Ein Blick auf meine Musiksammlungsdatenbank aus Giga-Nerdhausen, vulgo: Discogs, verrät, dass ich im Jahr 2021 tatsächlich nur drei Platten gekauft habe, für die der Stempel "Rockmusik" passt. Neben Cassius Kings "Field Trip" (prima) und Quicksands "Distant Populations" (naja), war insbesondere die Anschaffung von Cynics "Ascension Codes" eine echte Herzensangelegenheit.
Zum einen bin ich seit fast dreißig Jahren Fan und finde ihre Musik selbst, oder besser: besonders nach den stilistischen Anpassungen über die letzten 15 Jahre einfach hoffnungslos attraktiv. Zum anderen bewundere ich Paul Masvidal, einen der kreativsten und eigenständigsten Musiker der Metal-Szene. Mutig und unerschrocken, offen, spirituell - und durch den unerwarteten Tod seiner beiden Freunde und ehemaligen Bandmitglieder Sean Reinert (Schlagzeug; Januar 2020) und Sean Malone (Bass, Dezember 2020) voller Trauer und Verzweiflung. Masvidals Beiträge auf seinem Instagram-Account geben Zeugnis von dem Schmerz, den er durch die kurz hintereinander erfolgten Verluste erleiden musste. Ebenfalls, und das soll nicht unerwähnt bleiben, ist Masvidal in meiner Wahrnehmung einer der verkanntesten Songschreiber des Heavy Metal. Warum ihm angesichts des Meisterwerks "Ascension Codes" nicht die halbe Metal-Welt die Tür einrennt, ist angesichts der sich zunächst zeigenden Sperrigkeit des Albums vielleicht nicht die allergrößte Überraschung - auch wenn sich die Komplexität mit ein bisschen Zeit und Eingewöhnung naturgemäß auflösen kann und wird. Aber ich habe durchaus Verständnisschwierigkeiten damit, warum nicht wenigstens die Anhänger des Progressive Rocks/Metals auf Knien angerutscht kommen, und zwar in Scharen.
Denn das hier sollte eigentlich exakt ihr Sound sein: verspielt, komplex, ultrakomprimiert und dennoch leichtfüßig und mühelos - im Prinzip die musikalische Entsprechung zum Spruch meines Vaters über den ehemaligen Eintracht-Stürmer Anthony Yeboah: "Der spielt dich in einer Telefonzelle schwindelig!". Spektakuläre technische Fähigkeiten, ein atemberaubendes Coverartwork und eine spirituelle Story über das Leben, das Universum, das Unsichtbare, das Mystische, das Außerweltliche - "Ascension Codes" ist die beste Cynic-Platte aller Zeiten und in ihrer emotionalen Ausrichtung und ihrer offen dargestellten Zerbrechlichkeit das Progressive Metal-Album, das ich mir im Jahr 2020 von Fates Warnings "Long Day Good Night" erhoffte, aber nicht bekam.
Ich möchte über Jahre in diesen Sounds versinken und mich verlieren. Masvidals Gitarre weist mir den Weg und mir ist im Grunde egal, wohin er mich führen wird.
Chuck Schuldiner prägte den Satz "Let the metal flow!" - Paul Masvidal hat nun die passenden Songs dafür geschrieben.
Vinyl: Das Mastering meiner Version auf türkisem Vinyl scheint die sowieso schon wahrnehmbare Kompression im Sounddesign noch weiter in den Vordergrund zu stellen; man merkt, dass es der Musik etwas schwer fällt, die Luft zum Atmen zu finden. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um eine aktive Entscheidung im Entstehungsprozess des Albums handelt. Cynic Platten klingen nicht zum ersten Mal so. Die Pressung ist komplett fehlerfrei. Das wirklich atemberaubende und wertige Triple-Gatefold auf mattem, sich seidig anfühlendem Karton in Verbindung mit dem grandiosen Cover-Design von Künstlerin Martina Hoffmann ist nichts weniger als imposant.
