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13.04.2024

Best of 2023 ° Platz 6: Hysterical Love Project - Lashes




HYSTERICAL LOVE PROJECT - LASHES


"I'm free as a bee buzzing around the sky
And I'll drink all the nectar I can hope to buy
And fly 'til I find there's nowhere else to fly"
(Allen Epley)


Miniaturen aus dem Nichts. Sounds für Zigaretten und Kaffee im Schlafzimmer. Für eine einsam brennende Kerze in einem dunklen Raum. Für Umarmungen, die die Sehnsucht und tief empfundene Verbundenheit in eine gemeinsame Schwingung versetzen. Für das Dahindämmern. Für den leeren Blick gegen die Wand. Für Sonnenbrillen in der Nacht. 

Wer die spirituelle Verbindung kennt, die frühneunziger Shoegaze und mittneunziger Trip Hop ins interne Gefühlsdickicht einer ganzen Generation einzuhäkeln vermochte, wird "Lashes" mit seeligem Lächeln ins Herz schließen. Das faszinierende Spiel mit der gegenseitigen Anziehung und einer Intimität, die sich in jenen tieferen Schichten ablagert, in denen Worte nicht artikuliert werden, sondern sich in einer Übersinnlichkeit vereinen, beherrschen Brooklyn Mellar und Ike Zwanikken auf ihrem zweiten Album in beeindruckender Souveränität. 

Betörende Leuchtfeuer-Gitarren, bis in die Exosphäre eindringend und dort dem eigenen Untergang entgegensehen, langsam zerfallend bis nur noch einsame Gasmoleküle ums Überleben kämpfen, ein stoischer Beat für die eisgekühlten Kopfnicker, die Bowery Electrics "Beat" und die lebhaften, aufgeheizten Momente von Portishead in die eigene DNA eintätowiert haben, ein Lo-Fi-Lavasee für die Grundierung, der mehr Skills für das Wegdämmern, die Entzweiung, das Abdriften im Lebenslauf notiert hat als ein frisch aufgebrühtes Tässchen Ketamin - und die weltentrückte Stimme von Brooklyn Mellar, so eisgekühlt wie sinnlich in den Zwischenwelten schwebend, in denen der eigene Rückzug über geheime Kanäle infiltriert und die Kälte zurückgedrängt wird. Ich finde diese emotionale Serpentinenfahrt durch das eigene noch unerforschte Gelände überaus attraktiv.

Immer wenn ich "Lashes" auflegte, hörte ich es mehrere Male hintereinander am Stück. Eine süchtig machende Musik.


 



Erschienen auf Motion Ward, 2023. 


P.S.: Die CD-Auflage war auf lediglich 100 Stück begrenzt und ist mittlerweile ausverkauft, aber es hallen Gerüchte durch die Plattensammlercommunity, dass Planungen für eine Vinylversion aufgenommen wurden - was absolut zu begrüßen wäre.

