THE NECKS - HANGING GARDENS
"Where is the border between composition and improvisation? I think if you’re a good musician, and I hope some of us are, the border is not there anymore. Because if you have feelings, and you’re able to listen to what others do, and if you create a kind of form – and it can be an open form – then you’ve got something. You really don’t know what you’re going to do in the middle, but it happens and it comes to an end and you have a feeling, “Okay, that’s it.”
(Peter Brötzmann)
Vor etwas mehr als 20 Jahren war ich derart kolossal von zeitgenössischer Rockmusik gelangweilt, dass nahezu jede sich öffnende Tür zu neuen musikalischen Räumen als Eintritt in eine neue Welt gefeiert wurde. Alles war Erneuerung, alles war Öffnung, alles war Freiheit. Und alles war gleichzeitig auch dünnes Eis, weil meine Rock-Sozialisation zwar dafür sorgte, alles über Gitarrenriffs, Band-Stammbäume, Langhaarpflege ("Nur die Spitzen, bitte!") und Flanellhemden zu wissen, aber nicht mal den Hauch einer Ahnung zu haben von der Improviation des Jazz, dem Selbstverständnis der elektronischen Musik, den Wurzeln des Hip Hop und sowieso all of the above. Das Neue kam also mit einer Lawine aus Fragezeichen. Und das machte mir Angst, weil ich auf unbekanntem Terrain herumgewirbelt wurde und wortwörtlich nicht mehr wusste, wo oben und unten ist. Ich war kein "eXpErTe" mehr, der den zwielichtigsten Untergrundhaufen aus einer Garage auf Long Island kannte; ich war plötzlich ein völlig planloser N00b. Und wie oft in ähnlichen Situationen ging ich nicht langsam und bedacht ins tiefere kalte Wasser, sondern schaute dabei zu, wie mir Freunde ein Loch ins arktische Packeis sägten und mich anschließend hineinschubsten, meine: ich hatte keinerlei Interesse an einer behutsamen Heranführung, an passenden Einstiegspunkten, an Geschichtswissen. Ich wollte sofort den abstraktesten, abgefucktesten, sperrigsten Scheiß. Eines meiner ersten Elektronikalben war Autechre's "Untilted". If you know, you know. Und wer jetzt anerkennend die Augenbrauen hochzieht, dem sei versichert, hier keinen Raum für Selbstvertrauen und -überschätzung zu finden. Denn ich verstand: Nichts. Null. Zero. All das, was mir jahrelang Magazine wie das Rock Hard oder der Metal Hammer über Rockmusik vermittelten, holte ich mir jetzt mit einer überwältigenden Dosis Demut bei meinen Packeis-Freunden: "S...sag mal, ist das denn alles tatsächlich "komponiert" oder ist das bloß Zufall?" - als ob's darauf ankäme. So bescheuert sich so manche Frage auch anhören mochte, alles half beim Brücken bauen.
Und wie man an diesem schmerzhaft extensiven Prolog zu den Necks erkennen kann, baue ich selbst heute noch an diesen Brücken herum. Dass ein Teil des just verwendeten Baumaterials aus elektronischer Musik besteht und ich ausgerechnet Autechre als Referenz heranzog, mag auf den ersten Blick ein wenig waghalsig bis kokett wirken, denn formal ist das 1987 im australischen Sydney gegründete Trio mit Chris Abrahams (Piano), Tony Buck (Schlagzeug und Gitarre) und Lloyd Swanton (Bass) wohl eher im Jazz als im Elektrogefummel zu verorten. Aber kaum schreibe ich "formal", wird's wieder schnell peinlich, weil was ist denn bitt'schön "formal" bei den Necks? Eben: gar nichts. Außer vielleicht dieser einen Sache: seit ihrem Debut "Sex" aus dem Jahr 1989 verfolgt die Band zumeist einen beinahe schon zeremoniellen Ansatz, indem sie ihre Alben aus einem einzigen, zwischen 50 und 70 Minuten dauerndem und improvisiertem Stück formt. Es gab zwar hier und da ein paar Ausnahmen, und seitdem das Trio im Rahmen des Vinyl-Booms damit begann, auch Schallplatten zu produzieren, sind diesbezügliche Öffnungen häufiger geworden, aber das war (und ist) wenigstens eines ihrer Markenzeichen.