In den letzten zehn Jahren erschienen gerade mal zwei Alben von The Sea And Cake, und wer sich nicht erst seit gestern auf diesem Blog herumtreibt oder mich gar, Himmel hilf!, persönlich kennt, ahnt, dass frei nach Vicco von Bülow eine Bestenliste ohne The Sea And Cake zwar möglich, aber komplett sinnlos gewesen wäre. Seit 15 Jahre trage ich meine Liebe zu diesem Quartett auf, neben, unter, vor und hinter dem Herzen spazieren und es gibt nur wenige Bands, die mich mit links zu einem furiosen, mit leuchtenden Augen und bebender Stimme vorgetragenen Monolog über Schönheit, Raffinesse, Subtilität, Virtuosität von Musik schubsen können.
Vielleicht erfuhr meine Wertschätzung mit "Any Day" einen neuen Höhepunkt, denn das ist das Schöne am Älterwerden: man lernt Außergewöhnliches eben doch noch mehr zu schätzen, als wenn Testosteron, Samenstau und generelle juvenile Quadratblödheit im Weg stehen. Fünf Jahre nach dem ebenfalls hervorragenden "Runner" haben sich die dreieinhalb stillen Helden tatsächlich nochmal aufgerafft und ihren unnachahmlichen Sound weiter verfeinern können. Jede noch so diffizile Akzentuierung gelingt mühelos, jedes Break wird sicher und souverän durch alle Stromschnellen hindurch geführt, jede Melodie als Kokon sorgfältig verschnürt und mit großer Selbstverständlichkeit und einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit geschickt. Wer ihnen genau auf die Finger und auf die funkelnden Hochenergiesynapsen in den vernetzt arbeitenden Gehirnen und Herzen schaut, wird im Verlauf von "Any Day" kaum ohne spitze Freudenschreie auskommen.
Nie war dieses Urteil wertvoller und wahrer als heute: Was für ein Erlebnis, diesen absoluten Könnern zuzuhören. Ich lebe für solche Momente.
Eine Bestenliste des letzten Jahrzehnts ohne diesen Meilenstein ist kaum vorstellbar. Auch auf die Gefahr hin, ein bisschen zu dick aufzutragen: "The Epic" hat die Welt verändert, praktisch aus dem Nichts. Und jeder, der es hörte, ahnte schon früh, dass die Ohren bitteschön zu spitzen seien.
Denn etwas Großes war im Gange, man möchte fast zum despektierlichen "Größenwahn" greifen: 180 Minuten Musik verteilt auf drei LPs beziehungsweise CDs, ein Orchester, ein Chor, überlange Songs, für deren Arrangements die Beschreibung "opulent" nichts weiter als ein abgeschmackter Euphemismus ist, ein ikonisches Coverartwork und eine inszenierte Sogwirkung, die in ihrer Begeisterung alles mitriss, was sich nicht in die hinterste Ecke des Jazzclubs zu den anderen Betonköpfen retten konnte, die seit 50 Jahren auf "Bitches Brew" herumquallen und dabei langsam zu Staub zerfallen.
"The Epic" wurde zum großen Vermittler und zur spirituellen Einigungsstelle und ja, "The Epic" hat die Welt zu einem besseren Ort gemacht. Das mag angesichts eines Irren, der nur 18 Monate später als herumstammelnde Hämorrhoide das Weiße Haus besetzen sollte, etwas schwer zu begreifen sein - aber wer diese Platte gehört hat, wird schon verstehen.