29.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 1: Eternell - Mira




ETERNELL - MIRA


Meine treuen Leser*innen wissen es seit langer Zeit: Ich schreibe gerne mal irgendeinen Schwachsinn ins virtuelle Tagebuch hinein, sei es, weil ich der irrlichtenden Meinung bin, etwas sei besonders "lusdisch" (Heinz Schenk), kontrovers, deep, iNtElLeKtUeLl oder weil mir schlicht die kognitiven Fähigkeiten für etwas Schlaueres fehlen; und manchmal, wenn der innere Drang nach Vermittlung und Präzision beinahe unaushaltbar intensiv und wie Tazman auf Crack rebelliert und also kurz vor der Kernschmelze steht, folgt ein zwar stilloser aber dafür immerhin leidenschaftlicher Bandwurmsatz nach dem anderen, irgendein chaotisches und zwanzig Zeilen langes, mit Ego und Hybris aufgeladenes kapriziöses Gebläse, für dessen Dechiffrierung man entweder selbst einen veritablen Hirnknick sein eigen nennen oder ein abgeschlossenes Psychologie- und Germanistikstudium im Lebenslauf stehen haben sollte (#schnittmengen) - weil's eben einerseits mit maximaler Begeisterung raus muss und weil's andererseits auch hier am besten mit Verdichtung i.S.v. Konzentrierung gelingt. Wenngleich Konzentrierung in diesem Kontext lediglich bedeutet, so viele Wörter wie möglich in eine halbwegs stimmige Hirnschlagsgrammatik zu pressen, von Inhalten spricht heute ja kein Mensch mehr, und mit Verlaub, manchmal muss man ja fast schon dankbar dafür sein. In diesen so besinnungslosen wie begeisterten Momenten fühlt sich das Komma- und Semikolon-Massaker auch immer total richtig an, aber spätestens wenn die Herzallerliebste nach dem Durchlesen des Textes lapidar kommentiert, den könne ja kein Mensch verstehen oder auch nur verstehen wollen, das sei alles viel zu verschachtelt, kompliziert, unklar und gespreizt formuliert, kommen Zweifel. Zweifel, die mein Innerstes gerne mit einer Mischung aus Arroganz und meinerseits geäußerter Verständnislosigkeit quittiert, denn wer sich nicht mal für fünf Minuten anstrengen will, durch den profunden Wortsalat zu staksen, soll's meinetwegen lassen und gleich RTL2 einschalten. Es ist ein freies Land. Et ce n'est pas mon problème!

"Jetzt...warum sag' ich ihnen das?" (Polt)

Ich schreibe das ganze Gekröse hier so nonchalant hin und rein, weil ich's erstens: kann! Das ist klar. Zweitens aber, und das ist viel wichtiger: ich muss rekalibrieren, resetten, relaunchen. Für das, was jetzt gleich kommt, muss ich Relationen herstellen, Erwartungen zurechtrücken und 16 Jahre weitgehend hilfloses Blog-Gestammel ausbalancieren. 

"Mira" ist der bisherige Höhepunkt im Schaffen des Ludvig Cimbrelius. Der Satz hat angesichts meiner früheren Einlassungen zu seinen Arbeiten Tragweite. Ich weiß das. Und doch verewige ich ihn hier nicht leichtfertig. 

I fucking mean it. 

Es gibt eine kleine Geschichte zu "Mira", und ich schwöre, es ist das letzte Mal, dass ich über den fehlenden Bestenlisten-Countdown des Jahres 2021 lamentiere. Am 23.Dezember 2020 veröffentlichte Ludvig "Cove" als digitales Album auf seiner Bandcamp-Seite. Mehr als zwei Stunden Musik verteilt über fünf unterschiedliche Inkarnationen des Titeltracks, wobei alleine "cove (underwater expanse)" mit über 67 Minuten Spielzeit die längste Version ist. Auch wenn das Album sofort eine tiefgreifende Wirkung auf mich hatte, war meine Bestenliste für das Jahr 2020 schon längst in Stein gemeißelt - aber hey, alles easy: Das Album wurde Ende Dezember 2020 veröffentlicht, "ich werde es einfach in der Aufstellung für 2021 erwähnen." Und weil ich 2021 dann schlussendlich so gar nichts erwähnen sollte, blieb "Cove" - zumindest auf 3,40qm - unverzeihlicherweise auf der Strecke. 

Was nicht auf ebenjener blieb, sondern sogar noch tiefgründiger, enger, emotionaler wurde, ist die spirituelle Verbindung zu dieser Musik. Über die letzten zweieinhalb Jahre entwickelte sich "Cove" zu einem beinahe ständigen Begleiter. Es verging keine Woche, in der ich nicht mindestens einen Titel des Albums spielte, manchmal lief das Album in Endlosschleife über ganze Wochenenden hinweg. Der Klang trifft mich direkt ins Herz. Es ist die friedlichste, hellste, erfüllendste Musik, die ich kenne. Ich schrieb vor einigen Jahren, dass Ludvig ein "fucking Wizard" sei, und wenn es eine erneute Bestätigung dafür benötigte, dann ist "Cove" das vielleicht finale Zeugnis seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten. Ein Klang wie aus Gold. Feinstofflich, kostbar, so luxuriös wie demütig, unmittelbar identifizierbar, selbst bei niedrigster Lautstärke, manchmal nicht mal mehr als ein Geschmack in der Luft, durchdringend, bewegend und von einfach überwältigender Schönheit. 

