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08.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (3): Jonathan Jeremiah - Horsepower For The Streets

 




JONATHAN JEREMIAH - HORSEPOWER FOR THE STREETS


Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her? 

Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!

Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden. 

Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger  ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein. 



Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)






Erschienen auf Pias, 2022.

03.01.2021

Die besten Vinyl-Reissues 2020 (5): PJ Harvey - Dry

 




PJ HARVEY - DRY


1992 in der Keimzelle des Anything Goes-Vibes veröffentlicht und ein Klassiker des Alternative Rock, vielleicht gar eines der letzten wirklich großen Rockalben von der Insel der Brexit-Besinnungslosen: das Debut der britischen Sängerin und Multiinstrumentalistin ist lauter Weirdo-Blues, giftiger Feministenpunk, knarzender Noise. Das Trio, allen voran Schlagzeuger Rob Ellis mit seinem unwiderstehlichen Powerhouse-Drumming, holzt sich bis auf wenige Ausnahmen ("Happy And Bleeding" und "Plants And Rags") furios durch ein Album, von dem PJ einst dachte, es würde nicht nur ihr erstes, sondern auch gleichzeitig ihr letztes sein - was sie dazu bewog, für die Produktion alles in die Waagschale zu schmeißen, was sie hatte. 

Wie viel sie wirklich hatte, wird auf diesem fantastisch klingenden Reissue nochmal offensichtlicher. Nie war der Vergleich zwischen totkomprimierter gestreamter Billigscheiße von den Musikhassern von Shitify und einer famos gemischten, gemasterten und perfekt gepressten Schallplatte sowohl eindrucksvoller als auch schmerzhafter als hier. Ein einzigartig beißender Gitarren- und Basssound, ein die Mauern von Jericho zum Einsturz bringendes Drumset und eine Stimme, die zu gleichen Teilen selbstbewusst, sexy und fragil eine ungeheure Präsenz ausstrahlt. Die grundsätzliche Idee, "Dry" exakt auf diese Art zu inszenieren, war für den im karierten Flanellhemd steckenden "Flori" (Mama) schon 1992 eine bemerkenswerte Entscheidung - knapp dreißig Jahre später wird sie dank dieser Neuauflage zur Sensation.


 



Erschienen auf Too Pure, 1992/2020.

23.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Gil Scott-Heron - I'm New Here




GIL SCOTT-HERON - I'M NEW HERE


"I'm New Here" ist möglicherweise die wichtigste Platte des vergangenen Jahrzehnts. Mir wurde das in vollem Umfang erst in den letzten Tagen so richtig bewusst, als ich mich nochmal mit dem Werk beschäftigte, um die richtigen Worte für diesen Text zu finden (und im Anschluss des neuerlichen ersten Durchlaufs natürlich dann doch die kürzlich veröffentlichte Jubiläumsausgabe auf pinkem und grünem Vinyl bestellte - einfach, weil ich nie gesagt habe, ich sei nicht quadratverblödet). 

Bis in den Februar des Jahres 2010 war mir der Name Gil Scott-Heron zwar durchaus geläufig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, seine Musik jemals bewusst gehört zu haben. In den 1980er und in weiten Teilen der 1990er Jahre wäre ich für seinen Sound sowieso noch komplett juvenil-vernagelt gewesen, und die erste Hälfte der nuller Jahre waren hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung noch zu sehr von den Irrungen und Wirrungen meiner Orientierungslosigkeit aus den späten neunziger Jahren geprägt, als ich mit den neuen Entwicklungen in der alten Komfortzone nicht mehr klar kam. Oder deutlicher: als Heavy Metal anfing, so richtig knalldoof zu werden. Erst mit der Entdeckung Coltranes in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wurde vieles wieder klarer. Und just, als ich knietief in Freejazz-Kakophonien von Clifford Thornton und William Parker stand und mich mit entsprechender Literatur immer tiefer in den Kaninchenbau hineinwühlte, holte Produzent und XL Recordings-Gründer Richard Russell den vom Leben gebeutelten Scott-Heron aus der Versenkung. Ich war bereit. 

Russell hatte dieses Projekt schon lange geplant. Er kontaktierte Scott-Heron erstmals, als jener noch wegen Kokainbesitz auf Rikers Island einsaß und erzählte später, sie hätten schon in ihren ersten Briefwechseln auf einer Wellenlänge miteinander kommuniziert. Russells Begeisterung war offenbar ansteckend: der Godfather of Rap lehnte normalerweise die meisten Anfragen ab, für "I'm New Here" sagte er jedoch sofort zu - auch wenn er später davon sprach, das Album sei in erster Linie Russells Werk:

"This is Richard's CD. My only knowledge when I got to the studio was how he seemed to have wanted this for a long time. You're in a position to have somebody do something that they really want to do, and it was not something that would hurt me or damage me—why not? All the dreams you show up in are not your own."


Richard hatte von Beginn an eine Vision für "I'm New Here", die von Scott-Herons Debut "Small Talk at 125th and Lenox" beeinflusst war: minimalistisch, spartanisch, dürr. Auch die kurze Spieldauer von gerade mal 29 Minuten entspringt diesem Gedanken, denn auch, wenn die Sessions mehr aufgenommenes Material hergaben, sollte die Platte in einem hochkonzentrierten Durchgang alles sagen, was es zu sagen gibt. Das ist geglückt. "I'm New Here" ist ein tief grummelndes, nachdenkliches Stück Musik zwischen dystopisch pumpenden Beats und dunkel schimmerndem Blues, in dessen Kern Scott-Herons schlackernder Bariton-Sprechgesang das Leben reflektiert, Bilanz zieht. Und so hart er mit sich selbst ins Gericht geht, so weise sind seine Pointen. 
Because I always feel like running
Not away, because there is no such place
Because if there was I would have found it by now
Because it's easier to run
Easier than staying and finding out you're the only one
Who didn't run
(aus "Running")

And I'm shedding plates like a snake
And it may be crazy, but I'm
The closest thing I have
To a voice of reason 
(aus "I'm New Here")

Ich war von "I'm New Here" ab der ersten Sekunde fasziniert. Alles, was dieser Mann in diesen 29 Minuten sang und sprach klang wichtig. Fürs Leben. Fürs Anerkennen der eigenen Limitiertheit. Fürs Erforschen der Möglichkeiten - weil es hinterm Horizont eben weitergeht, dem eigenen zumal. Wusste schon Udo "Dichter Denker" Lindenberg. Und hinter meinem Horizont ging es tatsächlich weiter, denn "I'm New Here" war die Initialzündung für das Entdecken von Scott-Herons Musik. Die frühen Arbeiten aus den 1970er Jahren mit seinem kongenialen Mitstreiter Brian Jackson. Die drei Soloalben aus den Achtzigern, die bislang nicht neu aufgelegt wurden und kommerziell nie an die früheren Klassiker heranreichten. Das 1994er Album "Spirits", das seinen Ruf als "Godfather of Rap" nur weiter im Boden des zu jener Zeit in voller kommerzieller Blüte stehenden HipHops verwurzelte. 

So wie Iron Maidens "Live After Death" mich zum Metal, "Nevermind" zum Alternative Rock, Bad Religions "Generator" zum Punk, bvdubs "The Art Of Dying Alone" zum Ambient und das SF Jazz Collective zum Jazz brachte, öffnete "I'm New Here" die Türen zum Soul und Funk. All diese Begegnungen mit Musik waren lebensverändernd, grenzenlos wichtig für das eigene Selbstverständnis, zur Selbstidentifikation. Ich sah die Welt jedes Mal mit anderen Augen, wenn sie mir von Steve Harris, Kurt Cobain, Greg Graffin, Brock van Wey, John Coltrane und Gil Scott Heron in neuem Licht gezeigt wurde. 

