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17.11.2024

"Da lässt sich noch einer Zeit für Bilder."




FLOATING POINTS, PHAROAH SANDERS 
& THE LONDON SYMPHONY ORCHESTRA - PROMISES


"You have to protect people from incompetent people" (Robert Sapolsky)


DAS Hipsteralbum des Jahres 2021. und zugleich: DAS vereinende Musikalbum des Jahres 2021. 

In Zeiten, in denen vornehmlich die Boomergeneration nur zu oft und - Distinktionsgewinn olé: zu gerne - den Abgesang auf die wahre, echte, schöne alte Musikwelt anstimmt, also die wahre, echte, schöne Auseinandersetzung mit wahrer, echter, schöner Musik in endlosen Kopfhörersessions im wahren, echten, schönen Ohrensessel, bei einer guten Flasche Eigenurin und einem guten Stück Haifischknorpel, weil die nachfolgenden Generationen alles, aber auch wirklich ALLES anders und damit, logo: schlechter machen als es die alten "Furzknoten" (Lagerfeld) es vor circa einer Billion Jahren taten, und das fragile Ego damit nun wirklich überhaupt nicht umgehen kann, produziert die Elektronik-Zaubermaus Sam Shepherd aka Floating Points mit dem Saxofonisten Pharoah Sanders wie es scheint mit links eine Jazz-, Ambient- und Klassik-Platte, deren Ankunft von Menschen jeder Altersgruppe wie der neue Heiland gefeiert wurde - und weiterhin wird. Selbst wenn jene Menschen mit Jazz, Ambient und Klassik zuvor soviel an der Frisur hatten wie H.P.Baxxter mit Atomphysik, Körperhygiene und Frauenrechten.

Über insgesamt neun sogenannte Movements spannt das Duo im Grunde ein einziges Motiv; das ist die Lebensader von "Promises". Und sowohl Sanders, als auch im weiteren Verlauf das London Symphony Orchestra, bleiben über die gesamte Spielzeit in ihrer Nähe, oszillieren, treiben, schweben, drehen und winden sich mit dieser kleinen, so unscheinbar wirkenden Welle aus gerade mal acht Tönen in ein minutenlang aufgeschichtetes Crescendo und sacken gemeinsam wieder ins nächste Diminuendo ab, bis die Intensität schnurstracks auf die Kernschmelze zukriecht. 

Und wenn der Mythos tatsächlich stimmen sollte, dass heute also wirklich niemand mehr so richtig zuhört oder zuhören kann, weil die Aufmerksamkeitsspanne so gering und der Druck so mächtig sind, dann ist's vermutlich genau das: ein Mythos. Denn - Achtung, der Ohrensessel naht - im Prinzip kommt hier nur so richtig dahinter, wer sich auf "Promises" mit Haut und Haaren einlässt. Den Bewegungen folgt. Sich treiben lässt. Die Kontrolle verliert. Und langsam....ganz langsam...in Richtung Ausgang schwebt. 

Angesichts des Erfolgs dieses Projekts, schweben vielleicht mehr im ergiebig-positiven Kontrollverlust umher, als das Narrativ der im Ausnahmezustand delirierenden Generation uns Glauben machen will. 

Was ich sagen will: Hoffnung für Alle. 

     

Vinyl: Die Erstpressung war sehr schnell ausverkauft, und weil davon irgendwie so ziemlich alle überrascht waren, dauerte es fast ein halbes Jahr, bis die nächste Edition in die Läden kam. Hübsches die-cut Cover, 12"-Inlay, schwarzes Vinyl. Es gibt viele gemischte Reaktionen zur Pressqualität, von "totalem Schrott" bis hin zur "bestklingenden Platte aller Zeiten" ist alles dabei, und ich möchte mich mit meinem Exemplar etwa in der Mitte platzieren. Ich bereue den Kauf natürlich nicht, aber "spektakulär" geht eventuell ein bisschen anders.


            


Erschienen auf Luaka Bop, 2021. 

28.07.2024

Sonst noch was, 2023?! - Gesammelte Werke




"Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
You're having a private experience
Nobody's mad at you
Nobody's mad at you
Nobody really gives a fuck"
(Neal Brennan)


Ich schwör': ein allerletztes Mal gibt's den Blick zurück ins Jahr 2023. 

Danach...ohjehmine und spoiler alert: geht er sogar noch ein paar Jahre weiter zurück. 


Machen wir also jetzt final den Deckel auf 2023, is' ja auch schon bald August. Grundgütiger.


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EARTH HOUSE HOLD - HOW DEEP IS YOUR DEVOTION


Eigentlich war diese Werkschau von Brock van Wey's Earth House Hold-Projekt für lange Zeit meine Nummer 1 des Jahres 2023, bis ich mich schlussendlich dagegen entschied, eine Compilation in die Bestenliste zu wuchten, noch dazu auf die Spitzenposition. Dann ist es allerdings heute umso wichtiger, über "How Deep Is Your Devotion" zu sprechen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist es 10 Uhr an einem Sonntag im Juli 2024. Es ist sonnig, aber glücklicherweise nicht zu warm. Das Fenster ist sperrangelweit offen und in Sossenheim herrscht eine Ruhe, wie ich sie als Kind von den sommerlichen Besuchen bei meinen Großeltern im pfälzischen Nirgendwo kenne. Man spürt das Nichts mehr, als dass man es hört. Es duftet nach schwarzem Kaffee mit einem Hauch Bergamotte. "How Deep Is Your Devotion" läuft, und ich wünsche mir, dass die Zeit stehenbleibt. Die Entwicklung zu verfolgen, die Brock über die vier EHH-Alben auf die muskalische Leinwand gezaubert hat, das Abdriften eines so oder so schon sehr speziellen Deep House-Ansatzes in eine immer weiter gedehnte, dekonstruierte, eigentlich sich in Auflösung befindliche Version mit solch skurriler Schönheit und mehr versteckten, vergrabenen, vernebelten Zwischentönen, als ich jemals hören könnte, ist das Eine. Das andere ist, dass man sich wünscht, diese Musik würde nie enden. Dieser Moment würde nie enden. 


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.



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FILM SCHOOL - FIELD


Shoegazing in LA. Das kalifornische Sextett um Bandgründer und Chef im Ring Greg Bertens fiel mir erstmals mit ihrem zweiten Album "Film School" im Jahr 2006 positiv auf, und ich bin hocherfreut, dass die Truppe über die ganzen Jahre durchgehalten hat - das gilt umso mehr, wenn noch so starke Platten wie "Field" in ihren Herzen und Köpfen schlummern. Wer vom aktuellen Slowdive-Album auch so enttäuscht wurde, darf schon mal entspannt das nächste Tütchen drehen: "Field" ist ultrakompakt komponiert, hat einen guten Drive und trotzdem soviel Tiefe, dass einem Songs wie "Up Spacecraft" oder "Don't You Ever" (mit einem 1995er Monster Magnet-Gedächtnisriff) sofort unter die Haut kriechen.


 



Erschienen auf Felte, 2023.



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RAY ALDER - II


Soloalben sind immer so eine Sache. Eigentlich stehen sie schon ab dem Moment der Ankündigung ein paar Stufen unter dem Output der Hauptband. Das Solodebut von Fates Warning-Wundersänger Ray Alder "What The Water Wants" aus dem Jahr 2019 war im Rückblick und abgesehen von Alders gewohnt brillantem Gesang eine Enttäuschung. Zu zahm, zu oberflächlich, und irgendwie auch zu egal. Folglich waren meine an "II" geknüpften Erwartungen von leichter Unterkühlung geprägt, aber siehe da - "II" ist um Welten besser als das Debut, ist zu gleichen Teilen emotionaler als auch heavier. Insgesamt inszeniert Alder seine Musik natürlich gradliniger als im Kontext von Fates Warning, und sein immer noch vollkommen intaktes Gespür für einnehmende Gesangsmelodien im Zusammenspiel mit bisweilen satt tiefergelegtem Unterwasser-Riffing, erzeugen ein ums andere Mal echte Überraschungsmomente. Das gilt mittlerweile nicht mehr für Alders Gesangsleistung: man erwartet Übermenschliches - und das bekommt man dann auch. Weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, aber das hat er nun davon, so fucking gut zu sein. SO FUCKING GUT!


 



Erschienen auf Inside Out, 2023. 