𝑖𝑛 𝑡ℎ𝑖𝑠 𝑜𝑐𝑒𝑎𝑛
𝑎𝑙𝑙 𝑐𝑜𝑚𝑒 𝑡𝑜 𝑎𝑛 𝑒𝑛𝑑
𝑜𝑢𝑡 𝑜𝑓 𝑡ℎ𝑖𝑠 𝑜𝑐𝑒𝑎𝑛
𝑎𝑙𝑙 𝑎𝑟𝑒 𝑏𝑜𝑟𝑛 𝑎𝑔𝑎𝑖𝑛

Was bislang fehlte, war ein physischer Release dieses Wunderwerks. Und dann kam der Januar 2022 und mit ihm kam "Mira", ein Doppel-CD-Set mit einer Spielzeit von mehr als zwei Stunden, dazu Artwork, Kunst und Logos von Nikita Coulombe, Liz Bratton und Alexander Lux. Sechs Tracks auf der ersten CD, darunter der über 18 Minuten lange Titelsong, die insgesamt einer ähnlichen Klangästhetik folgen wie dem Herzstück auf CD2: neben "cove (presence)", einer für die CD-Veröffentlichung remasterten Version, die Ludvig offenbar ganz besonders ans Herz gewachsen ist - "It seems to touch the core of how alive this music can be for me as it swirls around my inner world." - bekommen wir eine ebenfalls remasterte Version von "cove (underwater expanse)" in voller epischer Länge, Breite, Höhe - und Tiefe. 67 Minuten auraler Sternenstaub. 

Mit dem Release von "Mira" war in Bezug auf das Jahr 2022 klar, was auf diesem Blog passieren würde: hier ist meine Nummer 1. Eingebaut in meine DNA und aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Unentbehrlich. Unersetzlich. 

The Healing Colours Of Sound. 


Vinyl: Bitte gehen Sie weiter, es gibt hier leider nichts zu sehen. "Mira" erscheint als digitaler Download und als exquisite Doppel-CD auf Ludvig's Label LILA लीला:

𝓕oundational to LILA लीला is the view that we are all in this adventure of eternal life together. As a reflection of this, a part of the income from music releases will always be going towards trusty organizations who work towards bringing better conditions of Life to all inhabitants of this beautiful Earth, our home in the Universe. As LILA लीला grows, all parts grow.





Erschienen auf LILA लीला, 2022  

22.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 2: ASC - Original Soundtrack




ASC - ORIGINAL SOUNDTRACK


Wenn ich hin und wieder meiner Bewunderung und Faszination über das Veröffentlichungstempo von Brock van Wey aka bvdub aka Earth House Hold Ausdruck verleihe und mich gleichzeitig frage, wer denn die ganze, pardon: Scheiße kaufen, geschweige denn hören soll, dann haben wir noch nicht mal damit begonnen, über James Clements zu sprechen. Der britische Produzent veröffentlicht seit über 20 Jahren seine Musik unter zahlreichen Pseudonymen und Projektnamen mit einer beachtlichen stilistischen Bandbreite: von seinen Drum'n'Bass und Jungle-Wurzeln über Techno, abstrakte Electronica und IDM bis hin zum Ambient beackert der Mann das weite Feld elektronischer Musik durchgängig mit hochklassigen und universell geliebten Sounds auf den einschlägigen Labels - von denen er selbst Auxiliary nebst etlicher Sublabels (u.a. Spatial) leitet. 

Wo unsereins also schon beim Gedanken an einen durchschnittlichen Workload eines Tages im Leben des James Clements die Dosis Tavor dezent nach oben schraubt, um die einsetzenden Panikattacken in den Griff zu bekommen, macht ASC einfach weiter. Nach zwei Alben unter seinem IDM-Markennamen Comit auf A Strangely Isolated Place (hier ist ganz besonders das Debut "Remote Viewing" sehr empfehlenswert), kehrt ASC mit "Original Soundtrack" auf mein Lieblingslabel zurück - und überrascht erneut mit einer Erweiterung seines musikalischen Spektrums. Waren seine früheren Ambientwerke, nicht zuletzt die legendären Alben auf Silent Season, aber auch die Kollaborationen jüngeren Datums mit Inhmost, geprägt von weiten, ausufernden Klangflächen, mit einem ätherisch auftretenden, oft nur zu erahnenden Puls, ist "Original Soundtrack" nicht nur introvertiert, sondern damit auch ungewöhnlich emotional.