(Mehr Hintergrundinformationen gibt es in meinen alten Posts HIER und HIER)
Ich fühle mich seltsamerweise immer noch nicht wirklich dazu berufen, umfassend über New Model Army zu schreiben. Meine erste echte Auseinandersetzung mit der Band begann schließlich erst mit dem letzten Studioalbum "Winter" aus dem Jahr 2016, davor nahm ich sie entweder über Coverversionen von Anacrusis und Sepultura wahr, oder sortierte sie angesichts der ersten fünf als Klassiker geltenden und von mir erst lange Zeit nach Veröffentlichung gehörten Alben in das Fach für jene Legenden ein, an die ich emotional nie so richtig herankommen sollte und mit denen daher die Bindung nie so bedeutsam eng wurde. "Winter" sollte das allerdings recht schnell ändern.
Angesichts meines Musikkonsums, der nicht immer zwingend vorsieht, mich in 30 Jahre alte Platten zu verlieben, liegt die Vermutung nahe, dass sowohl die direkte Beschäftigung mit "Winter", als auch das fleißige Baggern von Freund und Die Hard-Fan Jens dabei kräftig mithalfen. Auch Tobis Thekenumschau-Blog und sein NMA-Listensofa führten mich weiter in ihre Diskografie ein. So kamen der Vorgänger "Between Wolf And Man", sowie die eingeschobene Studio/Live-Mischmasch-LP "Between Wine And Blood" als nächstes ins Ohr und in die Sammlung. Es funkte also so allmählich zwischen New Model Army und mir.
"From Here" hat nun sogar Brandbeschleuniger im Gepäck und ich verzichte demonstrativ auf einen Feuerlöscher. Und ganz möglicherweise kommt folgendes Statement bei dem ein oder anderen NMA-Jünger nicht so gut an wie Genschmans Balkonrede bei den Menschen in der deutschen Botschaft in Prag, aber sei's drum: das ist die beste New Model Army Platte, die ich kenne. Und damit wir uns richtig verstehen: ich kenne immerhin ein paar. Zugegeben, zwischen 1998 und 2013 klafft noch eine große Lücke, aber ICH KANN JA AUCH NICHT ALLES HÖREN!
Jedenfalls: "From Here" ist hinsichtlich der Atmosphäre, der Instrumentierung, der Eindringlichkeit, der Songs, des Covers, der Stimme, der Texte, der Ernsthaftigkeit...Achtung, uffjepasst, jetzt kommt's nochmal: ihre beste Platte.
Case closed. Get over it.
Erschienen auf Attack Attack Records/Ear Music, 2019.
Alben von 36, die auf Vinyl via A Strangely Isolated Place erscheinen, sind meist in Windeseile ausverkauft, und wer verspätet zum Vorverkauf erscheint, darf nur wenige Tage später den Blutsaugern auf Discogs die Ehre (und ein schön leergeräumtes Konto) erweisen. So erging es mir mit "Fade To Grey", weshalb ich zur Strafe einen grotesk hohen Betrag in Richtung, na klar: Berlin überweisen sollte. Immerhin noch bevor sich die Bandscheibe unseres Hundes meldete und ganz alleine den Jahresbonus auffraß. No food, just wax and dogs.
Dennis Huddleston ist einer der Stars der Ambientszene und in solchen Momenten zeigt es sich auch abseits des Sammel- und Exklusivitätswahns heutiger Schallplattensammler. "Fade To Grey" ist der Einsamkeit und der Isolation gewidmet, die aus unserem Social Media-Kladderadatsch entsteht, die uns von unserem Selbst entfernt, uns sowohl durchlässig und verletzlich, als auch hart wie Beton macht. Es ist ein elegisches Werk für eine Zeit ohne Empathie. Ein Werk, das den leeren, emotionslosen Blick gegen die weiße Wand vertont, gleich einer Embryonalstellung der Seele gegen den Weltschmerz. Interessanterweise klingt "Fade To Grey" dabei nicht dunkel oder abgründig, sondern leuchtet im Gegenteil hell und heiter - wie ein Abbild unserer Realität zwischen sinnbetäubender Euphorie und bodenloser Tristesse.
Einer wird gewinnen.