Vielleicht ging es vielen Menschen mit "I'm New Here" ähnlich. Richard Russell sollte sein Ziel, Scott-Heron auch jungen Menschen näher zu bringen erreichen - was nicht zuletzt mit den aus den Sessions entstanden Remix- und Tributeplatten gelingen sollte, die Jamie XX mit "We're New Here" und kürzlich Schlagzeuger Makaya McCraven mit "We're New Again" produzierten. 



I think, for whatever reason, I feel a bit of duty to introduce him to people because he was never that commercial, crossover figure. What Makaya [McCraven] did and what I asked Jamie [xx] to do earlier is all a part of that reintroducing. Historically, there’s a lot of great artists who get overlooked. It makes me happy that Gil is not one of them and that people are still discovering him. 

Ich habe Gil Scott Heron wegen Richard Russell entdeckt. Der Einfluss auf mein Leben war und ist bis heute allgegenwärtig. Dankbarkeit. 









Erschienen auf XL Recordings, 2010.

21.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Young Magic - Still Life




YOUNG MAGIC - STILL LIFE


Ich orakelte schon im 2016er Jahresrückblick über die zu erwartende Ausnahmestellung von "Still Life", und siehe da: ich kenne mich manchmal doch besser als gedacht. 

"Es gab in 2016 so einige Platten, die mein Leben vermutlich auch über das immer noch andauernde Superscheißjahr 2016 hinaus prägen werden; in erster Linie, weil ich mit Ihnen eine bestimmte Zeit, auch ganz besonders ein Lebensgefühl verbinden werde. Und einige davon werden vielleicht wichtig für das restliche Leben werden, sei es, weil sie besondere Saiten in mir angeschlagen haben, sei es, weil ich mit ihnen überhaupt nicht rechnete und die Überraschung und Begeisterung nicht zuletzt genau davon getragen wird und wurde. "Still Life" könnte so eine Platte werden."

Das musikalische Tagesbuch von Sängerin Melati Malay und ihrem Partner Isaac Emmanuel, erdacht und ausgetüftelt auf Malays Reisen, unter anderem auch in ihr Heimatland Indonesien auf der Suche nach den Lebensspuren ihres damals just verstorbenen Vaters, oszilliert durch ätherische Zwischenwelten, sediert die Sinne, durchdringt die Trauer und feiert das Leben. 

Und dennoch fehlen mir immer noch die Worte für die Gefühle, die "Still Life" in mir auslöst. Ich konnte es schon vor vier Jahren nicht genau beschreiben und es macht mich auch im Supersupersuperfuckingsuperscheißjahr 2020 ratlos. Irgendetwas in dieser Musik scheint mir so verflucht nahe zu kommen, dass ich mich beinahe davor fürchte, genauer hinzuschauen. 

Vielleicht das persönlichste und möglicherweise deshalb auch rätselhafteste Album des Jahrzehnts. 




Erschienen auf Carpark Records, 2016.

19.04.2020

2010 - 2019 - Das Beste Des Jahrzehnts: Zara McFarlane - If You Knew Her




ZARA McFARLANE - IF YOU KNEW HER


Urlaube waren dank unseres Haustierzoos rar in der letzten Dekade. Als es uns 2017 doch mal in die Ferne trieb, genauer gesagt zu einem Herbsturlaub an die stürmische Nordsee, machten wir zu später Stunde Gebrauch vom im Strandhaus befindlichen Kamin, öffneten eine Flasche Rotwein und versuchten, die sehr volatil arbeitende Heizung mit Decken und aneinandergekuschelten Körpern zu ignorieren. Es liest sich wie billigstes Klischee, aber der Chronist in mir verlangt nach Akkuratesse. 

Jedenfalls: wir hörten Zara McFarlanes "If You Knew Her" bis in die frühen Morgenstunden und es wurde einer jener Momente, in denen aus einer sehr, sehr guten Platte eine wird, die man künftig nur selten auflegen mag, aus Angst, diesem magischen Moment etwas von seiner überwältigenden Romantik zu nehmen. 

Der unten verlinkte Hit "Open Heart" darf als Blaupause für eine Platte gelten, die randvoll mit so subtil wie selbstbewusst inszeniertem Souljazz gepackt ist - urban und nokturn, zerbrechlich und mit einer nur selten gehörten Dringlichkeit. 

Last Exit Olympus.




Erschienen auf Brownswood Recordings, 2013/2014.

21.07.2019

Good Day To Smile



JONATHAN JEREMIAH - GOOD DAY



Auch Mitte des Jahres 2019 bin ich immer noch mit Aufräumarbeiten aus dem vorangegangenen Jahr beschäftigt, und ein Blick auf die DIE_LISTE beweist, dass immer noch viel zu viel ungesagt, manchmal so gar: ungehört ist. Ich kann ein halbes Jahr später auch wirklich nicht mehr sagen, warum es "Good Day" nicht in die Top 20 schaffte, zumal sogar die Herzallerliebste rare Momente voller Begeisterung zeigte und wiederholtes Abspielen einforderte. Es ist indes fast niemals zu spät, doch nochmal die schwach bloggende Hand zu heben und mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass "Good Day" eines der besten Alben 2018 ist.

Auf den ersten Blick erscheint die Frohlockung ungewöhnlich, weil der Typus des generischen Hipster-Sangesbarden nur selten Einzug in meine Hall Of Fame findet - Musiker wie der Norweger Thomas Dybdahl sind eher die Regel bestätigenden Ausnahmen. Tatsächlich würden wir alle ohne den mit einiger Vehemenz vorgetragenen Hinweis von Freund Jens ("Einfach kaufen, Bongo!") hier und heute nicht sitzen, stehen, laufen und irrlichternd über "Good Day" schreiben und lesen können, allerdings verließen mich meine sämtlichen über die Jahre aufgebauten Vorbehalte gegenüber der erwarteten Schunkelstunde alleine beim Anblick des wunderbar stilvollen und sogar optimistischen Cover Artworks - und das schneller als das Warenkörbchen "Vielen Dank für Ihre Bestellung, Herr Bongo!" ausspucken konnte.

Jeremiah sagt, er sei für "Good Day" vor allem von europäischen Pop der 1960er und 1970er Jahre beeinflusst worden, von Serge Gainsbourg und Jaques Brel. Aufgenommen im Analogstudio des The Kinks-Sängers Ray Davies, klingt die Platte aufgeraut und warm, irgendwo zwischen dem natürlichen Rauschen des Fahrtwinds auf dem Weg in den Sommerurlaub (Villa Elso, Riccione, 1983) und dem in der Ferne simmernden Glanz des Sonnenuntergangs am Meer. Ich kann Jeremiahs Musik eine gewisse europäische Eleganz nicht absprechen; eine Eleganz, die im Vergleich zu den oftmals eher zahmen Vertretern auf der anderen Seite des großen Teichs eindringlicher erscheint. Trotzdem erinnert mich "Good Day" vor allem ob seiner Streicherarrangements an den Kalifornier Jim Sullivan und dessen "U.F.O." Album aus dem Jahr 1969: Sullivan ist natürlich ein Gefangener seiner Zeit, trägt das Hippie-Stirnband nicht nur am, sondern auch vor allem im Kopf und hat diese typische Westküsten-Lässigkeit in seinem Sound. Jeremiah schafft es indes, jenen Vibe im regnerischen London des Jahres 2018 zu spiegeln und ihn ohne Patina und lästigem Imitationsdrang mit dem Geist eines aufgeräumten John Martyn zu verbinden.