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DANNY PAUL GRODY - ARC OF DAY


Und nochmal Kalifornien, dieses Mal San Francisco. Sein Album "In Search Of Light" aus dem Jahr 2011 hatte ich seinerzeit als "Sorgenbrecher" bezeichnet, und seine Musik ist auch 13 Jahre später noch immer genau das. Ich hatte es leider versäumt, über sein 2021er Werk "Furniture Music II" zu berichten, das mir in der Pandemie Hoffnung und Licht ins Sossenheimer Outback brachte, aber das passiert mir nicht nochmal. Die Ruhe und die Kontemplation, die vom inneren Kern von "Arc Of Day" ausstrahlt, macht mein Leben besser. Ich schmecke die Luft an der US-amerikanischen Nordwestküste, spüre den Sand zwischen den Zehen, die Sonne auf der Haut. Eigentlich ist das Psychotherapie, nur ohne Reden. Zuhören sollte man aber. 





Erschienen auf Three Lobed Recordings, 2023.



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AYAAVAAKI & PURL - ANCIENT SKIES


Purl sagte kürzlich über "Ancient Skies", es sei eine der einzigartigsten Platten, die er je aufgenommen hat - und wer sich darüber im Klaren ist, wie viele Alben dieser Kosmopolit schon veröffentlichte und wie bescheiden er für gewöhnlich auftritt, mag erahnen, wie wichtig ihm ausgerechnet dieses Werk ist. Gleichzeitig kann der Eindruck entstehen, "Ancient Skies" sei ein wenig vom Radar der Ambientfans gerutscht und damit also unterschätzt und/oder übersehen - und das muss ich für meine Wenigkeit leider bestätigen. Es gibt einfach viel zu viel Musik und das Leben raubt mir viel zu viel Zeit - und dann legt Purl eben noch immer ein atemberaubendes Veröffentlichungstempo vor. Hinzu kommt: "Ancient Skies" ist in der (digitalen) Orginalfassung fast zweieinhalb Stunden lang, und einfach zu hören ist das nicht unbedingt. "Ancient Skies" ist einerseits dramatisch und opulent, andererseits spielt sich so viel unter den hörbaren Schwingungen dieser Musik ab, ist subtil, manchmal mystisch. Wenn der halbe westliche Planet damit beschäftigt zu sein scheint, das durchs Social Media-Dauerfeuer schön herangezüchtete ADHS zu füttern, erscheint es lohnenswerter denn je, sich einfach mal für zwei Stunden auszuklinken. 

Hinweis: die Doppel-LP hat lediglich acht (statt vierzehn) Songs in zum Vergleich zur digitalen Version editierten Fassungen.


  



Erschienen auf LILA लीला, 2023 




23.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Pablo Bolivar & Nacho Sanchez - Distances




PABLO BOLIVAR & NACHO SANCHEZ - DISTANCES


"Don't let the voices in your head stop you from feeling free." (Rick Rubin)


Achtung, Achtung! Unkontrollierte, unreflektierte Lobhudelei incoming - und ich schäme mich nicht mal. Einfach nur ganz viel Liebe für ein umwerfendes Album. Es gibt im Prinzip auch nichts anderes zu berichten.

Aber so manches geht eben übers Prinzip hinaus und wenn ich jedes Mal nach dreieinhalb holzig formulierten Sätzen den Reviewladen wieder verrammeln würde, hätten wir zwar alle gemeinsam mehr Gehirnzellen übrig, aber ich kann darauf keine Rücksicht nehmen, man mag's mir bittschön nachsehen. Ich bin außerdem der Auffassung, dass "Distances" viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält und erhielt und das muss sich ändern. Musikrezensionen sind nun wirklich nicht mehr en vogue, und in Zeiten, in denen die meisten Mailorder schlicht den mitgelieferten Promotext copy/pasten und es irgendwie als redaktionellen Inhalt aussehen lassen, ist es ja auch viel zu anstrengend, die eigenen Gedanken mal Gassi gehen und sie an die nächste Straßenlaterne strullen zu lassen. Und wer soll's denn in Gottes Namen auch lesen, "jetzt bleiben se mal ernst!" (Pispers)

Wo es doch vor allem gehört werden muss. 

Mir ist das alles egal, es muss einfach raus. Dabei wäre mir "Distances" beinahe wieder durch die Lappen gegangen. Pablo und sein großartiges "Seven Villas" Label waren schon einige Male zu Gast in meinem literarisch gefluteten Kellerverlies der ästhetischen Absonderlichkeiten, unvergessen beispielsweise "Details Am Rande" mit seinem Buddy Sensual Physics aka Jörg Schuster - aber obwohl ich in Fällen, in welchen ich aufgrund vorangegangener Verdienste bereits den prunkvollen Loyalitätstempel gebaut und sogar mal feucht durchgewischt habe und also ganz besonders aufmerksam bin, erfuhr ich von "Distances" gar so spät, dass die auf nur 300 Stück limitierte Vinylausgabe in den einschlägigen Mailordern entweder bereits ausverkauft oder aber so unfassbar fucking teuer war. Nun habe ich grundlegend nur eine schwach ausgeprägte Impulskontrolle hinsichtlich neuer Schallplatten - Geld muss weg und das letzte Hemd hat keine Taschen, es stimmt, stop your internal dialogue - aber bei 50 Euro pro Exemplar bekomme ich einen Schlaganfall (Jochbeinbruch,  Nasenbluten). Erst vor wenigen Wochen bekam ich endlich die Gelegenheit, "Distances" mit seinem wunderbaren Coverartwork und dem violett-weiß-marmorierten Doppelvinyl für einen Preis zu ergattern, bei dem ich mich nicht selbst vollkotzen muss. Und damit wir uns richtig verstehen: für die volle Experience braucht's einfach die Schallplatte. 

Verliebt hatte ich mich in diese so introspektive und doch so leb- und bildhafte Musik jedoch schon sehr früh nach dem Erstkontakt über die Nullen und Einsen der digitalen Welt. Der Verbindungsaufbau in den Emo-Maschinenraum erfolgt unmittelbar, weil da so viel Vertrauen aus dieser Musik entspringt. Zumindest dieser Teil funktioniert also auch ohne den ganzen prätentiösen "Vinyl hier, Vinyl da"-Scheißdreck. Kann man mal sehen! 

In Spannungsdreieck von Deep House, Ambient und Dubtechno setzt "Distances" ein ganzes Rudel bekiffter Ausrufezeichen, und es hätten viel, viel mehr Menschen mitbekommen sollen. Die beiden Produzenten Pablo Bolivar und Nacho Sanchez zollen auf ihrer ersten gemeinsam gestalteten LP den beiden großen Fixpunkten Detroit und Berlin Respekt und haben einen expansiven Ballungsraum für die entsprechenden Spielarten erschaffen, der zu gleichen Teilen den bereits erlebten wie auch den kommenden Zeiten Beachtung und Anerkennung schenkt. Ein sich ständig neu konfiguriendes Kaleidoskop aus Klang, Bedeutung, Farben und Emotionen. 

"Distances" liefert mystische Science Fiction-Vibes, zaubert Vernebelung im Deep Space, schleudert Kältedruckwellen und purpur-glühende Lichtfäden in den freien Raum, die sich unter Langzeitbelichtung in der Atmosphäre einbrennen und dort Wegweiser und Monument sind. Ein majestätisch und bedächtig durch die Zeit treibendes Generationenschiff mit Bewusstheit und -sein für den Kontext der frühen Meisterinnen und Meister, und verstandenem Auftrag für das Übermorgen. 

Immer daran erinnern: Akustische Levitation ist möglich.


 


Erschienen auf Seven Villas, 2023. 

01.06.2024

Sonst noch was, 2023?! - Radio Citizen - Lost & Found




RADIO CITIZEN - LOST & FOUND


„Ich habe nicht einen einzigen Sklaven in Katar g‘sehn. Die laufen alle frei ‘rum.“ (Franz Beckenbauer)


Fast aus dem Nichts erschien im Frühjahr 2023 diese Zusammenstellung von Niko Schabel's Radio Citizen Projekt, das von Mitte der nuller bis in die zehner Jahre hinein einigen Staub aufwirbeln konnte. Vor allem das umwerfende Debut "Radio Serengeti" aus dem Jahr 2006 (erschienen auf Ubiquity Records) mit den Hits "The Hop" und "Birds" versüßte mir so einige Tage und Nächte in meiner Wiesbadener Hood, und auch der Nachfolger "Hope And Despair"null war nach der sich aufgrund leicht angezogener Komplexität zeigenden Eingewöhnungszeit ein totales Highlight. Danach verlor ich Radio Citizen unerklärlicherweise aus den Augen, vielleicht einhergehend mit meinem sich immer stärker zeigenden Hang in Richtung Ambient und Dubtechno. Irgendwas rutscht ja immer vom Radar und hinterher hat man dann den Salat. 

