wie Klang. Im besten Fall den eigenen, eigenständigen Klang einer Band. Kennt man heute gar nicht mehr, aber er existiert wirklich immer noch. Und er existiert ganz besonders bei Killing Joke. 

Denn "Pylon" hat wie alle Killing Joke-Alben der letzten 15 bis 20 Jahre einen sehr speziellen, zäh pumpenden, schmutzigen Sound, den man natürlich nicht mögen muss, der aber wenigstens für mich eine gewisse Faszination ausstrahlt, und der darüber hinaus auch für das Klangbild, ja: das Selbstverständnis und die Message der Band von großer Wichtigkeit ist. Ganz besonders der Gitarrensound ist eine Sensation, und wer den Beweis dafür benötigt, hört sich das gnadenlos dreckige Riffgebratze in "Dawn Of The Hive" an, das bereits für einige spitze Schreie im Casa Dreikommaviernull verantwortlich war. Ich darf außerdem feststellen, von der grundsätzlichen Qualität des Albums nicht unangenehm überrascht worden zu sein - und eigentlich habe ich "Pylon" nur deshalb kürzlich gekauft, weil ich die Vinylausgabe mehr oder weniger zufällig für schlappe 12 Euro im Regal stehen sah. Für eine seit 36 Jahren und außerdem aus absoluten Vollchaoten bestehende Band klingt "Pylon" nicht nur frisch, sondern auch erfreulich leidenschaftlich und aufrichtig. Selbst die Herzallerliebste ließ sich zu einem hörbar verblüfften "Ich find' die Platte eigentlich ganz gut?!" hinreißen. Und das können wir uns alle mal rot im Kalender anstreichen. 

Dabei kommt es besonders mir sehr entgegen, dass Jaz Coleman weitgehend auf seine geröchelte Runkelrübenstimme verzichtet und stattdessen mit seinem im pathologischen Sinne wahnsinnig klingenden Klargesang melodisch voll durchzieht. Höhepunkte sind in diesem Kontext die in der Schnittmenge von "poppig" und "ruppig" angesiedelten "Euphoria" und "Big Buzz", während sich der kaum aushaltbare Zynismus, der Zorn und die Unberechenbarkeit dieser Band und ihrer Protagonisten, am deutlichsten bei dem unbarmherzigen "I Am The Virus" zeigen, das wie eine Nilpferdfamilie über sämtliche Nervenstränge hinwegtrampelt, wenn es einen auf dem falschen Fuß erwischt. 

Nun habe ich mich seit Jahren von Veröffentlichungen dieser Band absichtlich ferngehalten, weil ich ihr, Achtung, Achtung: persönliche Wahrnehmung ungleich universelle Wahrheit, dieser Blog ist irrelevant, bitte keine Morddrohungen schicken, lieber im 3.Welt Laden ein Pfund Kaffee kaufen! - Ranschmeißen an die Kuttenmetallerfraktion ehrlich gesagt ziemlich eklig fand und ich weiß auch nicht, ob ich als Rosaplüschkönig mit glitzernden Bommelschuhen aus reiner Watte künftig wirklich oft Lust auf solche Musik haben werde, aber für den Moment und bei einer Affenhitze, die mir das Resthirn zunächst wabbelig kocht und anschließend förmlich 'rauskondensiert, habe ich viel Spaß mit "Pylon" - ganz bestimmt mehr, als ich zunächst dachte. 




Erschienen auf Spinefarm Records, 2018.

07.07.2018

Hotel Neon - Means Of Knowing



HOTEL NEON - MEANS OF KNOWING


Pflastersteine aus Eis. Wischen und rutschen durch den darunter liegenden Sand, den Schlick. Vermischen sich, werden eins. Sie funkeln. Das Licht bricht sich an ihren Kanten und es scheint, als würden sich kleine Glühwürmchen aus gefrorenem Wasser in die Luft schwingen, als Überlebende für einen Tag und eine Nacht. Die Netzhaut bitzelt. Die eiskalte Luft schmerzt beim Einatmen. 

---

Hotel Neon ist ein Ambienttrio aus dem US-amerikanischen Philadelphia. Die drei Musiker sind kein reines Studioprojekt, sondern spielen als Band ihre Version von Ambient auch live auf der Bühne, mit Gitarren und Bässen und Synthesizern. Mal fanfarengleich, hymnisch, bebend, mal (meistens) subtil schimmernd und lebhaft reflexiv mit großer Klarheit.

Ihr Ansatz erinnert mich bisweilen an die Australier Seaworthy, ebenfalls ein Trio, die ihr Klangbild in ähnlicher Weise mit analogen Instrumenten zu einem sehr direkt erfahrbaren Erlebnis entwickeln - und die alleine dadurch zu jener Gruppe Musiker gehören, die ihren Klang durch jahrelanges Schärfen, Modellieren und Verkanten so einzigartig gestalteten. Ich kam nicht umhin, mich bereits nach wenigen Sekunden des Titelsongs anerkennend in die watteweiche Couchlandschaft zu kuscheln, weil mich die Raffinesse in diesem Sound, wie es mir auch bei den Werken Stephan Mathieus ergeht, jedes Mal aufs Neue fasziniert. Wenn Gil Scott-Heron sagt, es gäbe sehr wohl diesen einen (richtigen) Weg, das erste Erleben neu erworbener  Musik sehr bewusst und völlig frei von jeder erdenklichen Störung zu genießen, dann nimmt "Means Of Knowing" wenigstens mir die aktive Entscheidung, Türen und Fenstern zuzumauern und das Smartphone ins Klo zu pfeffern, just mit der entwaffnenden Schönheit seines natürlichen, mit Field Recordings zillionenkilometerhoch aufgetürmten und doch flächigen, transparenten Sounds ab.