"Good Day" ist trotz seines klaren Hangs zur Ästhetik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre ein modern klingendes und zu gleichen Teilen optimistisches sowie melancholisches Album. Funktioniert sicher auch im Spätsommer 2019. Einfach kaufen, Bongo!





Erschienen auf PIAS, 2018.

04.05.2019

Sex, Palmen & das Meer




THOMAS DYBDAHL - ALL THESE THINGS


Resteverwertung 2018, Teil 2. Der Styler unter den Singer/Songwritern. Nur ein Jahr nach seinem Album "The Great Plains" stand auch schon "All These Things" vor der Tür - und weil damit so schnell wohl nicht zu rechnen war, schlief ich mal wieder den Schlaf der Gestressten. Nur durch einen puren Zufall bekam ich Wind von dieser Platte, aber da war es erstens schon Dezember 2018 und zweitens DIE_LISTE bereits final ausgeknobelt. Außerdem, und das ist bei "All These Things" durchaus a thing: es war Winter.

Denn Dybdahl hat sich dieses Mal in sunny California für die Aufnahmen niedergelassen, genauer gesagt im Kreativ-Viertel Echo Park in Los Angeles - und mit Verlaub: das hört man. Aus jeder Note dieser fantastisch klingenden Produktion strahlt die über dem Pazifik untergehende Sonne Kaliforniens, hinter jedem Beat haucht eine Brise über die den Sunset Boulevard säumenden Palmen hinweg, jede Silbe von Dybdahl's mehr gehauchter denn gesungener Poesie reißt selbst dem whitest cis-Mann alive den Mankini weg. Musik für den Blick über eine pulsierende Metropole in der Dämmerung. 

Dem Sextett (mitunter dabei so außergewöhnliche Musiker wie Patrick Warren, David Baerwald oder Brian MacLeod) ging es unter Dybdahls Führung um den Spirit, die Fokussierung auf den Song. Tatsächlich erinnerten die Sessions an den berüchtigten Tuesday Night Music Club, einem Zusammenschluss verschiedener Musiker, Songwriter und Produzenten aus den frühen neunziger Jahren, aus dem 1993 das erfolgreiche und gleichnamige Solodebut von Sheryl Crow entstehen sollte. Warren, Baerwald und MacLeod waren bereits damals mit von der Partie, der vierte im Bunde war Larry Klein, der bereits Dybdahls 2014er Werk "What's Left Is Forever" produzierte und auch für "All These Things" an den Reglern saß. Die Band arbeitete an den Arrangements, spielte und übte die dann fertigen Kompositionen und nahm sie sogleich in den Redwood Studios auf. 

Es sind die feinen Nuancen in der Musik, die jene besondere, sehnsuchtsvolle Atmosphäre erzeugen. die den Bildern plötzlich so viel Leben einhauchen: ein nachhallendes Pink Floyd-Gitarrenlick hier, ein funky angejazztes Highlight an den Keyboards da, dazu einer der besten Schlagzeugsounds, den ich jemals hörte. Musik für schweres, getäfeltes Holz, kräftigen Whisky, durchgewühlte Bettlaken und die selbstgedrehte Kippe danach. Mysteriös. Dunkel. Sexy. 






Erschienen auf 1Micadventure/V2, 2018.

20.04.2019

Hedonilacholie




ROOSEVELT - YOUNG ROMANCE


Jetzt, da wir dem sich wieder ewig und vier Monate hinziehenden Jahresbestenlistenwahnsinn entronnen sind, ist es an der Zeit, die alten Kleider abzustreifen, sich neu aufzustellen und fokussiert nach vorne zu blicken - Haha, Quatsch mit Soße: noch ein bisschen Resteverwertung aus 2018 zu betreiben. 

Es gehört zu den tragischeren Momenten der Symbiose einer über den eigenen Kopf wachsenden Lohnarbeit mit einer Beinahe-Verstummung oder wenigstens signifikanten Reduzierung von Texten auf diesem Blog, dass ich bislang noch nichts über Roosevelt geschrieben habe. Das Schicksal teilt der junge Mann aus Köln zwar mit einer Legion an Musikern, Bands und Platten, die alle ebenfalls noch in der viel zu langen Warteschlange für einen Beitrag stehen, und geteiltes Leid ist ja halbes Leid - aber besser wird es damit ja auch nicht.

Das selbstbetitelte Debut aus dem Jahr 2016 hat sich mittlerweile im Hause Dreikommaviernull, und das schließt explizit die Herzallerliebste nebst Vierbeiner-Entourage mit ein, nach einer Phase des indifferenten Beschnupperns zu Beginn der Auseinandersetzung zu einer Art Lieblingsplatte gemausert. Vor allem für die sonnigeren Tage ist die Mischung aus 80er Synthiegewürmel, elektronischem Indiepop und dem Musikprogramm des ZDF-Fernsehgartens so erfrischend und euphorisierend wie ein eiskalter und in guter Gesellschaft eingenommener Gin Tonic (natürlich ohne Gurke, Ihr verwirrten, verwirrten Menschen!). 




Im letzten Herbst erschien nun also der Nachfolger "Young Romance" und ich stellte mich auf einen ähnlichen Effekt wie beim Debut ein: Zunächst erscheinen Andrea Kiewel und die untote Ilona Christen vor dem geistigen Auge, Busladungen beige-tragender Silberzwiebeln überfallen fist-raisend Autobahnraststätten und sehnen sich nach einer Nacht mit Florian Silberschwengel oder wenigstens einer Gewürzgurke, und wo zur Hölle ist mein Notfall-Insulin abgeblieben? Nach erfolgreichem Überstehen dieser Phase kann es eigentlich nur in Richtung Tanzfläche, Hawaiihemd und Limettenbaum gehen. Und dann sollte es auch endlich mit der Jahresbestenliste 2018 klappen.

Wir wissen nun: es klappte nicht. 

"Young Romance" erschien Ende September und erwischte mich trotz (oder wegen - you decide!) der immer noch anhaltenden Dauerhitze des vergangenen Jahres auf dem falschen Fuß. Ich hatte einfach genug vom Sommer, war zudem Dank andauernden 50+ Stundenwochen energetisch völlig ausgelaugt und ging zum Weinen in den Keller, wo es dann auch immerhin mal vier Grad kühler war. Lässig auf der Terrasse mit Leinenhemd an der eigenen prachtvollen Erektion lehnen und dazu melancholisch-beschwingte Popmusik hören war indes undenkbar. Ich wollte Winter, ich wollte eiskalten, Haut verätzenden Wind, Hagel, Graupel, Regen - oh fucking hell, ich wollte alles mit sich reißenden Regen. Und Roosevelt nahm darauf natürlich keine Rücksicht; der Mann liegt ganzjährig am Strand und hat 24/7 einen Sex on the Beach in der Hand, wenigstens mental. 

Im Frühjahr 2019 zeichnet sich aber mittlerweile das ursprünglich zu erwartende Bild ab: ich bin bereit für Roosevelt. Ich bin bereit für "Young Romance". Ich bin bereit für den Frühling. Ich bin bereit für die Sonne. Ich bin bereit für synthetisch schmeckendes Eis am Stiel aus den Laboren der Lebensmittelmafia. Für kurze Hosen und Byredos Sunday Cologne bis Oktober. Für eine auf einem Schimmel sitzende Prinzessin im Modern Talking Shirt, die in den Sonnenuntergang reitet und dabei die Bohlen-Faust zeigt. Für vollgesoffene Idioten mit Biermixgetränken in durchtanzten Clubnächten. Für vegane Blowjobs unter Autobahnbrücken. Für Hornissen so groß wie der Reichstag. Für Bio-Limetten und für Rapsölmotoren. Leben, here I come.