Auf "Lost & Found" stehen zehn bislang unveröffentlichte Tracks, die sich an genau jenem Sound der ersten beide Alben orientieren: eine betörende, unwiderstehlich groovende Mischung aus krautigem Soul und Funk mit jazzigen Nuancen und einem freien, urbanen Electronica-Vibe. Wie schon auf den früheren Alben setzt Sängerin Bajka die prominentesten Akzente in diesem so breitbandig inszenierten, an allen Ecken und Enden brodelnden Sound: ihre an Jazzgrößen wie Nina Simone erinnernde Stimme hat soviel Tiefe und Charisma, ihre Phrasierung soviel Einzigartigkeit, dass sich damit praktisch jede gespielte Note in jene Sphären schrauben lässt, die üblicherweise nur von echten Legenden bewohnt werden. Auch die instrumentalen Songs wie beispielsweise "Mountains" lassen mich mit smarten Arrangements und den akzentuierten Dynamiken für verdiente Standing Ovations auf den Wohnzimmertisch klettern. "Lost & Found" ist eine der schönsten Überraschungen des letzten Jahres. Ich weiß nicht, ob man diesen Sound im Kontext der musikalischen Entwicklungen der letzten Jahre mittlerweile schon anachronistisch nennen darf, aber in meinem Buch klingen diese Songs - auch wenn sie einige Jahre auf dem Buckel haben dürften - immer noch frisch und sind mit ihrer funkensprühenden Lebendigkeit absolut zeitlos. 

Eigentlich bin ich geneigt zu sagen: wir brauchen heute mehr denn je genau diese Vibes. Herr Schabel, bitte übernehmen Sie. Ich bin bereit für mehr. 





Erschienen auf Rauschen Records, 2023.

19.05.2024

Best of 2023 ° Platz 1: Mikkel Rev - The Art Of Levitation




MIKKEL REV - THE ART OF LEVITATION


“I’m sorry to put ‘Ambient’ in quotation marks all the time, but for me in ‘Ambient’ music, everything is possible, and the word ‘Ambient’ does not match all the musical possibilities we have within the music we do nowadays.” (Pete Namlook)


Es gibt Alben, die hinterlassen schon beim Erstkontakt den Eindruck, als würde ich sie schon mein ganzes Leben lang kennen. Was genau in solchen Moment passiert, ist mir bis heute verborgen geblieben, aber irgendeine Tangente zum Erlebten, Erträumten, Erhofften baut sich auf, eine Verbindung ins tiefere, vielleicht unbewusste Ich. Solche Platten weichen mir fortan nur noch selten von der Seite. Sie müssen nicht "erarbeitet", nicht mehr dechiffriert werden. Ihre Wirkung ist klar und unmittelbar. 

Es gibt Alben, die schon nach kurzer Zeit auf den Olymp klettern. So früh jedenfalls stand die Nummer Eins des Jahres selten fest. Schon als "The Art Of Leviation" vom norwegischen Produzenten Mikkel Rev im Frühjahr des vergangenen Jahres seine ersten Kreise durch mein Leben zog und sich die ersten Nervenbahnen miteinander verschweißten, wusste ich, dass hier wohl nicht mehr viel dran vorbeikommt. Und heute, ein gutes Jahr später, zeigt sich: es kam nichts mehr dran vorbei. 

Und dann gibt es Alben, die mich so tief in die Emotionskammer treffen, die solch überschwängliche, beinahe schon rauschhafte Zustände erschaffen und irrationale Momente der Euphorie entwickeln. Manchmal führen diese sehr eindrücklichen Erlebnisse dazu, jenen Alben mit einer merkwürdigen Form der Ehrfurcht zu begegnen. In den letzten zwanzig Jahren erlebte ich ähnliche Situationen beispielsweise mit "Frances The Mute" von The Mars Volta. Oder mit "Geisterfaust" von Bohren Und Der Club Of Gore. Das Gefühl totaler Euphorie, solche Musik hören zu dürfen und dabei eine solch tiefe Verbundenheit zu spüren; so als hätte man just den Code für ewiges Leben geknackt, den Pfad zu den aufgestiegenen Meistern entdeckt, das dritte Auge geöffnet. Es wird zur raison d'etre, zum neuen Fixpunkt. Ich klammere mich an solche Augenblicke mit allem, was ich habe. Ich möchte das nicht nur spüren können, vollständig und bis in alle Ewigkeit, ich möchte das auch nie wieder verlieren. Die beiden oben genannten Alben würden von mir auch heute noch als absolute Sternstunden meiner Laufbahn als Musikbesessener bezeichnet werden, selbst wenn ich sie praktisch nicht mehr auflege. Die Furcht davor, bei jeder neuen Auseinandersetzung dieses frühere Hochgefühl aus den Händen gerissen zu bekommen, sei es vielleicht weil es der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt ist, irgendeine Laus, die mir über die Leber gelaufen ist oder der Mond falsch steht, ist real - und zugegeben, es ist schon einigermaßen balla-balla. 

Ähnlich erging es mir mit "The Art Of Levitation": nachdem mich diese Musik an jene so weit entfernt liegenden Orte trug, mich so gefangen nahm, ja geradezu erschütterte, ließ ich sie einfach mit diesen Eindrücken stehen, so wie sie war. Das war meine Nummer 1 des Jahres 2023. Case closed. Ich lasse mir das nicht mehr nehmen.

Nun ging es aber daran, wie immer "pünktich" im Mai 2024, all das in Worte zu kleiden. Dieser Faszination Ausdruck zu verleihen, im besten Fall so formvollendet ausformuliert, dass meine werten Leserinnen und Leser keine körperlichen Schäden davontragen, wenn die Netzhaut mit derlei Gedanken belichtet wird - und so fand "The Art Of Levitation" nach einigen Monaten der Stille erneut den Weg auf den Plattenteller. Tief durchatmen. Allen Mut zusammennehmen. Es geht hier ja nicht um Leben und Tod, vielleicht nur ein kleines bisschen. Aber was passiert, wenn mir jetzt all das schön zurechtgelegte "Album Of The Year"-Getrommel wegbröckelt? Wenn ich's einfach nicht mehr spüre? Mich nicht mehr erinnere? Wenn sich die Zweifel mit einem Schneidbrenner an der versiegelten Bunkertür zu Schaffen machen? 

"Dann wären wir wohl ganz schön angeschissen, was?!" (Hagen Rether)

Nun ist es Mai 2024, und Du liest gerade ebenjenes "Album Of The Year"-Getrommel. Nichts ist weggebröckelt, nichts ist vergessen, nichts ist abgedunkelt. "The Art Of Levitation" ist unkaputtbar. 

Wenn meine musikalische Libido nicht nach wie vor pausenlos die Konfettikanone zündete und ich mich also auf ein etwas rationaleres Niveau runterkühlen könnte, würde ich gegebenenfalls schreiben, dass die eigentliche Magie dieses Albums etwa ab Beginn der C-Seite startet und mit "Xistence" die Tür für das öffnet, was anschließend über "Regrets", "Sub Sea (Peace Mix) und "Insula" zum allerbesten zählt, was ich in den letzten zwanzig Jahren gehört habe, ein unnachahmlicher Ritt durch den Deepspace, der dich spiralförmig in die Höhe schießt und dabei aus allen Rohren Endorphine ins Wurzelchakra ballert, dich in den Seelennebel im Kassiopeia schickt, wo Dir Alf und Willy Tanner eine eiskalte Cola mit einem Schüsschen Ketamin servieren. It's THAT good.

Andererseits kühlt hier gar nichts auf irgendein Niveau runter und die Rationalität kann mir gerne einen Roberto Blanco-Text ins Ohr flüstern, wenn ich 2 Meter unter der Erde liege - bis dahin heißt es: die Magie beginnt freilich ab der ersten Sekunde. Labelchef Ryan führt in den Linernotes zum Album aus, dass er Mikkel darum bat, ihm doch ein paar Ideen für ein Demo zukommen zu lassen - und er anschließend unendlich viel atemberaubendes Material aus Norwegen erhielt, womit er für die Sequenzierung von "The Art Of Levitation" aus dem Vollen schöpfen konnte. Für Ryan keine Überraschung: Mikkels Beteiligung an dem Kollektiv Ute Records, deren Fokussierung auf Ambient und Trance, inklusive der Organisation von Trance Revival-Partys in den Wäldern Norwegens, ließ vermutlich schon an dieser Stelle Großes erwarten, verbinden sich doch hier die zwei großen musikalischen Vorlieben des Gründers von A Strangely Isolated Place. Vom ersten Vorantasten im Intro "Xpress 2 Planet Earth" mit seinem spannungsgeladenen Arrangement und futuristischen, außerweltlichen Sounds, die irgendwo zwischen Dystopie und Hoffnung hin und her schwingen, über den zwölfminütigen und lebhaft vibrierenden Titeltrack, der durch unzählige Sphären führt und stets ein neues musikalisches Backdrop in Deine Phantasiewelten tapeziert, oder das introspektive "Crater" bis hin zu den erwähnten, druckvollen Trance-Exkursionen, bei denen man sich wirklich wünscht, sie würden nie, nie, nie zu einem Ende kommen, ist die Story des Albums mit einem so feinen wie souveränen Händchen gestrickt. Es mag sich im Jahr 2024 abgeschmackt lesen, aber sei's drum: man ist wirklich auf einer Reise. 