Die Basis von "Original Soundtrack" sind warme, weichgezeichnete und tief ins Klangbild eingebettete Pianoloops, die eine ausgegraute melodische Struktur für die atmosphärische Synthiewatte liefern, die den Vibe des Albums entzündet und die in Zeitlupe entstehenden schwarz-weiß-Bilder zum Leben erweckt. Auch wenn "Original Soundtrack" lediglich für einen fiktiven Film die Musik liefert, ist ihr cinematischer Aspekt offensichtlich. Überblendungen von Detailaufnahmen auf die Vogelperspektive, weit aufgezogene  Kamerafahrten über Landschaften, weite Felder, Flüsse, Wälder; Natur sowieso als wiederkehrendes Leitmotiv, stellvertrend für das Weite, Ferne, Offene, Freie. Es wäre ein Film mit deutlich schwermütigen, elegischen Grundtönen, der Bilder des Zerfalls und des Vergangenen zeigen würde. Mit Trauer und Verlust aufgeladene Reminiszenzen an ein gelebtes und geliebtes Leben, undeutlich und verschwommen - und gleichzeitig so unmittelbar und nachempfindbar, weil die Stimmung sich sofort mit der eigenen Realität und der eigenen Verletzbarkeit verbindet. 

Ich empfand "Original Soundtrack" bereits beim Erstkontakt als ambivalent. Aus der Verbindung der sanften, tröstenden  Pianominiaturen, die das Milieu und seine Struktur mittels Komprimierung greifbar machen können und des weit aufgerissenen Horizonts aus sich stets ausbreitenden Klangflächen entstehen Momente, deren Kolorite so niederschmetternd trostlos und leer erscheinen - und die doch so präzise die Schönheit der Hoffnungslosigkeit und der Unschuld herausarbeiten. Emotional verheddert im Trümmerhaufen aus Erinnerungen, Wundpflastern und einer übergroßen Faszination am Leben, drückt "Original Soundtrack" solange sämtliche Knöpfe bis es einem egal ist, ob's jene für die finale Auslöschung oder die finale Erlösung sind. 

Hingabe, und zwar die totale. 


Vinyl: Error, Error, Error, Send Help. "Original Soundtrack" erscheint als Digipak-CD in klassischer A Strangely Isolated Place-Ästhetik und als Download. 


   



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022. 


05.09.2021

All On The Black




LEYA - WATCH YOU DON'T TAKE OFF

Liebe LeserInnen,

Während ich im Fiebertraum an etwas arbeite, das irgendwann mal die intellektuelle Verdunkelung dieses Blogs mit dem großen "Bad Religion Album-Ranking" fortführen wird, ich muss ja die zweite Jahreshälfte irgendwie rumbringen, beziehungsweise ihr entgegendämmern, gibt es nach dem geborgenen Interview mit The Sea And Cake noch eine weitere Resteverwertung aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben. 

Als Schreibknecht beim Hamburger Tinnitus-Mag zur Mitte der nuller Jahre war ich angehalten, jeder Plattenbesprechung eine Punktzahl anzuhängen und also jede Platte auf einer Skala von 1 (Atommüll-Endlager) bis 10 (Bundespressekonferenz auf Acid) zu bewerten. Aus der etwas diesigen Erinnerung heraus lag mein Notendurchnitt sicherlich deutlich unter sechs Punkten - ich bekam wirklich erschütternd viel Schrott und noch mehr Middle-Of-The-Road-Gerocke zugeschickt; letzteres empfand ich oft als mindestens genauso ärgerlich wie den klar erkennbaren Bodensatz, weil es sich in jenen Fällen irgendwie verbat, emotional einigermaßen aufgewühlt und mit sprachlicher Finesse das eigene Ego zu befriedigen, sich also vermeintlich lustige Analogien und Metaphern einfallen zu lassen. Egale Musik war eben schon immer egal, und ein triviales Schulterzucken macht selbst der beste Comedian der Welt nicht zur guten Unterhaltung. Einen Verriss zu schreiben kann dagegen ein großer Spaß sein, und weil Spaß wirklich die überbewerteste Kernscheiße der Welt ist - guckt euch domma um, in welchem Autounfall wir hier leben, Ihr Assos! - und ich sowieso seit Anbeginn dieses Blogs stets darauf hinwies, gibt's auf Dreikommaviernull auch keine ebenjenen zu lesen. Weder Spaß noch Verriss. If you wanna see juggling, go watch clowns.