Roosevelts Musik ist eine süchtig machende Mixtur aus Melancholie und Euphorie, sie ist zu gleichen Teilen mitreißend wie träumerisch, romantisch wie hedonistisch. Wer immer noch dem pubertären Missverständnis aufsitzt, nur auf dem Nährboden aus Trauer, Dunkelheit, Verzweiflung und (Selbst)Mitleid erwachse relevantes kreatives Schaffen: get help, srsly!




Erschienen auf City Slang, 2018.


31.01.2019

Best Of 2018 ° Platz 16 ° S.Carey - Hundred Acres




S.CAREY - HUNDRED ACRES


Das schönste Coverartwork des Jahres. Ich sah Bilder von "Hundred Acres" in den Sommermonaten auf meinem Instagram-Feed und wusste sofort, dass ich es alleine wegen des Covers ungehört zum neuen Mitbewohner des Plattenregals machen muss - erst später fand ich heraus, dass es sich um das dritte Soloalbum des Bon Iver-Schlagzeugers Sean Carey handelt. Und man sieht's mir bitt'schön nach, dass ich bis hierhin weder einen Ton seiner (überaus erfolgreichen) Hauptband, noch seiner bisherigen Solowerke gehört habe. (Zu) vieles passiert dann eben doch noch unter meinem Radar, zumal ich auch nicht selten einen natürlichen Sicherheitsabstand zu populären Bands und Musikern einhalte. Hildebrandt, Fiegen, der alte Spruch. 

"Hundred Acres" erzählt in seinen Texten vom einfachen Leben, vom neu entdeckten Blick auf sich selbst, von Rückzug und Einkehr, und Careys Musik greift diese Themen mit Entschleunigung, Ruhe und Weite auf: Akustische Gitarren, ein paar Streicher, eine vereinzelt auftauchende Steel Pedal, ein Contrabass und ein bisschen Schlagzeug/Percussion tragen die sparsam arrangierten Songs mit Careys behutsamen Gesang und sanft umarmenden Gesangsharmonien durch die Welt. Seine Melodien treffen besonders in den Schlüsselmomenten "Rose Petals", "True North", "More I See" und "Fool's Gold" sofort ins Herz, womit sich der deppertgrinsende und melancholietrunkene Blick auf's gelb gefärbte Feld im August ohne jede Einschränkung einstellen kann. Die August-Analogie kommt nicht von ungefähr: Wir hörten "Hundred Acres" vornehmlich in den immer noch viel zu heißen Abendstunden des letzten Sommers zum Gute Nacht-Kaffee, den ich mir natürlich auch bei 32°C nicht nehmen ließ. Und während angesichts von "Hundred Acres" alle Welt reflexartig die geliebten Klischees vom Winter, der warmen Decke und der Kanne Tee erwähnen muss, muss ich ebenso reflexartig natürlich vom Sommer, von freier Natur, goldgelbem Nachmittags-Sommerlicht, Strohhüten und Kaffee schwadronieren. 

"Du bist so anders!" sagten mir schon vor 30 Jahren meine Rollkunstlauf-Kolleginnen, als ich zur Titelmelodie der Detektivserie "Magnum" in einem Glitzerfummel und hautengen Stretchhosen vor Erwachsenen Menschen den doppelten Rittberger tanzte.

Sag bloß!


Pressung: ++ (die Qualität des grünen Vinyl ist mit einigen Störgeräuschen (no fills) diskussionswürdig - insgesamt aber hörbar)
Ausstattung: ++++ (Tolles Artwork und Design, Gatefold Cover, single LP, grünes Vinyl, farbig bedrucktes Inlay mit Texten)


Ein tolles Video mit umwerfenden Versionen von "True North", "Yellowstone" und "Rose Petals" (Die Gesangsharmonien! DIE GESANGSHARMONIEN!):



Erschienen auf Jagjaguwar, 2018.


30.03.2018

Best of 2017 ° Platz 3: Jordan Rakei - Wallflower




Platz 3: JORDAN RAKEI - WALLFLOWER


Im Oktober des letzten Jahres schrub ich an anderer Stelle über "Wallflower", das zweite Album des gebürtigen Australiers Jordan Rakei werde in der Jahresendabrechnung ganz sicher unter den ersten 5 zu finden sein. Nun ist es tatsächlich die Bronzemedaille geworden - und das ist, wie ich mir just in diesem Augenblick nochmal via Endlosschleife auf dem Plattenteller versichern lasse, nicht nur verdient, sondern sogar das untere vorstellbare Limit. Das ist eine sensationell gute Platte. 

Aufmerksam geworden bin ich auf den mittlerweile in London lebenden Multiinstrumentalisten bereits 2016. Das Coverartwork seines "Cloak" Debuts (erschienen auf Soul Has No Tempo), ein kunterbuntes und geheimnisvolles Gemälde von der kuwaitischen Künstlerin Zaina Al Hizami versprach wenigstens Interessantes - und ich sollte nicht enttäuscht werden. "Cloak" ist ein beeindruckendes Debut und zeigt bereits Rakeis Fähigkeit, aus rhytmisch raffinierten Kompositionen eingängige Refrains zu entwickeln. Fatalerweise war und ist die Vinylpressung von "Cloak" eine der furchtbarsten aller Zeiten, und so gab ich nach drei Versuchen (jeweils bei unterschiedlichen Mailorders bestellt) entnervt auf: die erste Lieferung hatte zwei Mal die A/B-Seite in der Hülle stecken, aber keine C/D-Seite - trotz Laminierung! Was zum Fick? Der zweite und dritte Anlauf sollte die negativen Kommentare auf Discogs bestätigen: ein einziges Kratzen, Schleifen und Springen. Ich habe wirklich noch niemals eine derartig miese Pressung gehört, aber das hält natürlich niemanden davon ab, "Cloak" immer noch zum Verkauf anzubieten. Ganz im Gegenteil, denn mittlerweile ist das Vinyl ziemlich rar geworden und kostet eine ordentliche Stange Geld. Augen auf beim Plattenkauf: so toll die Musik auf der Platte auch ist, ist hier ganz sicher ein anderes Format vorzuziehen. 



Die Vinylpressung von "Wallflower" hingegen ist fehlerlos und damit ganz so, wie man es von Ninja Tune erwarten konnte. Rakei ist mittlerweile zum britischen Spezialistenlabel für modernen Eklektizismus gewechselt und das macht Sinn: seine Musik zeigt Einflüsse aus Jazz, Rhythm & Blues, Hip Hop, Electronica, Soul und Reggae, die er hier noch mehr als auf "Cloak" zu einer homogenen, äußerst stimmungsvoll in Szene gesetzten Melange zusammenfügt. "Wallflower" ist nicht nur ernster und dunkler als der Vorgänger, es zeigt auch einen lyrisch deutlich intimere Seite des Musikers, der unglaublicherweise erst 25 Jahre alt ist: Rakei reflektiert in seinen Texten sein Leben als "Outsider" in sozialen, zwischenmenschlichen Situationen, zeigt sich auf "Wallflower" sehr persönlich und und wollte das auch im Coverartwork widerspiegeln: das Bild des kleinen Jungen mit dem überspannten Regenschirm ist der junge Jordan im australischen Brisbane:

"It's an image that's very personal to my family and me. It's a picture of me that used to sit in our house when we were growing up. Visitors would always comment on it. Because the album is so personal, I wanted to make sure I didn't overcomplicate the artwork. I was focused on portraying as much vulnerability as possible, and this photo definitely represents that."