"The Art Of Levitation" ist ein beeindruckendes, inspirierendes Zeugnis zeitgenössicher elektronischer Musik. Findet man in ein paar Jahren im "Muss man gehört haben!"-Kanon der ewigen Klassiker des Genres - und sogar darüber hinaus. Mark my words.


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023. 

04.05.2024

Best of 2023 ° Platz 3: Rod Modell - Ghost Lights




ROD MODELL - GHOST LIGHTS


"You can't play that with your fingers, motherfucker!" (Stewart Copeland)


Irgendwann erwischt es Dich. Irgendwann kommt der Moment, an dem Du aufschreckst. Alles stehen und liegen lässt, zwei oder zweihundert Meter Abstand einnimmst, Deinen Hals nach hinten streckst und versuchst, das Bild, die Situation so schnell wie möglich einzuordnen. "Was war das denn eben gerade?" - und im Grunde ist die Dechiffrierung zum Scheitern verurteilt. Denn das Bild, das Rod Modell auf "Ghost Lights" aufreißt, ist riesig. Das Panorama ist überwältigend. Ganzheitlich und immersiv. 

Alles ist in Bewegung. Alles passiert im Zeitraffer. Alles dehnt sich in Zeitlupe. 

Mit "Ghost Lights" taucht die Dubtechno-Ikone und der Gründer von Echospace zum wiederholten Male auf Astral Industries auf. Seine Geschichte mit dem Londonder Spezialistenlabel geht zurück ins Jahr 2014, als er mit seinem Deepchord-Alias und dem Album "Lanterns" die Katalognummer AI-01 stellte und umgehend einen großen Erfolg verbuchen konnte - das Konzept, "Lanterns" lediglich als einmalige Vinylpressung für einen damals absolut obszönen Betrag von 40 Euro zu vermarkten - "NO REPRESS, NO DIGITAL" - nur um ein paar Jahre später den Repress und die digitale Version dann eben doch anzubieten, treibt mich selbst zehn Jahre später noch in einen veritablen Tobsuchtanfall. Nur damit wir das mal klar haben, dass kapitalistische Fuckups einen fluffigen Flutschi auf Genres oder die Glaubwürdigkeit von Labels (lol, jetzt bleibense mal ernst!) geben. Eigentlich gehört dieser ganze Scheißhaufen ja bis ans Ende aller Tage gnadenlos boykottiert - oder wir halten fortan wenigstens die Klappe, wenn ein lieblos zusammengestümperter Repress für 50 Euro - mit den berüchtigten moralischen Bauchschmerzen, logo! - zunächst ver- und anschließend wie an der Schnur gezogen gekauft wird. Aber wie wir sehen: Herr Dreikommaviernull ist immer noch da, streichelt apathisch lächelnd seinen "Lanterns" Firstpress, quietschfidel und zugekleistert mit prätentiöser Egowichse. Um diese kognitiven Gräben zuzuschütten, reicht der ganze verkackte Sand dieser Welt nicht aus. Apropos Sand: wir haben ja eh schon Sandmangel! 

Jedenfalls: die vier überlangen Kompositionen auf "Ghost Lights" zeigen Modells Exkursionen in die Unterwelt des Ambient. Kein Beat, kein Puls - wobei, das ist nicht ganz richtig. Den Puls gibt es, aber er liegt erstens praktisch unter der Wahrnehmungsgrenze, weil er zweitens im Grunde unter die kompletten 70 Minuten Musik gespannt ist und sich damit nur im angesprochenen Panorama zeigt. 

Im Zoom hat Modell seine berüchtigte "Großstadt bei Nacht"-Ästhetik auch ohne die hörbare Kickdrum auf die musikalische Leinwand gezaubert und dabei die Frequenz der Bildfolge auf das Maximum erhöht. Versteckte und dunkle Nischen, abgelegene, unheil versprechende Ecken, Sackgassen, Regen und nasse Straßen, der aus der Kanalisation aufsteigende Dampf, die roten Rücklichter der durch die Straßen schwebenden Raumschiffe, der sich räuspernde Donner aus der Ferne, das maschinelle Grundrauschen aus den Fabriken und Kraftwerken. Das ist nicht immer nur angenehm zu hören. 

Es ist der manchmal aus tiefsten Tiefen grummelnde Bass, der einem geradewegs die Haare zu Berge stehen lässt. Es ist die Leere, die entsteht, wenn zwar der Film ruht, der Blick jedoch immer noch auf der Suche ist und außer Unbehagen nichts findet. Es ist das schwingende Echo einer vom Ende der Welt angeschlagenen Glocke. Der Vogelschrei, der sowohl Verzückung wie Agonie bedeuten kann. Und wer ganz tief in Modells Welt eintaucht, wird vielleicht auch auf Probleme mit der Einschätzung von Nähe und Distanz stoßen. Denn je kleiner der Ausschnitt, oder je nach Interpretation: der Abgrund ist, in den wir hineinblicken, desto mehr hat unser Gehirn mit der Verarbeitung der schieren Menge an Eindrücken, Reflexen, Effekten zu tun. 

"Ghost Lights" ist keine Hingabe an den Rückzug, es ist eine Ode an die Auseinandersetzung und die Überforderung.


 


Erschienen auf Astral Industries, 2023.

07.04.2024

Best of 2023 ° Platz 7: Andrea - Due In Color




ANDREA - DUE IN COLOR


"I have measured out my life with coffee spoons." (T.S. Eliot)


Ilian Tape ist in Bezug zur Qualität seiner Veröffentlichungen nicht erst seit gestern auf der Überholspur unterwegs. Das Münchner Label ist nicht nur Heimstätte des Produzenten Skee Mask, einem der profiliertesten Vertreter von Elektro-Gefummel zwischen Techno, Drum & Bass, Ambient, Dub und IDM (besonders empfehlenswert für Album-Nerds: das faszinierende "Compro" und der 3-LP-Brocken "Pool" aus dem Jahr 2021, auf dem auch die letzten Genre-Barrieren atomisiert werden), sondern bietet auch jenen Musiker*innen einen Platz, die stilistisch über den Tellerrand schauen und sich experimentelleren Ansätzen widmen - hier müssen beispielhaft Alben wie "Warp Fields" und Packed Rich oder "Time Zones" von Full Bloom genannt werden, letztere ein organischer Nujazz-Abstract-Ambient-Soul-Hybrid, "Warp Field" ein Trommelfeuer aus Ambient, Jungle und Elementen des Hip Hop - das ich im vergangenen Jahr leider zu spät in die Finger bekam, sonst wäre eine Platzierung in meinen Top 20 sicher gewesen. Ilian Tapes haben eine Nische in der Nische gefunden und sich ein so vielfältiges wie konsistentes Labelprogramm zusammengebastelt, dem der expansive Vibe der Erneuerung innewohnt. Es scheint manchmal, als würde das Fenster in die Zukunft mit jedem Release ein Stückchen weiter geöffnet werden.

In diese Linie passt auch das zweite Album des Turiner Produzenten Andrea für die Münchner, das mich indes völlig unvorbereitet getroffen hat. Beim monatlichen Check für neue Platten blieb ich zunächst am großartigen Covermotiv hängen (Foto: Anisa Dawas), und ich freue mich, erneut bestätigen zu dürfen, dass meine Intuition mich mittlerweile nur noch selten täuscht: schon nach kurzem Reinhören in den Opener "Jaim" mit seinen Ambient-Hochebenen, dem spielerisch flackernden Ridebecken und den robusten Drum & Bass-Breaks, war die Spannung groß genug, um einen Blindflug anzutreten. Make my day!