Mit Noten von 8/10 oder gar höher, tat ich mir gleichfalls immer schwer. Platten, die damals acht Punkte von mir bekamen, hätten von einem anderen, möglicherweise sagen wir mal: etwas unkritischeren Geist sicher eine 14/10 eingefahren, und um diesen Schwachsinn von Schwachsinnigen etwas auszubalancieren, war ich in der Redaktion als notorischer Tiefwerter bekannt. Ich glaube, ich vergab in den zwei Jahren meiner Mitarbeit an maximal zwei Platten eine 9. 10 Punkte waren eigentlich komplett undenkbar. 

Bis zu dem Tag, an dem ich tief durchatmete und eine 10 vergab. 

Wenn sich heutzutage wirklich noch irgendjemand außer mir dafür interessieren würde und mich also fragte, wie es denn 15 Jahre später damit aussieht und ob ich die zehn Punkte für "Watch You Don't Take Off" auch heute noch verteilen würde, dann müsste ich die Frage verneinen. I have moved on - und eigentlich war ich bereits im Sommer 2006 weitergezogen. Und trotz meiner natürlichen, und ich kann es nicht diplomatischer formulieren, "Skepsis" gegenüber dieser Spielart des im Pathos geradewegs abgesoffenen Indierocks, dem man zu allem Überfluss sowohl seine geografische Heimat als auch die Epoche anhört, in der er entstand, verstehe ich den Typen aus dem Jahr 2006 auch heute noch ganz gut und weiß, warum die Vergabe von zehn Punkte damals unausweichlich erschien. Während ich diese Zeilen schreibe, läuft gerade der Abschlusstrack "All On The Black" und ich bekomme immer noch eine kilometerdicke Gänsehaut. Ich kann mich gegen sowas einfach nicht wehren, das drückt einfach alle, alle, alle Knöpfe. Auch im Jahr 2021: Der blanke Wahnsinn. Wo hat diese Band das bloß hergeholt?

Bleibt mir zum Abschluss noch festzuhalten: entgegen aller völlig logischen Erwartungen, halfen die zehn Punkte von einem kleinen idiotischen Kartoffeldeutschen der Band nicht dabei, den winzigen und wahrscheinlich von einer abgewichsten Promoagentur herbeihalluzinierten "Hype" zu bestätigen. "Watch You Don't Take Off" sollte das einzige Lebenszeichen von Leya bleiben, die Band löste sich wenig später sehr sang- und klanglos auf. Leider erschien das Album nie auf Vinyl und die Chancen stehen denkbar schlecht, dass sich das nochmal ändert, denn viel tiefer untergehen kann eine Platte nicht. Wirklich nicht. Der daraus resultierende Vorteil ist indes, dass die längst gestrichene CD mittlerweile für unverschämt kleines Geld im Internet zu beziehen ist. 

Ich habe für diesen Beitrag meinen Rezensionstext von damals ausgegraben. Vielleicht versüßt die Platte jemandem die wahrlich abgefuckteste aller Zeiten.

--

Leya - Watch You Don't Take Off


Wasserwirbel. Herzensbrecher. Windgeflüster. Ein Album wie aus einer anderen Welt.

Leya sind eine langsam, aber stetig gewachsene Band. Von kleinen, privaten und lokalen Gigs zum Anfang ihrer Karriere im Jahr 2001, über gewonnene Bandwettbewerbe, Support-Slots für Damien Rice und Interpol bis hin zu einem weltweiten Management-Deal und einem Plattenvertrag in 2006 hat sich ihre Karriere stets nach vorne bewegt. In ihrem Heimatland Nordirland gelten Leya als DIE Hoffnung des Jahres und "Watch You Don't Take Off" ist das Album, das Herzen brechen wird. Das Tränen fließen lassen wird. Das den Boden unter den Füßen wegzieht. 

Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich dieser Platte zunächst nicht die volle Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Der Veröffentlichungstermin stand erst in ein paar Wochen auf dem Plan, ich sollte also noch genug Zeit haben mich mit "Watch You Don't Take Off" zu beschäftigen. Dennoch legte ich sie fast instinktiv immer wieder auf, allerdings ohne größere Auswirkungen. Ich sprang weder im Dreieck, noch aus dem Fenster; es schien, als sei das eine "ganz nette Platte" einer "ganz netten Band" mit einer "ganz netten Mischung" aus britischem Gitarrenrock und epischem, ausuferndem  Bombast. Bis zu jenem Moment, als ich während eines weiteren Durchlaufs plötzlich hellhörig wurde. Ach, was schreib' ich da...die Sicherungen sind mir durchgeknallt! Plötzlich fand ich mich mit Textblatt in der Hand vor der enthemmt aufgedrehten Anlage wieder und bekam den Mund nicht mehr zu. "Was machen die denn da? Hallo...? Verdammt, was machen die denn da???"

Das sanfte Piano, das eben noch an der Ecke lehnte und traurig in die Nacht hinein spielte, bäumt sich plötzlich auf. Aus dem Innern schwingen sich immer lauter und immer größer werdende Gitarren empor. Die Violinen breiten ihre überdimensionalen Flügel aus. Das Grollen des Himmels verschlingt das weite Land. Alles ist Eins. Schicht um Schicht legen die vier Musiker immer neue Farben und Gebilde übereinander. Wie ein Maler, der vor seiner großen Leinwand steht und jeden Pinselstrich genießt, der mit jeder Handbewegung, mit jedem Geistesblitz sich selbst und seine Kunst neu erfindet. Ein abgeschlossenes System, das dennoch so offen und frei ist, dass jede minimale Veränderung Auswirkungen nach sich zieht. 

Der Kern aber bleibt. Felsenfest. 

Das Lied, auf das sich diese Beschreibung bezieht heißt "Again" und ist eines von zwei totalen Unglaublichkeiten in einem Meer voller Unglaublichkeiten. "Who are we, where do we come from?" fragt Sänger Ciaran Gribbin und wir können ihn nur ungläubig anstarren und versuchen die warmen Schauer, die er uns damit über den Rücken jagt irgendwie zu kontrollieren. Ha, wir Narren! Hier gibt es nichts zu kontrollieren. Wer etwas anderes versucht, als sich treiben zu lassen geht im Wahnsinn unter.

Sie nahmen mich gefangen. Spielend leicht. Ihre Songs sind wie Raketen, die sich in den Himmel hineinschrauben, ohne jemals zu verglühen. So leicht und schwerelos wie eine Feder, die in einer sanften Brise herumtänzelt und nie den Boden berührt. Ihr Sänger Ciaran Gribbin, ein Künstler, der es mit Leichtigkeit vermag die perfekten Worte, Silben und Melodien an die perfekten Stellen zu platzieren. Der mit einer der grandiosesten und ausdrucksstärksten Stimmen gesegnet ist, die in den letzten zwanzig Jahren Musik veredeln durfte. Seine Hinterleute mit untrüglichem Gespür für den richtigen Anschlag, die richtige Geste. Das Laut/Leise Prinzip in Vollendung. Diese Songs strahlen so viel Herzenswärme, so viel Gefühl und so viel Leidenschaft aus, man weiß gar nicht mehr wohin damit. Dabei hochmelodisch, aber bitte nicht kitschig. Diese Lieder stehen weit über dem Kitsch.

"All On The Black", der letzte der elf Songs auf "Watch You Don't Take Off" und gleichzeitig die zweite totale Unglaublichkeit in einem Meer voller Unglaublichkeiten (siehe oben), setzt den Schlusspunkt und beschließt damit ein geradezu beängstigend rundes, stimmiges und - man traut es sich ja fast kaum zu sagen: perfektes Album. "Some days are right, some days are anything but right. Some days we'll fight, some days are anything". Gribbin holt zum letzten Mal Luft. Legt zum letzten Mal all seine Emotionen in diese Wörter. Und lässt uns zurück. In einer anderen Welt.