Das fällt bei der Wohngemeinschaft Dreikommaviernull mit seinen ehemaligen Kindern des Grunge natürlich auf offene Herzen und geradewegs in sanft pulsierende Hosen: wir waren beide derart angetan von dem über Wochen auf heavy rotation laufenden "Wallflower", dass wir uns an einem kalten Novemberabend und nach einem wie gemalt maximal abgefuckten Arbeitstag ins 80 Kilometer entfernte Mannheim bewegten, um gemeinsam mit einer überraschend hohen Anzahl Besucher Rakei nebst seiner Liveband auf der Bühne zu bewundern. Wir würden es jederzeit wieder tun. In a heartbeat. 

Ich habe weiter oben von Rakei's "rhythmisch raffinierten Kompositionen" geschrieben und als Paradebeispiel kann, wenn nicht gar: muss "Sorceress" genannt werden; hier in einer leider nicht optimal aufgenommenen Liveversion aus New York. Es ist jedes Mal aufs Neue verwunderlich, wie prima das alles ineinanderfließt - und wie die Band es schafft, dabei nicht komplett auseinanderzufallen:




Und weil die Performance von "Talk To Me" beim letztjährigen North Sea Jazz Festival so umwerfend ist, gibt es das Video noch als extra Zugabe - auch wenn der Song vom Vorgängeralbum "Cloak" stammt. Was für ein Monsterdrummer das ist.



Erschienen auf Ninja Tune, 2017.


17.03.2018

Best of 2017 ° Platz 5: Tara Jane O'Neil - Tara Jane O'Neil



Platz 5 - TARA JANE O'NEIL - TARA JANE O'NEIL


Im Dezember 2016 schrieb ich über das zwei Jahre zuvor erschienene Album der US-amerikanischen Multinstrumentalistin Tara Jane O'Neil, "Where Shine New Lights" sei "möglicherweise die vollkommenste Verbindung ihrer experimentellen, bisweilen launischen Kunst und ihrem klassischen, in Blues und Folk verwurzelten Singer/Songwriter-Ansatz." Auf ihrem aktuellen, selbstbetitelten Album hat O'Neil die offensichtlichsten Experimente im Gitarrenkoffer gelassen und dem Singer/Songwriter in ihr die Oberhand gewinnen lassen. Das Ergebnis ist von beinahe so blendender Schönheit wie die Sonnenreflektion auf dem wunderbaren Coverartwork; eine betörend warmherzige Musik, der es trotz der im Vergleich zu früheren Arbeiten deutlich abgerundeten Ecken und Kanten erstaunlicherweise nicht an Tiefgang fehlt. Das liegt zum einen an den subtil im Sound versteckten Details, die Dank der durchaus großformatig inszenierten Produktion durchgängig wahrnehmbar sind, ein tiefes, sonores Brummen als Mutterboden für ihre sowohl perlenden als auch dürren Haarliniengitarren, das Zischeln der Becken, ihre zu Liedtexten transformierten Gedichte und die im Vordergrund stehende, glasklare Stimme. Das Schnarren der Gitarrensaiten - man meint manchmal gar, die Innenseite der akustischen Gitarre spüren, sehen, hören zu können. Zum anderen ist O'Neils Ansatz, und darauf legt die Künstlerin wert, nicht besonders konventionell zu nennen. Ihr Ziel ist es nicht, everybody's darling zu sein, ihre Akkordfolgen und Arrangements sind ungewöhnlich und bisweilen spröde - und trotzdem spielt diese Musik nicht in der Liga von Lo-Fi-Schlafzimmerproduktionen. Es ist ein Album des Reichtums der kalifornischen Sonne und des dazu passenden Lebensgefühls, heruntergekocht auf die erste Tasse Kaffee des Tages an einem friedlichen Frühlingsmorgen.  




Erschienen auf Gnomonsong, 2017.

15.11.2017

Bruce Dickinson - Skunkworks




Dickinsons drittes Soloalbum leidet in der Wahrnehmung vieler Rockfans bis heute unter durchwachsenen und inhaltlich völlig fehlgeleiteten Reviews der damaligen Zeit und ist kriminell unterbewertet. Als Produzent wurde Grunge-Ikone Jack Endino verpflichtet und alleine dessen Auswahl in Verbindung mit Dickinsons abgeschnittener Haarpracht brachte viele Musikkritiker dazu, dem Album den großen "Alternative Rock"-Stempel aufzudrücken - was bei vielen kopfbetonierten Rockern und Metallern dazu führte, die Platte erst gar nicht anzuhören und stattdessen die schöne Frischluft mit dem elendigen Gewürge von Verrat (am Metal, logisch) und Trendreiterei zu verpesten. Von Grunge oder Alternative Rock war auf "Skunkworks" damals wie heute nur wenig zu hören - und selbst wenn schon: wer im Jahr 2017 nochmal ein "Alternative Rock"-Album wie beispielsweise das Debut von Blind Melon auf den Plattenteller wirft, wird ob der Nähe zu sattem 70er Jahre Rock ungläubig mit den vermutlich am, Pardon: Arsch festgetackerten Ohren schlackern. Dickinson wollte nichtsdestotrotz mit der bereits beim Vorgänger "Balls To Picasso" eingeleiteten Entwicklung auch für "Skunkworks" den nächsten Schritt wagen und sich weiter emanzipieren - was mit Endino als Produzent, verändertem Aussehen und der nochmal weiter geöffneten stilistischen Ausprägung seiner Musik so radikal wie möglich ausfallen sollte. So gab er der Band, die ihn schon auf der Tour zu "Balls To Picasso" begleitete, den Namen Skunkworks und war so überzeugt von der Euphorie und der Motivation der blutjungen Musiker, dass er sogar seinen eigenen Namen vom Cover getilgt haben wollte. "Skunkworks" sollte also als Bandalbum, und nicht etwa als neues Soloalbum von Bruce Dickinson erscheinen, aber wie bereits in den vorangegangenen Jahren schob auch hier die Plattenfirma einen Riegel vor. Die Vermarktung des Produkts ist eben alles - und während ich das schreibe, schicken mir Maiden-Manager Rod Smallwood und -Bassist Steve Harris vermutlich gerade eine Postkarte von ihrem öchzig Trilliarden Kilometer langen Privatstrand in der Karibik, das Porto zahlt freilich der Empfänger.

Die Einlassung zur Vermarktung der Hülle stimmt selbst (magis: ganz besonders) dann, wenn der Inhalt dazu angetan sein dürfte, die vielen ehemals loyalen Stammfans zu verprellen. Über das Kreuz mit der Legion konservativer Rock- und Metalfans habe ich auf diesem Blog mehr als nur einmal geschrieben und unzählige Beispiele von Bands erwähnt, die nach erfolgter Umsetzung ihrer künstlerischen Freiheit von ihren Anhängern wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen wurden, weil "You are free to do as we tell you." (Bill Hicks) - und bevor nun der nächste Kuttenheinz das große Wimmern anfängt, man kennt ja seine Pappenheimer: ich weiß, dass ich diesbezüglich nur zu gerne und wahrscheinlich übertrieben hart auf die armen kleinen Metaller einprügele und ich weiß auch, dass es in anderen Szenen nicht unbedingt besser aussieht. Wer will, kann ja mal Weezers Rivers Cuomo nach seiner künstlerlichen Entfaltung fragen; der freut sich ob seiner in Teilen gleichfalls schädellaminierten Anhänger, die immer wieder das gleiche Album von ihm hören wollen, bestimmt auch ein zweites Loch ins kalifornische Popöchen.