Auch wenn "Jaim" keine Blaupause dafür ist, was Andrea auf den folgenden elf Songs zusammenpuzzelt, dafür ist das Album insgesamt zu divers aufgestellt, ziehen sich die verschiedenen Elemente wie ein roter Faden durch "Due In Color". Für die Grundierung sind oftmals weiche, schwerelose Synth Pads gewählt, die eine diesige, unwirkliche Atmosphäre aufziehen und zusätzlich schon in jenen tieferen Schichten die melodische Basis in Stellung bringen. In der Zwischenebene stehen dicke Basspfeiler für die schlabbernden Hosenbeine - sofern man überhaupt noch Hosen trägt, mein Mitgefühl - und den Groove, wie beispielsweise in "Sephr", das wie ein in Stahlbeton gegossenes Dubstep-Monster durch ein Sumpfgebiet walzt, oder als Antithese in "Chessbio" die Umgebung für ein leichtfüßiges, angejazztes Spiel mit Cymbals in den Obertönen liefert. Am Ende der Klangpyramide stehen die unwiderstehlichen jazzy Beats, die sich verspielt und tänzelnd wie ein Hochamt des Nu Jazz durch eine Hanfplantage fräsen. Ein solcher Höhepunkt ist "Ress", eine kühl funkelnde Broken Beat-Endorphinschleuder, sowohl für einen introspektiven Sonntagmorgen im Frühling als auch beim Klosteinschniefen in Clubatmosphäre funktioniert. Wer anschließend noch das Feld mit den besinnlichen Ambient-Schwingungen entdecken möchte, taucht in "Dove Mai" und "Return Lei" ein: Ersterer eine Blubberparade mit Unterwasservibes, die so magisch arrangiert ist, dass sich die sechsminütige Spielzeit gefühlt mindestens halbiert, letztgenannter der mit kontemplativer Grandezza infusierte Abschlusstrack mit weitläufigem Blick über die vorangegangenen 65 Minuten, der sogar ein klein wenig an die wolkigen Klangungetüme von Brock van Wey's bvdub erinnert. 

Ich bin versucht, für "Due In Color" die "Größer als die Summe der einzelnen Teile"-Phrase niederzuschreiben, weil das Album als Ganzes so ein großes Ausrufezeichen setzt; der Vibe, die Komposition und Verschmelzung unterschiedlicher Spielarten elektronischer Musik, der Drang, sich kopfüber ins Ungewisse zu werfen, weil die Vision präsenter ist als der Zweifel. Andererseits ist's den "einzelnen Teilen" gegenüber schon recht despektierlich - hier funktioniert schon so ziemlich alles. Im Sinne von: ALLES.







Erschienen auf Ilian Tape, 2023. 

23.03.2024

Best of 2023 ° Platz 9: Jonny Nash - Point Of Entry




JONNY NASH - POINT OF ENTRY


"As you get older, the questions come down to about two or three. How long? And what do I do with the time I've got left?" (David Bowie)


Es gibt Platten, die in derart glühender Schönheit strahlen, dass sie beinahe Schmerzen verursachen - und sei es aus Sehnsucht. Und es gibt Platten, die mein aus dem selbt gewählten Trommelfeuer aus Reizüberflutung, schwer zu stillender Neugier und einem Schuss Flucht und Prokrastination herangezüchtetes ADS wenigstens für kurze, flüchtige Momente narkotisieren können. Das Eintauchen in "Point Of Entry", dem sechsten Soloalbum des in Amsterdam lebenden Musikers Jonny Nash, verbindet diese beiden Zustände, und in seinen besten Momenten passieren sie simultan. In Einigkeit. Und sie sorgen damit für jene so großen wie seltenen Momente der Klarheit, die manches Mal zu echten Lebensrettern werden. Die zurückwerfen, neu justieren, reinigen. 

Nash bezeichnet seine Musik als "Personal Folk Music". Sein Lieblingsinstrument ist die Gitarre, die er mal mit zärtlich-sprödem Picking durch eine abgelegene Dünenlandschaft navigiert, mal in übereinanderliegenden Schichten arrangiert und so mehrdimensionale Räume erschafft, die eine erstaunliche Tiefe entwickeln können. In einem der Höhepunkte des Albums "All I Ever Needed" verschrauben sich die Gitarrenfiguren miteinander und gegeneinander, levitieren und kreiseln so lange, bis das aus der Ferne herbeigerufene Feedback beschwichtigt und glättet. Dabei behält Nash die Einfachheit jederzeit im Zentrum seiner Musik, und das berühmte Zitat von Mark Hollis "Learn how to play one note." kommt mir nicht von ungefähr in den Sinn: Stimmung und Duktus von "Point Of Entry" lassen Erinnerungen sowohl an das Spätwerk Talk Talks als auch das legendär reduzierte Soloalbum Hollis' aus dem Jahr 1998 wach werden. Es ist die Weite, die Stille, das Aufziehen der Brennweite, die zu gleichen Teilen die tiefen Schichten vergrößert, wie sie das Verständnis für das umliegende Grenzgewebe in feiner Körnung vermittelt. Das teilt "Point Of Entry" mit jenen Werken, die den Mut zur totalen Reduktion aufbrachten und damit die Zeit gerinnen ließen. 

Nashs genuschelter, gehauchter, manchmal wie gelallt wirkender Gesang in "Silver Sand" und "Eternal Life" erinnert darüber hinaus an einen, der in seinen Mitteln ähnlich radikal vorging, wenngleich die Ausgangslagen sicherlich unterschiedlicher nicht sein könnten: Lewis Baloue, der zunächst vergessene und später durch das Label Light In The Attic wiederentdeckte Troubadour, verewigte auf seinen beiden Alben "Lewis" und "Romantic Times" ähnlich brüchige Momente des Disengagements, die keine Loslösung, sondern im Gegenteil Zuwendung und Umarmung bewirken sollten. Das ist nicht immer elegant, aber die sich in der Konsequenz zeigende Verbindung zur Schwingung dieser Musik, zu ihren Bildern und ihrer vernebelten Elegie, braucht keine Kultiviertheit. Sie braucht das Leben, den Sand in den Augen, den Wind in den Haaren, das Angeknackste, das Verwitterte. 

Die Freiheit solcher Orte hat eine große Wucht. 


      



Erschienen auf Melody As Truth, 2023.

16.03.2024

Best of 2023 ° Platz 10: Max Würden - Landmark




MAX WÜRDEN - LANDMARK


"Musik kann – vor allem, wenn sie ein bisschen spirituell ist – eine gute Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und dem, was noch kommt, sein. Weil sie ein starker Erinnerungsträger ist." (Dirk von Lowtzow)


"Landmark" ist das symbolreichste Ambientalbum des Jahres, eine Unterrichtsstunde in Storytelling, das Leben in der Breitwand, der Puls an der Goldader. Einerseits bis ans Ende der Welt mit spielerischer Kreativität aufgeladen, andererseits so streng auf Kurs, dass keine Millisekunde zufällig erscheint; jeder Kratzer, jedes Schnarren, jeder hingetupfte Herzschlag hat Bedeutung - selbst die, die aus Zeit und Raum fallen. Unbemerkt. Das ist vielleicht die Hürde, die es zu nehmen gilt: den Versuchungen zu widerstehen, hier nicht mit ungeteilter Aufmerksamkeit bei der Sache zu sein. "Landmark" fordert sie nämlich ein, die Vergegenwärtigung - und es kann recht ungnädig werden, wenn nebenher im, sagen wir: Nagelstudio das "Schwarzbuch Kapitalismus" studiert wird. 

Das zweite Album des Kölner Produzenten für A Strangely Isolated Place ist, wie schon "Format" aus dem Jahr 2019, nicht mit einem Handstreich gehört und erfasst. "Format" empfand ich zunächst als experimentell-ruppig und zerrissen, es fiel mir schwer, eine Verbindung, einen Anker zu finden. Erst die weitere Auseinandersetzung glättete den verstrubbelten ersten Eindruck und öffnete schlussendlich die ehemals noch verschlossenen Türen. Max Würden macht keine Musik für Jederfrau und Jedermann, und ich weiß, dass mit solchen Sätzen vorsichtig umgegangen werden muss - als schwierig zu gelten, ist schwierig und im aktuellen Klima des watteweichen Schönklangs wird's damit nicht leichter. Wer sich indes auf seine Musik einlässt, wird reich belohnt. 

Dabei macht "Landmark" es in meiner Wahrnehmung einfacher, schneller die richtigen Schlüssel für die richtigen Schlösser zu finden - und das gelingt in erster Linie über die sich durch den Klang ausbreitende Aura des Albums. Es leuchtet. In Gold. Und es taucht den Raum, den es bewohnt, in das Licht der Ewigkeit und der Unendlichkeit. Der erste Verbindungsaufbau geschieht damit ganz unmittelbar, weil sich die Frequenzen gegenseitig sofort für- und aufeinander ausrichten. "Landmark" entwickelt ab diesem Punkt eine außergewöhnliche Eleganz in der Beobachtung und Darstellung, weil es sich so geschmeidig zwischen den Perspektiven bewegt und es plötzlich keine Rolle mehr spielt, an welchem Punkt wir in seine Realität eintauchen. 