10/10


 


Erschienen auf Rubyworks, 2006.

25.07.2021

Sonst noch was, 2020?! (15) - halftribe - Archipelago



HALFTRIBE - ARCHIPELAGO

"Archipelago" hat aus mehreren Gründen eine Erwähnung verdient. Erstens: Das sechte Album des britischen Produzenten Ryan Bisset erschien im März 2020 und damit zur Hochzeit der allgemeinen Verunsicherung rund um das Coronavirus und war für die nächsten Wochen ein tröstender und umarmender Soundtrack. Sowas bleibt. Selbst beinahe eineinhalb Jahre später spüre ich eine besondere Verbindung zu dieser Musik. 

Zweitens: auch ohne die Dramatik aus Zeiten der Pandemie wird vor allem die erzählerische Natur von "Archipelago" offensichtlich, sicherlich subjektiv gespeist aus den Gedanken, die sich um Fernweh und Sehnsucht den Weg in die eigene Realität bahnen. Halftribes Stil hat mich schon ab dem ersten Kontakt mit seiner Musik fasziniert, ich schrieb damals zu "Luxia", seinem Debut für das spanische Label Archives:

"(...) dieser Hauch von intellektueller Kühle und Klarheit in einer ansonsten sehr intimen und weichgezeichneten Umgebung. "Luxia" benötigt keine Rettung aus dem Kitsch, aber es ist gut, ein wenig angedeutete Schärfe zu spüren. Macht klar im Kopf. Befreit den Geist." 

- und "Archipelago" führt diese Linie fort. Bissets Kompositionen und Sounds wirken immer etwas "crisp", sie bilden Kratzer ab, Ermüdung, Verschleiß. Das ist nicht nur charmant, das verschafft seiner Musik auch eine naturalistische Ebene; eine, die nicht nur abbildet, sondern auch kommentiert. 

Und Drittens: die handnummerierte und auf 200 Stück limitierte CD ist ganz in der Tradition des Labels Sound In Silence so wunderbar gestaltet, dass ich mich frage: ist die CD in dieser Form und für diese Musik vielleicht nicht doch das bessere, schönere Format? 

Frage ich Sie! Kann man ja mal drüber nachdenken.

   



Erschienen auf Sound In Silence, 2020.


28.03.2021

Best of 2020 ° Platz 5 ° Shuta Yasukochi & Carlos Ferreira - Quiet Reminders



SHUTA YASUKOCHI & CARLOS FERREIRA - QUIET REMINDERS


The blood drop signifies a rise in the stock
(Thievery Corporation)


Ich adelte "Quiet Reminders" in einer meiner sehr seltenen Reviews auf Bandcamp als das "most soothing and consoling album of 2020" und wenn ich mich außerhalb dieses Blogs zu solchen öffentlich vorgetragenen Meinungsäußerungen hinreißen lassen, handelt es sich um eine durchaus bemerkenswerte Ausnahme. 

Ich schreibe oft davon, dass die ersten Sekunden einer Ambient-Produktion oft den Unterschied für mich machen. Stephane Mathieu ist beispielsweise ein solcher Meister des unmittelbaren Klangs, der mich sofort einnimmt und in die Tiefe abtauchen lässt. Die Arbeiten von Shuta Yasukochi sind in dieser Hinsicht exotisch, weil sie mich zwar zum gleichen Ergebnis bringen, dafür aber ein paar Umlaufbahnen um mein Herz in Kauf nehmen müssen, an denen ich mich zunächst nur schwer entzünden kann. Wie bereits bei seinem Album "Short Stories" aus dem Jahr 2017 hat es auch bei seiner Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Musiker Carlos Ferreira für "Quiet Reminders" etwas gedauert, bis ich den sorgfältig versteckten Eingang in dieses Labyrinth fand. 

Einmal durch diese Tür gegangen und die Schwelle zur Klangwelt auf der anderen Seite passiert, gibt es aber kein zurück mehr. Wie konnte das passieren? 