"Considering the landscape of our own world right now, where a handful of companies control everything we consume, where convenience is more important than privacy, where personal choice is pre-determined by algorithms analyzing our behavior, and where the internet has become a battleground for influence and propaganda... It's not a stretch of the imagination to believe we're already witnessing our very own dystopia."
Exhorder hatten von allen Bands vermutlich den schwierigsten Auftrag für ihr Comeback zu erledigen, denn auch wenn die beiden einzigen Alben der Band "Slaughter In The Vatican" und "The Law" schon 29, beziehungsweise 26 Jahre alt sind, hat die auf jenen Werken beruhende Ausnahmestellung zu einer möglicherweise in Teilen nicht ganz fairen, ganz sicherlich aber hoffnungslos überzogenen Erwartungshaltung geführt. Ich kann mich ebensowenig davon befreien, dafür aber immerhin anerkennen, damit ein Ticket im Balla-Balla-Bus gezogen zu haben, weil nur Dummbatze ein zweites "Slaughter In The Vatican" erwartet hätten. Und wo das gesagt ist, full disclosure: für mich steht das Debut einige Höllenlevel über "The Law", und ich darf als Belegexemplar das geschriebene Wort aus dem Jahr 2013 bemühen:
"Es gibt Momente auf "Slaughter In The Vatican", die so heavy sind, dass man sich wirklich freiwillig den Kopf zwischen Stahltür und -rahmen einklemmen will und der eigenen Mutti befiehlt, mal kräftig zuzuschlagen. Die Tür, wohlgemerkt. Mit 'nem Unimog. Und das meine ich selbstverständlich ausnahmslos positiv. Scott Burns mauerte seine gefürchtete und berüchtigte Morrissound-Soundwand (die die Band übrigens nach eigener Aussage aus tiefstem Herzen hasst), deren musikalisches und lyrisches Fundament aus blanker Niederträchtigkeit und außer Kontrolle geratenem Rowdytum besteht."
"The Law" hingegen wird für seine stärker ausgespielten Grooves und Riffs von einem Teil der Fanszene kultisch verehrt, stellte mit mir jedoch und in erster Linie wegen des direkt aus Susi Sorglos' Rasierapparat surrenden Gitarrensounds nie etwas Besonderes an.
Das potentielle Problem von beiden Alben in Bezug auf das 2019er Comeback sind weniger in den Songs und Sounds, als viel mehr in der Attitüde zu suchen. Wie sollen die - auch selbstverständlich schon lange nicht mehr im Original-Lineup - diese Wucht und diese Räudigkeit nach so langer Zeit noch abrufen können? Die Option, es gar nicht mehr zu müssen, stand aus Sicht eines Fans bei Exhorder nie zur Debatte - zu stark war man nach so langer Zeit und der Auseinandersetzung mit ihren alten Alben darauf gepolt, dass weniger als das Nonplusultra an Härte, Intensität und Unberechenbarkeit ein glatter Weltuntergang wäre. Gemessen an den Reaktionen der früheren Die Hard-Fans auf "Mourn The Southern Skies" ist für viele Menschen genau das eingetreten.
Und es ist tatsächlich ein bisschen kompliziert. "Mourn The Southern Skies" besteht aus drei Songtypen, die auf sehr unterschiedlichen Qualitätsebenen existieren: (1) die rasende Thrashkante (2) grooviges Law And Order-Riffgeschiebe aus den Sümpfen Lousianas und (3) irgendwas dazwischen. Die erste Kategorie besteht fast ausschließlich aus erschütternd generischem Exodus-Thrash Metal mit Cringe-Texten, stumpf durchgeballerter Doublebass und einem reichlich aufgesetzt hart klingenden Kyle Thomas am Mikro. Kann, nein: muss man ganz schnell vergessen und für immer skippen. Das ist unwürdiger Scheiß und das auch in dieser Deutlichkeit mehr als gerecht.