Wir sehen, wir hören, wir fühlen. In Echtzeit. Das ist die Meisterklasse. 


   



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.

02.03.2024

Best of 2023 ° Platz 12: The Soulscaper - Inside Voices




THE SOULSCAPER - INSIDE VOICES


"If you think there's a solution, you're part of the problem." (George Carlin)


Eine etwas obskurere Platte, die es erst über Umwege zunächst in meine linke Herzkammer, dann in die 2023er Bestenliste schaffte. Auf Vinyl ist "Inside Voices" lediglich mit beinahe generischem Cover erhältlich (einzig ein kleiner Aufkleber des Labels wurde oben links auf dem ansonsten weißen Karton angebracht); hier ist im Äußeren also nichts besonders fancy: schwarzes Doppelvinyl, keine Linernotes, keine Credits, nicht mal ein fucking Barcode. Eine ausgedehnte Recherche über Bandcamp tupfte das Album auf mein Radar, und ich lernte, dass der geografische Ursprung von "Inside Voices" in Australien liegt, genauer gesagt in Melbourne - und noch genauer gesagt: in einem Schlafzimmer in den nordöstlichen Vororten der Stadt, im traditionellen Land der Wurundjeri (Woiwurrung) der Kulin People. Und es hilft ja nichts, mich drum herum zu lavieren: ich bin für solche undurchsichtigen Verhältnisse mit der Aura des Unbekannten und Verborgenen sehr empfänglich, meint: es braucht dann nicht mehr so irrsinnig viele Überredungskünste, um mir die Platte als neuen Mitbewohner zu organisieren. 

Nach einigen Wochen der Eingewöhnungszeit, die offen gesagt nicht komplett frei von Zweifeln war, weil die überlangen Tracks zu Beginn nur wenig Struktur hergaben, merkte ich indes, wie oft ich immer wieder zu "Inside Voices" zurückkehrte, wenn sich Geist und Seele in einem ganz bestimmten Zustand befanden; einer Art Zwischenwelt, in der sowohl ätherischer Ambient wie auch energetisch wirksamere elektronische Musik keine Optionen waren. In diese Lücke sprang "Inside Voices", denn es platziert sich rational-stilistisch als auch emotional genau ins jene Zwielicht: schwelgerisch, melancholisch, sehr atmosphärisch, dabei sympathisch entrückt und mit allerlei Soundideen unterfüttert, die das Bild mit subtilen Maserungen vervollständigen. "City Whistle" reift beispielsweise vom Ursprung mit einsamen, milchig-transparenten Pads und einem Break verhuschter Natursounds zu einem IDM/Downtempo-Schwoofer heran, der sich in dieser Entwicklung alle Zeit der Welt lässt. "Mansion On The Hill" fuchtelt mit Ambient und Drum'n'Bass Effekten im Stile Illuvias herum und zeichnet kühle Landschaften mit wärmenden Oasen aus Lichtblitzen und nachhallenden, tiefen Basslines, während sich der Titeltrack in ein Unterwasserbett aus hypnotisch pumpenden Ambienttechno mit jazzy und funky Obertönen einwürmelt. 

Je mehr Zeit ich mit "Inside Voices" verbringe, desto mehr wächst mir diese Musik als Rückzugsort für intellektuelle und emotionale Reinigung ans Herz. Viel Seele, viel Phantasie, viel Tiefe - und damit viel Futter für Reflektion und Einkehr.


   


Erschienen auf Cirrus, 2023.

25.02.2024

Best of 2023 ° Platz 13: Mary Yalex - Fantasy Zone




MARY YALEX - FANTASY ZONE

„Jemand, der es über vierzig Jahre mit Helmut Kohl aushält, der kann nicht harmlos sein.“
(Elke Heidenreich)

Der Auswahlprozess für die auf meinem Lieblingslabel A Strangely Isolated Place erschienenen Alben für die jährliche Bestenliste ist, um einem Blick in innere Zerwürfnisse die Ehre zu geben, dank meiner liebevoll gehegten charakterlichen Unzulänglichkeiten im beinahe sekündlichen Entscheidungskampf des Lebens: ein völliger Clusterfuck. Vor einigen Jahren hatte ich mich bewusst dazu entschlossen, mich einfach kopfüber in den Fluss zu werfen und also alles zu kaufen, was Ryan auf dem seit 2008 operierenden Label veröffentlicht. Der Name, das Design, die Ästhetik und nicht zuletzt das kuratierte Repertoire von Künstler*Innen und deren Musik entwickelte eine mächtige Anziehungskraft; hier fühle ich mich seitdem gut aufgehoben und spüre bei den allermeisten Veröffentlichungen eine tiefe Verbindung. Es gibt Ausnahmen, aber selbst in diesen seltenen Fällen gibt es immer noch einige Resonanzräumchen, die das Leben bereichern. Kurz gesagt: This is my house! Andererseits: ich möchte auch nicht ausnahmslos jede ASIP-Platte des Jahres in die Top 20 aufnehmen, auch wenn mir das den Ablauf des alljährlichen Aussiebens wenigstens etwas erleichtern würde. Aber so billig komme ich hier nicht raus. 

Im Falle von "Fantasy Zone" der in Deutschland lebenden Produzentin Mary Yalex war die Entscheidung indes einfach. Der Berührungspunkt mit dieser introspektiven, sich langsam ins Innere vorantastenden Musik entstand bereits unmittelbar beim Opener "Air", einem sanften Nachtflug mit Nostalgiepanorama, der sofort Gefühle von Vertrautheit und Geborgenheit aussendet. Viel mehr offene Türen kann ich mir also gar nicht mehr einrennen lassen. Zentral scheinen mir zwei Aspekte ihrer Musik zu sein. Zunächst sind es die Melodien, die mal knapp unter dem Wahrnehmungsradar liegen und sich dort in die Weite verästeln, wo sie langsam ausrollen und sich verflüchtigen, oder mit einigem Selbstbewusstsein die Färbung einer Stimmung manipulieren. Nicht, dass sich beides notwendigerweise ausschließen müsste, aber diese kleinen Blitze von in Sepia getauchter Melancholie oder auch kindlich funkelnder Lebensgeister prägen die Reise durch die "Fantasy Zone". Mary sagt in einem Interview mit dem Label, dass jede neue Musik mit einer guten Melodie als Kern des Stücks beginnt und ich finde, das hört man. 

Des Weiteren finde ich den Hinweis aus dem selben Interview bemerkenswert, dass die Musikerin seit ihrer Kindheit malt:


"I used to paint in my childhood when I lived in Austria. I only really started producing electronic music more recently. I want to give the whole thing a picture - something that is more than just a photograph." 


Mir wird das vermutlich niemand glauben, und ich kann auch nicht ausschließen, das Interview zum Release des Albums im August 2023 bereits mal gelesen zu haben, aber bei der tiefergehenden Beschäftigung mit "Fantasy Zone" fiel mir die Weichheit auf, mit der diese Sounds gestaltet sind, wie nuanciert und mehrschichtig sie miteinander interagieren, sich anziehen und sich verbinden. Das ist in seiner feinfühligen Machart ein herausragendes Merkmal dieser Platte. Als ich auf der Suche nach einem passenden sprachlichen Bild dafür war, kamen mir als erstes die Pinselstriche auf einer Leinwand in den Sinn, um die eleganten und subtilen Schwingungen in der Musik zu beschreiben. Als mich die  Recherche schlussendlich zum Interview führte, schloss sich dieser Kreis - und ich staunte nicht schlecht. Nun ist die Argumentation nicht so irre weit hergeholt, im Gegenteil ist es ja sogar recht naheliegend. Aber dafür, dass selbst meine Wenigkeit mit eher teilmöbliertem Dachboden in der Lage ist, ein Gespür für diese Verbindung aus Malerei und elektronischer Musikproduktion zu entdecken, klopfe ich mir mal verblüfft selbst auf die Schulter. 

"Fantasy Zone" ist ein Refugium. Ein Schutzschirm gegen Schwachsinn, Lautheit, Krawall. Es zählte in den vergangenen Monaten zu meinen meistgehörten Platten.


 


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.