"Skunkworks" haftet dennoch bis heute dieser Alternative-Quatsch an und es geht sich partout nicht aus - vielleicht ergibt sich ja jetzt mit der Wiederveröffentlichchung die Möglichkeit, das Visier nach über 20 Jahren Quadratdoofheit doch nochmal neu zu justieren. "Skunkworks" ist das, was Matthias Breusch in seiner aktiven Zeit als Musikredakteur so gerne als "mit positiver Power aufgeladenes Kraftfutter" bezeichnet hätte: Frisch wie Morgentau, perlend wie Schampus, ein Punch wie ein vierfäustiger Mike Tyson, melodischer als Abba 1977. Perfekt von Endino als Frischzellenkur für einen alten Hasen inszeniert, ohne auch nur eine fucking Sekunde an der Peinlichkeitstür zu klopfen. Unterstützt von den jungen Wilden Alex Dickson (Gitarre), Chris Dale (Bass) und Alessandro Elena (Schlagzeug) trumpft Dickinson groß auf. Gerät der Einstieg mit "Space Race" noch etwas schaumgebremst, gibt es schon ab der folgenden Single "Back From The Edge" im Prinzip kein Halten mehr, dafür aber weitere Highlights wie "Inertia", "Solar Confinement", "Inside The Machine", "Meltdown" und "Octavia" - allesamt echte, großartig produzierte Hits. 

Wer das auch 20 Jahre später immer noch nicht hören will oder kann, darf sich meinethalben total gerne off-fucken gehen.




Erschienen auf Raw Power, 1996.


11.11.2017

Bruce Dickinson - Balls To Picasso




Das Leben nach Iron Maiden zeigt Bruce Dickinson auf seinem ersten Solowerk nach seinem Ausstieg bei den eisernen Jungfrauen als Freischwimmer. Das letzte gemeinsame Maiden-Album "Fear Of The Dark" und noch mehr die darauf folgende Tournee und den dabei aufgenommenen, grausamen Livealben "A Real Live One" und "A Real Dead One" zeigten, dass Dickinson nicht mehr glücklich war; auch die restliche Band präsentierte sich weitgehend orientierungslos und wusste nicht mehr, ob sie nun Fisch oder Fleisch spielen wollte. "Balls To Picasso" ist die logische Konsequenz aus den letzten Jahre mit Maiden. 

Das Projekt ging dabei durch mehrere Iterationen, allesamt mit dem Anspruch ausgestattet, den Musiker Bruce Dickinson komplett neu zu erfinden. Das Motto war: strikte Abgrenzung von Maiden, klare Abnabelung von seiner Vergangenheit und damit auch - in Teilen - von seinen Fans. Zunächst arbeitete Dickinson mit der britischen Hardrocktruppe Skin als Backing Band, anschließend folgte eine Session mit Mainstreamproduzent Keith Olsen - und beide Aufnahmen wanderten in den Giftschrank, nachdem die Plattenfirma kalte Füße bekam (die Tracks wurden erst 2005 im Rahmen der Neuauflage des Albums öffentlich gemacht). Schlussendlich wurde Shay Baby aus Los Angeles als Produzent ausgewählt, der Dickinson darüber hinaus mit der Latino Rockband Tribe Of Gypsies und deren Gitarristen Roy Z bekannt machte und besonders von letzterem sollten wir in den folgenden Jahren noch mehr zu hören bekommen.

"Balls To Picasso" experimentiert zwar mit einem deutlich luftigeren, offeneren Sound und einer Menge ungewöhnlicher Rhythmen, hält sich aber immer noch deutlich im Kosmos zeitgenössischer Rockmusik auf - nicht zuletzt wegen Dickinsons Stimme, deren Ursprung aus Downtown Rockröhrenhausen er auch mit den größten experimentellen Ambitionen einfach nicht verstecken kann, auch wenn er es beispielsweise im poppigen "Change Of Heart" (siehe das Video unter diesem Text) sehr offensichtlich versucht. Für mich ist "Balls To Picasso" dank herausragender Songs wie "Hell No", "Cyclops" und dem fantastisch gesungenen "Gods Of War" sein zweitbestes Soloalbum, ganz besonders wegen des neuen Sounds, des frischen Vibes und der Aufbruchstimmung - die im Grunde nur durch das sehr konventionelle und damit auch - logisch! - kommerziell erfolgreiche "Tears Of A Dragon" gestört wird, einem zwar guten, aber im Albumkontext leicht deplatziert wirkenden Song. 

Die immer wieder kolportierte Nähe zum damals angesagten Alternative Rock lässt sich allerhöchstens in Spurenelementen nachweisen, etwa bei dem mit fixem Sprechgesang versehenen "Sacred Cowboys" - darüber hinaus ist "Balls To Picasso" ein frisches, mit zahlreichen Hits gespicktes und in Teilen ungewöhnliches Rockalbum mit eigenem Sound und einer eigenen, ganz besonderen Stimmung. Auch wenn das Boot eigentlich in eine andere, weitaus experimentellere Richtung hätte fahren sollen, bevor das Label den Notanker auswarf, muss Dickinson hoch angerechnet werden, das Boot überhaupt betreten und den Kompass richtig eingestellt zu haben. 

Dass die Mär von "genau dem Album, das ich zu 100% machen wollte" für zehn Jahre Aufrecht erhalten wurde, bis Keith Olsen und Shay Baby den Einfluss und die Intervention des Labels, beziehungsweise des Managements öffentlich machten, spricht erneut Bände über das Musikbusiness einerseits und den gemeinen Rockfan andererseits - eine Symbiose, die jede Kreativität und jeden Fortschritt im Keim erstickt. Es lebe der Stillstand. 
  




Erschienen auf EMI, 1994.

24.02.2017

2016 ° Platz 10 ° Brazzaville - The Oceans Of Ganymede




Mein musikalisches 2016 war ein bemerkenswertes Jahr. Dass sich die virtuell mit mir herumgeschleppte Liste mit den besten Platten über das Jahr lässig und beinahe wie von selbst füllte, ist dabei nicht der außergewöhnlichste Punkt; dass sich indes unter den 20 Gewinnern des letzten Jahres eine gar nicht so kleine Anzahl von Alben tummeln, die einen so großen Eindruck auf mich und meinen Alltag der vergangenen Monate machten, die mir so ans Herz gewachsen sind, dass sie aus meinem Leben gar nicht mehr wirklich wegzudenken sind, ist hingegen beispiellos. 

"The Oceans Of Ganymede" ist eines dieser Alben. Meinen Sommer 2016 erlebte ich vor allem mit dieser Musik, und es gibt so viele Bilder, die mit ihr verbunden sind: als ich wegen des plötzlich in den Song kriechenden Saxofons in "Fanny" in der heißen Badewanne lag und trotzdem Gänsehaut bekam. Der brütend warme und daher auf der faulen Haut und in eiskaltem Gin Tonic verbrachte Samstagnachmittag, an dem sich die Sonne zwischen den heruntergelassenen Jalousien (und Hosen) ins Wohnzimmer erbrach und der Reggaebeat und die frech geklimperten Klavierspitzen von "Rockaway Beach" das Fernweh an die Sonnenseite New Yorks beinahe unerträglich werden ließ - und dabei war ich weder jemals in New York, noch an der Rockaway Beach:

Tiny sand dunes 
In the midday sun 
Tattooed young Dominicans 
A gentle breeze from New York City 
Salt and diesel fumes 
And life seemed not so out of reach 
That day on Rockaway Beach 

She seemed so serious 
And so debonnaire 
Salt water dryin' in her hair 
Her eyes closed tight against the glare 
Life's hard at 23 
But life seemed not so out of reach 
That day on Rockaway Beach 

Candy wrappers 
In the sand 
Old men strollin' down the strand 
Airplanes off to distant lands 
Full of hopes and dreams 
And life seemed not so out of reach 
That day on Rockaway Beach




Oder die morgendlichen Fahrten ins Büro durch den Frankfurter Downtown-Sommer mit "Happy Man" und "Aurelia", die mit ihrem Drive gleichzeitig Sorgenglätter und aurale Vitamin-D-Spender waren. 