---

Und dann kommt die Wärme. Verschlingend und verzehrend. Aufopferndes Kämpfen wird niemals belohnt. Doch während das Rinnsal vergangenen Glanzes zu moralischer Trauer zu gerinnen droht, ist im Vergangenen ein neuer Glanz von Aufbruch, von Erneuerung zu spüren. Erkenntnis, Erfahrung, Erleuchtung. Es nimmt nie ein Ende. Alles nimmt nie ein Ende. Wenn das nicht tröstet - was dann?





Erschienen auf Archives, 2018.


30.03.2018

Best of 2017 ° Platz 3: Jordan Rakei - Wallflower




Platz 3: JORDAN RAKEI - WALLFLOWER


Im Oktober des letzten Jahres schrub ich an anderer Stelle über "Wallflower", das zweite Album des gebürtigen Australiers Jordan Rakei werde in der Jahresendabrechnung ganz sicher unter den ersten 5 zu finden sein. Nun ist es tatsächlich die Bronzemedaille geworden - und das ist, wie ich mir just in diesem Augenblick nochmal via Endlosschleife auf dem Plattenteller versichern lasse, nicht nur verdient, sondern sogar das untere vorstellbare Limit. Das ist eine sensationell gute Platte. 

Aufmerksam geworden bin ich auf den mittlerweile in London lebenden Multiinstrumentalisten bereits 2016. Das Coverartwork seines "Cloak" Debuts (erschienen auf Soul Has No Tempo), ein kunterbuntes und geheimnisvolles Gemälde von der kuwaitischen Künstlerin Zaina Al Hizami versprach wenigstens Interessantes - und ich sollte nicht enttäuscht werden. "Cloak" ist ein beeindruckendes Debut und zeigt bereits Rakeis Fähigkeit, aus rhytmisch raffinierten Kompositionen eingängige Refrains zu entwickeln. Fatalerweise war und ist die Vinylpressung von "Cloak" eine der furchtbarsten aller Zeiten, und so gab ich nach drei Versuchen (jeweils bei unterschiedlichen Mailorders bestellt) entnervt auf: die erste Lieferung hatte zwei Mal die A/B-Seite in der Hülle stecken, aber keine C/D-Seite - trotz Laminierung! Was zum Fick? Der zweite und dritte Anlauf sollte die negativen Kommentare auf Discogs bestätigen: ein einziges Kratzen, Schleifen und Springen. Ich habe wirklich noch niemals eine derartig miese Pressung gehört, aber das hält natürlich niemanden davon ab, "Cloak" immer noch zum Verkauf anzubieten. Ganz im Gegenteil, denn mittlerweile ist das Vinyl ziemlich rar geworden und kostet eine ordentliche Stange Geld. Augen auf beim Plattenkauf: so toll die Musik auf der Platte auch ist, ist hier ganz sicher ein anderes Format vorzuziehen. 



Die Vinylpressung von "Wallflower" hingegen ist fehlerlos und damit ganz so, wie man es von Ninja Tune erwarten konnte. Rakei ist mittlerweile zum britischen Spezialistenlabel für modernen Eklektizismus gewechselt und das macht Sinn: seine Musik zeigt Einflüsse aus Jazz, Rhythm & Blues, Hip Hop, Electronica, Soul und Reggae, die er hier noch mehr als auf "Cloak" zu einer homogenen, äußerst stimmungsvoll in Szene gesetzten Melange zusammenfügt. "Wallflower" ist nicht nur ernster und dunkler als der Vorgänger, es zeigt auch einen lyrisch deutlich intimere Seite des Musikers, der unglaublicherweise erst 25 Jahre alt ist: Rakei reflektiert in seinen Texten sein Leben als "Outsider" in sozialen, zwischenmenschlichen Situationen, zeigt sich auf "Wallflower" sehr persönlich und und wollte das auch im Coverartwork widerspiegeln: das Bild des kleinen Jungen mit dem überspannten Regenschirm ist der junge Jordan im australischen Brisbane:

"It's an image that's very personal to my family and me. It's a picture of me that used to sit in our house when we were growing up. Visitors would always comment on it. Because the album is so personal, I wanted to make sure I didn't overcomplicate the artwork. I was focused on portraying as much vulnerability as possible, and this photo definitely represents that."

Das fällt bei der Wohngemeinschaft Dreikommaviernull mit seinen ehemaligen Kindern des Grunge natürlich auf offene Herzen und geradewegs in sanft pulsierende Hosen: wir waren beide derart angetan von dem über Wochen auf heavy rotation laufenden "Wallflower", dass wir uns an einem kalten Novemberabend und nach einem wie gemalt maximal abgefuckten Arbeitstag ins 80 Kilometer entfernte Mannheim bewegten, um gemeinsam mit einer überraschend hohen Anzahl Besucher Rakei nebst seiner Liveband auf der Bühne zu bewundern. Wir würden es jederzeit wieder tun. In a heartbeat. 

Ich habe weiter oben von Rakei's "rhythmisch raffinierten Kompositionen" geschrieben und als Paradebeispiel kann, wenn nicht gar: muss "Sorceress" genannt werden; hier in einer leider nicht optimal aufgenommenen Liveversion aus New York. Es ist jedes Mal aufs Neue verwunderlich, wie prima das alles ineinanderfließt - und wie die Band es schafft, dabei nicht komplett auseinanderzufallen:




Und weil die Performance von "Talk To Me" beim letztjährigen North Sea Jazz Festival so umwerfend ist, gibt es das Video noch als extra Zugabe - auch wenn der Song vom Vorgängeralbum "Cloak" stammt. Was für ein Monsterdrummer das ist.



Erschienen auf Ninja Tune, 2017.