P.S.: An jene Vinylfreunde, die den ganzen Krempel nicht nur kaufen und anschließend verschweißt ins Regal stellen, sondern die Platten tatsächlich auflegen - sowas soll's ja tatsächlich noch geben: ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass einige Exemplare offenbar Probleme mit einkanaligem (ist das überhaupt ein Wort?!) Knistern haben, vor allem auf der A-Seite. Also: Augen und Ohren offenhalten.  

10.02.2024

Best of 2023 ° Platz 15: SPELLLING - Spellling & The Mystery School




SPELLLING - SPELLLING & THE MYSTERY SCHOOL


„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ (Theodor W. Adorno)


Als Anthony Fantano, "Internet's busiest music nerd", vor gut zwei Jahren glatte und überaus seltene zehn Punkte an "The Turning Wheel" der kalifornischen Künstlerin SPELLLING vergab, war klar, was zu tun ist: kaufen! Und zwar so, wie ich es am liebsten mache, "commando", also nackig und also ohne vorangegangenes Testhören, wie immer planlos und mit offener Hose. Fantanos Beschreibung der Musik reichte aus, um schnell angefixt zu sein. Und wenn ich für die Bestenliste 2021 nicht in den Dornröschenschlaf gefallen wäre, hätten meine werten Leserinnen und Leser bereits damals lesen können, wie ich mit der Bewertung (i.S.v. "Kategorisierung") des dritten Albums von Tia Cabral zwar meine liebe Mühe hatte, aber gleichzeitig fasziniert war von diesem Kaleidoskop unterschiedlicher Einflüsse, dem außerweltlichen Gesang und den mit reichlich Mystik inszenierten Songs. Das Album ist nicht nur in meinem persönlichen musikalischen Kosmos eine Ausnahmeerscheinung, und ich finde vieles davon bis heute unerklärlich und rätselhaft. 

Das im August 2023 erschienene "SPELLLING & The Mystery School" ist eine Zusammenstellung von Neuinterpretationen ihrer früheren Songs, die nun hier zum Teil erstmals in einem Bandkontext vorgestellt werden und deren neue Versionen sich aus den mit voller Band gespielten Konzerten der "The Turning Wheel"-Tournee entwickelten. Vor allem für jene Titel, die den ersten beiden Alben "Pantheon Of Me" (2017 in Eigenregie veröffentlicht) und "Mazy Fly" entnommen wurden, sind die Überarbeitungen ein künstlerischer Gewinn: SPELLLINGs Musik war in den ersten Karrierejahren sehr reduziert, kühl, sehr synthielastig und stilistisch mit Elementen des Darkwave und sogar einer gewissen Goth-Ästhetik spielend. Das hatte durchaus einen geisterhaften, geheimnisvollen Charme. Der Sprung von "Mazy Fly" zu "The Turning Wheel" war dann allerdings ein gewaltiger, wie auch Fantano in seiner Rezension hervorhob: der vormals auf das Wesentliche beschränkte und eher dürr zu bezeichnende Ansatz ihrer Musik erfuhr plötzlich die voluminöse, detaillierte, sich stetig ausbreitende Produktion eines Art Pop-Projekts, ein bisschen transzendental und metaphysisch, wie es bei Alben von beispielsweise Kate Bush oder auch Björk erfahrbar ist. An dieser Stelle setzt "SPELLLING & The Mystery School" an. 

Ich gehe so weit zu sagen, dass die Songs von "Patheon Of Me" und "Mazy Fly" hier die "The Turning Wheel"-Behandlung bekamen - und in diesen Fällen kristallisieren sich einige echte Höhepunkte des Albums heraus. Der Opener "Walking Up Your House" wächst aus der Synth/Stimme-Miniatur des Debuts zum großzügig aufgezogenen Überflieger, "Under The Sun" durchläuft dank Piano, Schlagzeug und des Streicher-Arrangements des Del Sol String Quartetts gleich mehrere Metamorphosen, vom 70er-Abba-Vibe zu Beginn zum abruptem Wechsel in das Zaubergartenlabyrinth mit Fliegenpilzeintopf und dem Schlussakkord, der die folkige Stimmung mit selbstbewusster Kickdrum durchbricht. "Haunted Water" spielt wie "Phantom Farewell" mit dem bereits im Original wahrnehmbaren dunklem Wave-Geflacker und verbindet es mit tanzbaren Beats und einer Ahnung von Pop-Appeal zwischen (späten) Dead Can Dance und (mittleren) Depeche Mode. Die vier Neueinspielungen von "The Turning Wheel" zeigen sich dagegen eher etwas konservativer, weil sie das grundsätzliche Sounddesign des Albums beibehalten und lediglich in den Arrangements die Entwicklungsstufen der Band dokumentieren, nachzuhören im Hit "Boys At School" mit seiner neuen Streicherinstrumentierung und einer verfeinerten Dynamik im Zusammenspiel der Band. Das ist freilich immer noch hervorragend in Szene gesetzt und lohnenswert. 

SPELLLINGs Musik ist auch auf dem Stand des Jahres 2023 noch immer herausfordernd, bizarr, außerweltlich und einzigartig. Es kann vielleicht ein Weilchen dauern, bis so halbwegs klar ist, was hier passiert - und manchmal passiert womöglich gar nichts. Was einem dann noch bleibt, ist universell: einfach zuhören. 



   



Erschienen auf Sacred Bones Records, 2023.

04.02.2024

Best of 2023 ° Platz 16: Hollie Kenniff - We All Have Places That We Miss



HOLLIE KENNIFF - WE ALL HAVE PLACES THAT WE MISS


"Die häufig beobachteten Phantasiezusammenstellungen müssen in Fortfall geraten." (Krawinkel)


Ein Album für die frühen Morgenstunden des Tages. Für die Zwischenwelten, in denen sich die Welt noch nicht entscheiden kann, ob sie das Licht anknipsen soll oder nicht. Für die Einkehr, das Zurückgeworfen-Sein auf die eigene Geschichte. Für die Kontemplation, für das Erspüren der Intuition. Für den Nachhall der Erinnerungen. Für den Versuch das Vergängliche zu umarmen, und sei es nur für den Moment des Augenblicks. Für das Unbegreifbare.

Die Musik von "We All Have Places That We Miss" legt sich wie ein sanfter, heller Schleier über das Leben. Sie glitzert, funkelt, geht bis in die feinstofflichen Ebenen der Wahrnehmung. Sie breitet sich aus, wird weit, füllt auf, ist schwärmerisch, weich, sentimental. 

Mir fiel im letzten Drittel des vergangenen Jahres auf, wie oft sich mein Leben immer wieder auf dieses Album einlassen wollte. Immer war es in greifbarer Nähe, als Antidot gegen den Lärm, aber auch als tröstendes Wärmepflaster gegen den Schmerz des Verlusts unseres Hundes Fabbi, den wir im Juni 2023 nach langer Krankheit auf die andere Seite des Regenbogens ziehen lassen mussten. Die Auseinandersetzung mit dem Loslassen fällt mir traditionell sehr schwer und die Anerkennung des Rationalen scheint in solchen Momenten unmöglich. Und egal, wie oft nach einem Ausweg gesucht wird - der Einschlag kommt, und er ist immer unbarmherzig. Es gibt nichts Radikaleres als die Wahrheit. 

"We All Have Places That We Miss" ist auch aus dieser Perspektive betrachtet zwischenweltlich, weil es nichts ausspart und nichts bagatellisiert. Das monumental Tragische, die Furcht und die Trauer stehen in direktem Einklang mit der tief empfundenen Dankbarkeit und Liebe für das Leben. Es gibt jene flüchtigen Momente, in denen mir das klar ist. 


   


Erschienen auf Western Vinyl, 2023.

12.08.2023

Sonst noch was, 2022?! (1): Mystic AM - Cardamom & Laudanum

 




MYSTIC AM - CARDAMOM & LAUDANUM


Astral Industries-Gründer Arlo Faharano und Rod Modell begeben sich auf "Cardamom & Laudanum" auf eine nächtliche Reise durch den Orient, nisten sich in unseren Köpfen ein, schalten die Kameras an und das Licht aus - und lassen Geschichte passieren. Außerkörperliche Erfahrungen in der Wüste, nächtliches Treiben auf den Basaren, kostbare Seide, feine Gewürze, opulente Parfums. Der Puls der Nacht, die Anspannung vor dem Unbekannten in schwüler, stickiger Luft. Ein Unbehagen auslösendes, obskures Geflüster in einem Meer aus Stimmen, aus der Tiefe der Dunkelheit dringt schamanisches Getrommel, am Horizont lodern die Feuer von den Stämmen in den Bergen, Rauch schleicht sich in den klaren Sternenhimmel. Und du bist mittendrin, saugst alles auf, beobachtest. Wo bist Du? Wer bist Du? Und warum bist Du hier? Und - was bedeutet das denn überhaupt..."hier"? 