Ich glaube, die Antwort besteht aus zwei Teilen. Erstens: ich empfinde Yasukochis und Ferreiras musikalische Sprache als sehr bildhaft und assoziativ, sie gibt einen Schaltplan vor, der mögliche Verknüpfungen, Möglichkeiten, Wege und Linien aufzeigt und dem Hörer damit sämtliche Freiheiten in das eigene Zutrauen überlässt. Es folgt ein hochgradig komplexer und spezialisierter Prozess, der Muskeln trainieren, Reflexe anerkennen muss; ganz so, als müssten nach einer Gehirn-Operation bestimmte Körperbereiche und -funktionen wieder neu programmiert, oder besser: rebootet werden. Daran muss ich mich immer wieder zuerst gewöhnen, eine Mischung aus Phantomschmerz und Nachtblindheit. Zweitens: ihre Musik ist in ihrem Schwebezustand auffallend expansiv und wird geflutet von kaum wahrnehmbaren Mikrobewegungen. Die entstehenden Bilder entwickeln mit der Zeit ein Eigenleben, sie bewegen sich mit der Musik, verändern sich, tauchen ab, steigen wieder empor, stellen scharf und verschwimmen. Damit wird der zu beobachtende Raum übergroß und frei, obwohl er doch unter ständiger Kontrolle der beiden Musiker bleibt. Diese Ambivalenz, beinahe eine Chimäre, ist nicht leicht zu verarbeiten, weil sie einerseits überfordert und andererseits komprimiert. 

"Quiet Reminders" lebt von der Auseinandersetzung, von dem Spiel mit diesen Gegensätzen. Und eines Tages wachst du auf und stehst wie selbstverständlich mitten auf dem Spielfeld, angezogen von der Tiefe, belohnt mit der Weite.


         


Erschienen auf Archives, 2020.

15.02.2021

Best of 2020 ° Platz 15 ° bvdub - Ten Times The World Lied



BVDUB - TEN TIMES THE WORLD LIED

It's been so long, it's been so long
(June Of 44)


Mit "Ten Times The World Lied" geht es für knapp 80 Minuten in einen emotionalen Floating Tank. Alle Stressattacken, der Kampf mit der Schwerkraft, Reize wie Temperatur, Lärm und Licht sind perdu. 

In einem Meer aus Ideen und Gefühlen in seiner Musik sind es die außergewöhnlichen kreativen Erfindungen Brock van Weys, die seine Kunst manchmal in einen Bereich katapultieren können, in dem selbst für die ganz Großen die Luft ganz allmählich dünn wird. Das herzzerreißend Sakrale von "The Art Of Dying Alone", die Wucht und Dringlichkeit von "Home", die Selbstisolierung von "Heartless" oder die insomnische Bedrücktheit von "Nights Of Nine Vigils", sowieso eines seiner besten Alben in den letzten zehn Jahren; ein absoluter Skandal, dass ich bislang noch nichts darüber geschrieben habe, brachten mich oft beinahe um den Verstand, ließen mich fliegen, lachen, weinen, frösteln, beben. 

"Ten Times The World Lied" hat sich in über das vergangene Jahr an diese Gruppe angenähert: seit April hat es den CD-Wechsler nicht mehr verlassen und immer, wenn ich das Album hörte, ging mir die Ambiance dieser zehn Tracks ein Stückchen mehr unter die Haut. Mal scharf und grobkörnig verzerrt, mal vernebelt in tiefer Trauer, zaudernd, zweifelnd, auch elegischer als zuletzt, spiegelt dieser immer noch so unnachahmliche Klang mein Inneres, all diese Zerwürfnisse und all diese Verbundenheit, meine Ambivalenz zwischen tief empfundener Lebenslust und sinist'rer Agonie, wie vielleicht nichts anderes. 

Und mit jedem in Schwermut getränkten Pinselstrich erscheint ein Glitzern: die Hoffnung, der Glaube, die Liebe. 

"This album was recorded live in one take, over ten months, on the tenth of each month. Each in memory of a time the world lied." (bvdub)


 



Erschienen auf Glacial Movements, 2020.