STRIE & SCANNER - STRUKTURA REVISITED
Alles auf Anfang. Wir lassen den Plüsch hinter uns, das Seifige, den Weichzeichner. Es wird kalt. Denn Kälte macht wach, sagt man. Wir sind aufmerksam und hochkonzentriert.
Eintauchen.
Es ist karg und unwirtlich hier. Was sich im Weitwinkel als diffus zerklüftete Struktur darstellt, in großer Ferne und damit beinahe unerreichbar, entwickelt sich beim Blick durch das Elektronenmikroskop plötzlich zu einem komplexen Muster mit diffiziler Mechanik. Selbst der Weg dorthin, also jeder Schritt der Verdichtung und Fokussierung, verändert das Gebilde. Es lebt. Es lebt in den tieferen Schichten, auf molekularer Ebene. Im Land der Riesen ist es gleichbedeutend mit dem Zwielicht, dem Verborgenen und Unbekannten - aber welche Arroganz ist es, dieser usprünglichsten und klarsten Form der Existenz den Zweifel des Obskuren zu verleihen?
Es ist kathartisch, Teil dieses Nanokosmos zu werden, weil die Vertiefung jeden Raum, jede Zeit und jedes Leben zum Erlischen zwingt. Man spürt, das ist die Stunde Null. Der Autor Roger Willemsen schrieb in seinem Buch "Die Enden der Welt" über ebenjene, dass sie sich anfühlten, als betrachte man die Landschaft nicht frontal, sondern eher über die Rückseite einer Landschaftsstickerei. "Struktura Revisited" vermittelt ein ähnliches Empfinden, nur dass der Blick auf einen winzigen Partikel eines einzelnen Fadens dieser Stickerei fokussiert ist. Das Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, ist allerhöchstens noch zu einer Ahnung geschrumpft - und doch ist die Erfahrung existenziell. Als höre man dem Urknall in Zeitlupe zu.
Olga Wojciechowska veröffentlichte "Struktura" im Jahr 2015 unter ihrem Alias Strië auf dem Label Serein in kleiner Auflage exklusiv auf CD. "Struktura" wurde inspiriert von moderner Malerei des 20.Jahrhunderts; so teilt jeder Track seinen Namen mit einem abstrakten Kunstwerk aus jener Epoche. Strië möchte es dem Hörer erlauben, die Musik frei von jedem begleitenden Narrativ zu erfahren, selbstständig zu entdecken und zu interpretieren.
"There is pleasure to be found in viewing or hearing something without a definite narrative, allowing the mind to wander and find its own meaning."
Ryan von A Strangely Isolated Place hat für "Stuktura Revisited" nun Strië und Scanner an einen Tisch gebracht. Scanner ist der Alias von Robin Rimbaud, einem Londoner Produzenten und Multimediakünstler, der seit den 1990er Jahren für einige Meilensteine der elektronischen Musik gesorgt hat. Scanner interpretiert "Struktura" für dieses Projekt an einem Stück im Rahmen eines Live-Settings ohne nachträglich hinzugefügte Overdubs. Der Ansatz verleiht seiner Aufnahme einen unmittelbaren Charakter. Nicht nur erlaubt er neue Perspektiven auf "Struktura", in dem er dessen endlos erscheinende Tiefe auffächert und kinematographisch verbreitert - er fügt der ohnehin bereits beträchtlichen Abstraktion des Originals klandestine, bisweilen dystopische Ebenen hinzu. "Struktura Revisited" flechtet mit seiner Exegese damit ein unheilvolleres, zu gleichen Teilen morbideres wie nervöseres Bild.
Nach der Struktur kommt die Unordnung.
Vinyl: Neben der Musik von Strie und Scanner ist das atemberaubende Coverartwork des niederländischen Künstlers Rep Ringel eine fundamentale Komponente des Gesamtwerks. Rep kreierte seine Kunst zunächst auf sehr großen Leinwänden. Im Laufe der Zeit begann er damit, die Bilder für ein Artbook zu fotografieren, das er exklusiv an seine Kunden verteilte, die eines seiner Werke kauften. In diesem Prozess fiel ihm auf, wie viele neue Perspektiven sich eröffnen, wenn er sehr weit in seine Bilder hineinfokussiert. Eines der Ergebnisse sehen wir auf dem Cover von "Struktura Revisited" und ich hoffe inständig, die Parallelen zwischen der Musik und dem Artwork im obigen Text wenigstens in Ansätzen erfolgreich herausgearbeitet zu haben. Die Platten selbst sind in ihrer grau-schwarzen "Halb und Halb"-Optik ein wichtiger Teil des konzeptionellen Designs. Die Pressung meines Exemplars ist trotz der etwas anfälligen Gestaltung einwandfrei. Darüber hinaus, und wie immer bei ASIP: gefütterte Inlays, Bandcamp-Downloadcode, Album-Flyer. (+++++)
Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022.
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