Ein berauschender, mystischer, aufregender, spektakulärer Fiebertraum.


Vinyl: Astral Industries lässt traditionell bei Optimal pressen und dort kann normalerweise nicht so irre viel schief gehen. Es gibt Gegenbeispiele, aber das Presswerk in Brandenburg gehört sicherlich zu den qualitativ zuverlässigeren Herstellern. So ist es auch hier: ich habe keine Beanstandungen. Die klassischen AI-Coverartworks von Theo Ellsworth sind von den Hüllen des britischen Labels nicht mehr wegzudenken. Gatefold-Cover. Kein Download. (+++++)


 



Erschienen auf Astral Industries, 2022

29.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 1: Eternell - Mira




ETERNELL - MIRA


Meine treuen Leser*innen wissen es seit langer Zeit: Ich schreibe gerne mal irgendeinen Schwachsinn ins virtuelle Tagebuch hinein, sei es, weil ich der irrlichtenden Meinung bin, etwas sei besonders "lusdisch" (Heinz Schenk), kontrovers, deep, iNtElLeKtUeLl oder weil mir schlicht die kognitiven Fähigkeiten für etwas Schlaueres fehlen; und manchmal, wenn der innere Drang nach Vermittlung und Präzision beinahe unaushaltbar intensiv und wie Tazman auf Crack rebelliert und also kurz vor der Kernschmelze steht, folgt ein zwar stilloser aber dafür immerhin leidenschaftlicher Bandwurmsatz nach dem anderen, irgendein chaotisches und zwanzig Zeilen langes, mit Ego und Hybris aufgeladenes kapriziöses Gebläse, für dessen Dechiffrierung man entweder selbst einen veritablen Hirnknick sein eigen nennen oder ein abgeschlossenes Psychologie- und Germanistikstudium im Lebenslauf stehen haben sollte (#schnittmengen) - weil's eben einerseits mit maximaler Begeisterung raus muss und weil's andererseits auch hier am besten mit Verdichtung i.S.v. Konzentrierung gelingt. Wenngleich Konzentrierung in diesem Kontext lediglich bedeutet, so viele Wörter wie möglich in eine halbwegs stimmige Hirnschlagsgrammatik zu pressen, von Inhalten spricht heute ja kein Mensch mehr, und mit Verlaub, manchmal muss man ja fast schon dankbar dafür sein. In diesen so besinnungslosen wie begeisterten Momenten fühlt sich das Komma- und Semikolon-Massaker auch immer total richtig an, aber spätestens wenn die Herzallerliebste nach dem Durchlesen des Textes lapidar kommentiert, den könne ja kein Mensch verstehen oder auch nur verstehen wollen, das sei alles viel zu verschachtelt, kompliziert, unklar und gespreizt formuliert, kommen Zweifel. Zweifel, die mein Innerstes gerne mit einer Mischung aus Arroganz und meinerseits geäußerter Verständnislosigkeit quittiert, denn wer sich nicht mal für fünf Minuten anstrengen will, durch den profunden Wortsalat zu staksen, soll's meinetwegen lassen und gleich RTL2 einschalten. Es ist ein freies Land. Et ce n'est pas mon problème!

"Jetzt...warum sag' ich ihnen das?" (Polt)

Ich schreibe das ganze Gekröse hier so nonchalant hin und rein, weil ich's erstens: kann! Das ist klar. Zweitens aber, und das ist viel wichtiger: ich muss rekalibrieren, resetten, relaunchen. Für das, was jetzt gleich kommt, muss ich Relationen herstellen, Erwartungen zurechtrücken und 16 Jahre weitgehend hilfloses Blog-Gestammel ausbalancieren. 

"Mira" ist der bisherige Höhepunkt im Schaffen des Ludvig Cimbrelius. Der Satz hat angesichts meiner früheren Einlassungen zu seinen Arbeiten Tragweite. Ich weiß das. Und doch verewige ich ihn hier nicht leichtfertig. 

I fucking mean it. 

Es gibt eine kleine Geschichte zu "Mira", und ich schwöre, es ist das letzte Mal, dass ich über den fehlenden Bestenlisten-Countdown des Jahres 2021 lamentiere. Am 23.Dezember 2020 veröffentlichte Ludvig "Cove" als digitales Album auf seiner Bandcamp-Seite. Mehr als zwei Stunden Musik verteilt über fünf unterschiedliche Inkarnationen des Titeltracks, wobei alleine "cove (underwater expanse)" mit über 67 Minuten Spielzeit die längste Version ist. Auch wenn das Album sofort eine tiefgreifende Wirkung auf mich hatte, war meine Bestenliste für das Jahr 2020 schon längst in Stein gemeißelt - aber hey, alles easy: Das Album wurde Ende Dezember 2020 veröffentlicht, "ich werde es einfach in der Aufstellung für 2021 erwähnen." Und weil ich 2021 dann schlussendlich so gar nichts erwähnen sollte, blieb "Cove" - zumindest auf 3,40qm - unverzeihlicherweise auf der Strecke. 

Was nicht auf ebenjener blieb, sondern sogar noch tiefgründiger, enger, emotionaler wurde, ist die spirituelle Verbindung zu dieser Musik. Über die letzten zweieinhalb Jahre entwickelte sich "Cove" zu einem beinahe ständigen Begleiter. Es verging keine Woche, in der ich nicht mindestens einen Titel des Albums spielte, manchmal lief das Album in Endlosschleife über ganze Wochenenden hinweg. Der Klang trifft mich direkt ins Herz. Es ist die friedlichste, hellste, erfüllendste Musik, die ich kenne. Ich schrieb vor einigen Jahren, dass Ludvig ein "fucking Wizard" sei, und wenn es eine erneute Bestätigung dafür benötigte, dann ist "Cove" das vielleicht finale Zeugnis seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten. Ein Klang wie aus Gold. Feinstofflich, kostbar, so luxuriös wie demütig, unmittelbar identifizierbar, selbst bei niedrigster Lautstärke, manchmal nicht mal mehr als ein Geschmack in der Luft, durchdringend, bewegend und von einfach überwältigender Schönheit. 

𝑖𝑛 𝑡ℎ𝑖𝑠 𝑜𝑐𝑒𝑎𝑛
𝑎𝑙𝑙 𝑐𝑜𝑚𝑒 𝑡𝑜 𝑎𝑛 𝑒𝑛𝑑
𝑜𝑢𝑡 𝑜𝑓 𝑡ℎ𝑖𝑠 𝑜𝑐𝑒𝑎𝑛
𝑎𝑙𝑙 𝑎𝑟𝑒 𝑏𝑜𝑟𝑛 𝑎𝑔𝑎𝑖𝑛

Was bislang fehlte, war ein physischer Release dieses Wunderwerks. Und dann kam der Januar 2022 und mit ihm kam "Mira", ein Doppel-CD-Set mit einer Spielzeit von mehr als zwei Stunden, dazu Artwork, Kunst und Logos von Nikita Coulombe, Liz Bratton und Alexander Lux. Sechs Tracks auf der ersten CD, darunter der über 18 Minuten lange Titelsong, die insgesamt einer ähnlichen Klangästhetik folgen wie dem Herzstück auf CD2: neben "cove (presence)", einer für die CD-Veröffentlichung remasterten Version, die Ludvig offenbar ganz besonders ans Herz gewachsen ist - "It seems to touch the core of how alive this music can be for me as it swirls around my inner world." - bekommen wir eine ebenfalls remasterte Version von "cove (underwater expanse)" in voller epischer Länge, Breite, Höhe - und Tiefe. 67 Minuten auraler Sternenstaub. 

Mit dem Release von "Mira" war in Bezug auf das Jahr 2022 klar, was auf diesem Blog passieren würde: hier ist meine Nummer 1. Eingebaut in meine DNA und aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Unentbehrlich. Unersetzlich. 

The Healing Colours Of Sound. 


Vinyl: Bitte gehen Sie weiter, es gibt hier leider nichts zu sehen. "Mira" erscheint als digitaler Download und als exquisite Doppel-CD auf Ludvig's Label LILA लीला:

𝓕oundational to LILA लीला is the view that we are all in this adventure of eternal life together. As a reflection of this, a part of the income from music releases will always be going towards trusty organizations who work towards bringing better conditions of Life to all inhabitants of this beautiful Earth, our home in the Universe. As LILA लीला grows, all parts grow.





Erschienen auf LILA लीला, 2022