Noch heute höre ich "The Oceans Of Ganymede" sehr regelmäßig. Und weil ich bei unseren Bandproben wohl derart blind und naiv ins grenzenlose Schwärmen geriet, und die beiden Blank When Zero-Jungs komplett wahnsinnig und außerdem komplett toll und großartig sind, kann ich jetzt sogar die komplette Brazzaville-Diskografie, erhältlich bei Bandcamp, ebenfalls sehr regelmäßig hören - was ich, nehme ich die Nerd-Statistiken meines Last.fm Kontos für bahre Münze, auch tatsächlich und immer noch tue. 

Es gibt "keine Note auf dieser Platte, die nicht den Geist Barcelonas zwischen urbaner Freiheit, Ausgelassenheit und Melancholie mit dem bittersüßen Fotofilter aus dem Sommer 1976 einfängt. Es gibt keine Note auf dieser Platte, die ohne herzergreifende Wärme, Liebe und Hingabe gespielt ist, keine Note, der nicht die Sehnsucht nach Frieden und Schönheit innewohnt." - das schrieb ich im Mai 2016 in meinem ersten Text zu "The Oceans Of Ganymede". 

"Mehr habe ich nicht hinzuzufügen." (Polt)




Erschienen im Eigenvertrieb Brazzaville, 2016.

18.02.2017

2016 ° Platz 11 ° Young Magic - Still Life



"Still Life" ist urbaner Next-Level-Shit für das Großstadtgeflacker. Für nächtliche Taxifahrten durch Downtown. Für kalten Toast mit einem Glas warmer Reismilch zum Abendessen. Für melancholisch auf der Fensterbank sitzen und rauchend in den Regen gucken, während eine Leuchtreklame für die abgerissene Cocktailbar im Erdgeschoss zwei aufgespießte Oliven in Neonrosa tanzen lässt. In Manhattan, versteht sich. Wenn es dort noch abgerissene Cocktailbars gäbe, versteht sich. Dabei sind die wohl alle...abgerissen. Pun intended.

Ein tiefenromantisches Album über die Suche nach sich selbst. Ich habe über die Auseinandersetzung mit "Still Life" in den vergangenen Monaten mit einiger Verblüffung gelernt, wie sehr es seine Entstehungsgeschichte reflektiert und wie stark mich diese Musik nicht zuletzt deswegen in ihren Bann zieht. Denn was oftmals als beiläufiges Hören begann, entwickelte sich nicht nur zu einem beinahe aktiven Austausch mit Sängerin Melati Malay und den mystisch aufgeladenen Geschichten der Erlebnisse Ihrer Weltreisen, der Selbstsuche auf den Spuren des verstorbenen Vaters. Auch das kaskadierende Soundgetröpfel von Isaac Emmanuel ist in seinem Wechselspiel zwischen perkussiver Stimulanz und nebliger Zurückhaltung eine reine Wohltat; in einer Gegenwart zumal, in der es kaum bellender, galliger und schriller zugehen könnte. 

Eintauchen & Abtauchen. Am Ende ist es wahrscheinlich nur Popmusik. Und ich bin echt froh darüber, sie erleben zu dürfen.




Erschienen auf Carpark, 2016.


Noch mehr über "Still Life" lesen? Hier geht's weiter.


25.12.2016

All Hail The Wünschelrute




TARA JANE ONEIL - WHERE SHINE NEW LIGHTS


Das glimmende Räucherstäbchen in meinem Wohnzimmer, der auf das Terassenvordach prasselnde Regen, der in der "Morgenmuffel"-Tasse vor sich hin dampfende Kräutertee, die gelb gefärbten Blätter des kranken Kirschlorbeerbaums, die schamanischen Verbiegungen des Frontallappens: es ist Zeit für "Where Shine New Lights". Ein Album, mit dem sich problemlos ein kompletter verregneter Samstag vor dem Plattenspieler verbringen lässt. Ein subtil arrangiertes, sich um ausgedehnte Melodien würmelndes Werk voller großer Ruhe. Introspektiv wäre eine Untertreibung. Jede Note am richtigen Fleck zur richtigen Zeit. Kilometertiefes Plüschfutter zum ganz tiefen Einsinken in Deine Welt, Deine Gedanken und Deine Liebe.

Tara ist vielen Post- und Noiserock-Aficionados älteren Semesters möglicherweise noch aus ihrer Zeit mit Rodan bekannt, einer in kleinem Rahmen durchaus einflussreichen, wenngleich weitgehend obskur gebliebenen Band, die sich nach dem ersten und einzigen Album "Rusty" aus dem Jahr 1994 auflöste und stilistisch zwischen Slint, frühen Tarentel und June Of '44 agierte. Seitdem ist die Multiinstrumentalistin weit gereist: Konzeptkunst, Malerei, Soloprojekte, Soundtracks, Theater. Sieben Soloalben stehen seit dem im Jahr 2000 erschienenen Soloalbum "Peregrine" auf der Agenda, und "Where Shine New Lights" ist möglicherweise die vollkommenste Verbindung ihrer experimentellen, bisweilen launischen Kunst und ihrem klassischen, in Blues und Folk verwurzelten Singer/Songwriter-Ansatz. 

Besonders eindrücklich sind jene Momente, die das Album urplötzlich als Einheit präsentieren, wenn sich also aus geheimnisvollen Minuten tiefer Pulsschläge, aus ätherischer Weite und dissonanter Gesangsarrangements völlig unverhofft die große Melodie unter der ganz großen Bühne zeigt - ganz kurz, wie ein in Sekundenbruchteilen erhaschtes Blinzeln auf den Reichtum des Grand Canyon: gerade lang genug, um die Ahnung zu füttern, was es hier alles zu Entdecken gibt. Und ebenso lange genug, um zu verstehen, dass diese Ahnung ohne das Vorspiel, die Hinführung durch tiefrot geklöppeltes Buschland nicht möglich gewesen wäre. Herausragende Beispiele hierfür sind "Glow Now" und ganz besonders "Elemental Finding", das es auch unten als Video zu bestaunen gibt: immer wieder durch kurze und intime Instrumentalpassagen unterbrochen, steht am Ende ein zurückgezogener Folkschunkler mit violett pumpender Aura mitten in der Natur, im Innern, im Licht.




Erschienen auf Kranky, 2014.



17.12.2016

Dauerfeuerbrennerlöscher



YOUNG MAGIC - STILL LIFE


Es gab in 2016 so einige Platten, die mein Leben vermutlich auch über das immer noch andauernde Superscheißjahr 2016 hinaus prägen werden; in erster Linie, weil ich mit Ihnen eine bestimmte Zeit, auch ganz besonders ein Lebensgefühl verbinden werde. Und einige davon werden vielleicht wichtig für das restliche Leben werden, sei es, weil sie besondere Saiten in mir angeschlagen haben, sei es, weil ich mit ihnen überhaupt nicht rechnete und die Überraschung und Begeisterung nicht zuletzt genau davon getragen wird und wurde. "Still Life" könnte so eine Platte werden.