Stilistisch ist hingegen seit der Stunde Null alles im Fluss. Ist es Jazz? Ambient? Electronica? "Schonmal was von Schnittmengen gehört?" (Pispers), jedenfalls: was Schlagzeuger Tony Buck auf "Hanging Gardens" abzieht, könnte die selbe Frage wie seinerzeit bei Autechres "Untilted" provozieren, nur improvisiert hier ein Mensch auf einem echten Schlagzeug - was am Ende des Tages die ohnehin nicht von besonderem Intellekt bestrahlte Zielrichtung der Frage "Komponiert oder Zufall?" noch sinnloser macht. Bucks filigrane Schlagzeugarbeit im Allgemeinen und die Percussions im Speziellen sind komplett irre und mir fehlt auch nach nunmehr drei Jahrzehnten als zugegebenermaßen sehr unterdurchschnittlicher Musiker immer noch jedes Verständnis dafür, wie das geht. Die Technik ist das eine - und nur, damit wir uns richtig verstehen, auch dazu fällt mir freilich nur sehr wenig ein - aber diesen Instinkt, die Auffassungsgabe, das Nachverfolgen und Umschalten in Sekundenbruchteilen zu beobachten und damit selbst so tief in dieses Gestrüpp einzutauchen, bis man in gewisser Weise selbst ein Teil dessen wird, ist das andere.
"The concept of The Necks is to not really know where we’re going. To have the music unfold while we’re doing it. And for us to react to that unfolding while it’s happening, and for that feedback to happen. And so the music is being constructed whilst being informed of itself as it’s happening, so to speak. I mean, we don’t ‘trial’ things really. You know, we play.“ (Chris Abrahams)
"Hanging Gardens" basiert im Grunde auf einem simplen Basslauf und einer ebenso simplen Pianofigur, um die mehrere Ebenen Schlagzeuggezischel und Trommeltürme drapiert werden, die alle gemeinsam über den Verlauf der 60 Minuten immer wieder an sehr subtilen Perspektivwechseln arbeiten, ohne dabei das hypnotische, meditative Element der Musik zu stören. Bassist Lloyd Swanton verglich diesen Effekt einmal mit einer sehr langen Autofahrt, auf der man die Veränderungen in der Landschaft im jeweiligen Moment nicht erkennt, bis man nach 30 Minuten der Ablenkung wieder hochschaut und feststellt, dass sich draußen plötzlich alles verändert hat; die Modulation wird also fast immer nur im Rückblick wahrgenommen. Es gehört zu den großen musikalischen Glücksmomenten meines Lebens, diesem Grad der Verdichtung nachzuspüren, weil es Auseinandersetzung und Vertiefung voraussetzt. Vielleicht braucht's gerade in Zeiten des ständigen Getöses und Dauerfeuers auch den Willen zum Rückzug und zur Vereinzelung. Die Necks nehmen Dich gerne in ihren Zirkel auf.
Vinyl und so: Die Band hat ab 2011 damit begonnen, neue Musik auch auf Vinyl verfügbar zu machen. Die vor 2011 erschienenen Alben gibt es allerdings bis heute nur in den Originalversionen auf CD und mir liegen keine Informationen vor, ob die Necks Pläne haben, diesen Umstand zu ändern. Ich verstehe, dass einige Fans reflexartig nach einer Veröffentlichung auf Vinyl krähen, und im Falle eines Falles krähe ich hier und da auch mal gerne mit, ob es angesichts der oft einstündigen Tracks allerdings so erstrebenswert ist, die Trance ihrer Stücke zu unterbrechen, um die Platte umzudrehen, darf wenigstens bezweifelt werden. Würd' ich's trotzdem kaufen, wenn die Schallplatten kommen? In a fuckin' heartbeat!
Weiterhören: "Aether" aus dem Jahr 2001 und "Silverwater" von 2009.
Erschienen auf Fish Of Milk, 1999.