Das Debut "Melt", vor einigen Jahren für kleines Geld und in erster Linie wegen des umwerfenden Coverartworks gekauft, gefiel mir gut, aber mit etwas despiktierlichem Mut ließe ich mich zu der Bewertung hinreißen, seine Existenz verdanke es fast ausschließlich der Erfolgssingle "You With Air" - einer faszinierend subtil arrangierten und von einem Weirdo-Charakter getragenen Popnummer, die "Melt" mit sich riss und mit sich reißen konnte. Der Nachfolger "Breathing Statues" fiel hingegen nach wenigen Momenten des Zuhörens komplett durch die Qualitätskontrolle - ich kann das nicht weiter ausführen, außer der Feststellung, dass ich es keine 2 Minuten hören konnte. Und wollte. 

"Still Life" bringt mich an meine Grenzen, über Musik zu sprechen und zu schreiben, und ich gebe Überlegungen zu, den Text einfach mit einem "Diese Musik zieht mich magisch an." zu beginnen und gleich danach mit einem "Isso!" zu schließen. Macht damit, was ihr wollt. Mir fällt dazu nicht mehr ein.

Sängerin Melati Malay schrieb "Still Life" während ihren Reisen nach Tokyo und Bali, in ihrer Heimat New York, in den Catskills und während ihres Aufenthalts an ihrem Geburtsort auf Java, Indonesien. Sie verarbeitet mit diesem Album den Tod ihres Vaters im vergangenen Jahr mit einer sphärischen und mystischen Musik, die melodisch zu gleichen Teilen undeutlich als auch opulent ist. Für letztgenannte Einschätzung ist Auseinandersetzung gefragt, denn eingängig ist hier gar nichts. "Still Life" hält sich energetisch als weißer Rauch kurz über Normal Null. Unauffällig und in seiner extremen Verhuschung doch überaus stimmungsvoll - auch wenn ich die Stimmung beim besten Willen nicht dechiffrieren kann: Malay und ihr Partner Isaac Emmanuel haben nicht nur in dieser Frage ein paar falsche Fährten gelegt und sich praktisch unsichtbar gemacht, sie haben ebenfalls dafür gesorgt, dass die Einflüsse und Wurzeln ihrer Musik kaum mehr zu erkennen sind. "Still Life" ist alles - und gleichzeitig nichts. Die Nennung indonesischer Musik, Pop aus den 1980er Jahren, urbaner Avantgarde aus dem brodelnden New Yorker Underground, Clubsounds und Indie-Shoegazer ist nicht nur eine untaugliche, weil heillos unvollständige Auflistung von Genres, es ist angesichts dieses echten Schmelztiegels und der beinahe vollständigen Auflösung von Konturen, Grenzen und Strukturen völlig irrelevant. 

“In a way, Still Life became a kind of antithesis to a world where people tell you who to pray to, what to buy into, and who your enemies should be. It’s my reaction. Still Life is my way to celebrate music from all corners…my home without borders.” 

Mir kommt sowas nicht oft über die Lippen, aber ich glaube es wirklich: "Still Life" ist ein Meisterwerk.





Erschienen auf Carpark, 2016.

21.08.2016

Colour & Hope




PETE JOSEF - COLOUR


"Colour" ist wieder mal ein formidables Beispiel für die heutige Berichterstattung in Musikmedien: Irgendwer hat sich den berühmten Waschzettel für das Label ausgedacht, die bisherigen Stationen Josefs, seine Kollaborationen und die Verbindungen zum Berliner Label Sonarkollektiv aufgeschrieben und dazu jeden Genrefetzen, der mit seiner Musik auch nur im Entferntesten verbunden sein könnte aufs Blatt erbrochen - und jeder, wirklich jeder hat's übernommen. Egal ob auf Englisch oder auf Deutsch, es steht überall der gleiche Kram. Manchmal direkt und eins zu eins kopiert, ein anderes Mal mit einem bisschen Füllmaterial aufgehübscht. Da fragt man sich schon, wer sich die Platte eigentlich noch angehört hat. Andererseits: so kann man auch wirklich nichts mehr falsch machen. Auf keiner Seite. 

Multiinstrumentalist aus Bristol, best known for dings und bums...hier...na?! ex-Underworld, genau. White Lamp, dazu irgendwas mit Soul, in sepia getaucht, Berlin, na logo -- ditte is meen Ballin, wa? Butterweiche Stimme, Multiinstrumentalist, wohnt jetzt auf dem Land. Multiinstrumentalist ist er übrigens auch, hatte ich noch nicht erwähnt. EY! MULTIINSTRUMENTALIST! AUF DEM LAND!


Cut. Schnitt. Pause. 


Ich habe mich etwas vor dieser Platte gedrückt und das lag nicht daran, dass der in Bristol aufgewachsene Multiinstumentalist...*dampf*...das lag jedenfalls nicht daran, dass die Musikpresse sich mal wieder selbst am eigenen Schwachsinn berauschte. Ich will ehrlich sein: mir war der Name des Multiinstrumentalisten aus Bristol gar nicht geläufig, aber wie schon ungefähr öchtzig Mal auf diesen Seiten erwähnt - oh the irony! - partiet (sic!) Herr Dreikommaviernull like it's 1993 und lässt sich also von den entzückenden Coverartworks das Portemonnaie und die Hose öffnen; außerdem erscheint "Colour" auf dem Berliner Label Sonarkollektiv - und das kann dann in der Kombination wirklich nicht mehr schlecht sein. Was ich dann zunächst hörte, kitzelte Klischeebilder im Familienpack aus mir heraus: bestimmt ein total smoother Multiinstrumentalist aus Bristol, sexy, urban, trägt bestimmt geraffte Schals und Strickjacken (auch im Sommer) und Zwanzigjährige posten sich auf Instagram um die Reste des Verstands, die den Ausgang trotz Biermix und Döner für zwofuffzich auf irgendeinem superhipmegaabgefahren Festival - im Grünen, am See, an der Müllverbrennungsanlage, is' eh schon alles egal - noch nicht gefunden hatten, alles schön im Sepiafilter, mit glitzernder Sonne und geöffneter Raviolidose im Hintergrund. 

Nun arbeitet Herr Siebenkommafünfacht aber auch gerne an sich und vor allem am ständigen Abbau der eigenen Unzulänglichkeiten, wo nicht Vorurteile, zumal den zu schnell gefällten, und legte "Colour" immer und immer wieder auf. Das soll nicht heißen, dass ich mich mit einer glühenden Peitsche aus sich frisch ergossener Lava zum Plattenspieler prügeln musste - ich mochte die Musik des 23-jährigen Mulstiinstramentulizsten aus Bristol: ein extrasmoother Mix aus mundgeblasenem Indiesouljazz, der selbst in den etwas rassigeren und mit Latintouch ausgekleideten Momenten im besten Sinne behutsam bleibt. Melodisch überaus virtuos, atmosphärisch hingegen weichgezeichnet, ohne auch nur ein Eckchen und Käntchen herausgucken zu lassen. Für den Style, den roten Faden, die Idee. Das ist stark. Und je länger und öfter und aufmerksamer ich "Colour" verfolgte, hörte und in mein Leben hinein ließ, desto schneller verschwanden die Klischees in meinem Kopf. Ich war geheilt. Ich kann wieder sehen, ich kann wieder gehen. 

Während das Album bereits im Oktober 2015 veröffentlicht wurde, erschien die limitierte Schallplattenpressung im schicken Gatefold und wie bereits angesprochen mit tollem Coverartwork im März diesen Jahres, und die Chancen stehen gut, dass ich über "Colour" im Jahresrückblick 2016 erneut einige warme Worte verlieren werde. Mache mir die Welt, widdewiddewie sie mir gefällt, est. 1977.


Sollte man kennen.









Erschienen auf Sonarkollektiv, 2015/2016.