Die zweite Kategorie indes trifft meinen Nerv, und das auch noch ziemlich unvorbereitet. Die Riffs sind originell, die Stimmung ist schwül, feucht und dreckig, die Grooves tighter als Trumps Schließmuskel. Qualitative Schwankungen lassen sich hingegen in Kategorie 3 finden: während in "Rumination" sehr erfreuliche Erinnerungen an die Mittneunziger-Ära der Kings von Forbidden wach werden, ist "All She Wrote" dagegen ein unsäglich dumpfes Midtempo-Doublebass-Geratter von der Stange, das ohne wirkliche Konkurrenz den Biedermann-Preis des Jahres absahnt. Wer sich also im besten Fall eine exakte Mischung aus "Slaughter In The Vatican" und "The Law" gewünscht hat, rauscht hier erstmal mit Schmackes gegen die Wand. It's the Erwartungshaltung, Stupid!
Was bleibt also unter dem Strich? Ehrlichweise mehr, als das nach dem ersten Teaser "My Time" (Kategorie 1) zu erwarten war. Gut die Hälfte von "Mourn The Southern Skies" ist lässiger, verschwitzter und authentisch klingender Südstaatenmetal der COC/Down Kategorie mit wirklich coolen Riffs'n'Grooves und dicker 90er Schlagseite. Wenn sich noch jemand an das 1996er Album "Penalty" von Floodgate erinnert (Sänger: Kyle Thomas), weiß recht genau, was er zu erwarten hat, wenn er das damals ganz sicher gereichte Weed mit ein paar frisch gekochten Kannen schwarzen Kaffees austauscht. Mit diesen Songs kann ich nicht nur wunderbar leben, die reichen selbst dafür aus, den anderen Mist auf der Platte wenigstens ein bisschen wettzumachen. Exhorder klingen 2019 natürlich nicht mehr wie eine Horde tollwütiger Pitbulls und wenn ihnen ein echter Vorwurf zu machen wäre, dann jenen, dass sie es partiell trotzdem versucht haben: das Gespür für die Ausnahmestellung ihrer Frühwerke ging ihnen tatsächlich über Bord. Dass sie an anderen Stellen auf ihrem Comeback stilistisch einen anderen Weg eingeschlagen haben, lässt jedoch erahnen, dass sich die Band vielleicht über das Dilemma völlig im Klaren war.
"Mourn The Southern Skies" ist am Ende ein Kompromiss einer ehemals sehr kompromisslosen Band. Im Gegensatz zu optimistisch aufgerundeten 80% der Konkurrenz, die ähnliche Entscheidungen treffen mussten, allerdings einer, der sich wenigstes ein kleines bisschen von dem entfernte, was jeder erwartete. Kann man sich drüber freuen.
P.S.: Exhorder waren selbst in ihren früheren Besetzungen nie eine hypersympathische Band und dass im Dachgeschoss der Mitglieder vielleicht nicht immer für die volle Stromversorgung gesorgt werden konnte, ist spätestens nach dem Text zu "Anal Lust" vom Debut unstrittig - aber ich muss dennoch erwähnen, dass der Text zu "The Arms Of Men", sofern ich ihn richtig verstehe, ein Neanderthaler-Plädoyer für das US-amerikanische 2nd Amendment ist, und mir als Mitteleuropäer und Wehrdienstverweigerer (mit extrem kleinem Pimmel, klar) jedes Verständnis für diesen "Drrrrreck" (Schramm) abgeht. Das halbstarke Amöbengeplärre von "My Time" kehren wir auch besser unauffällig unter den Teppich.
Ganz vielleicht dachte ich zu Beginn etwas zu pessimistisch über das erste Possessed Album seit dem 1986 erschienenen "Beyond The Gates"-Werk und damit gleichfalls dem ersten wirklichen Lebenszeichen dieser so einflussreichen Band seit der "The Eyes Of Horror"-EP aus dem Jahr 1987. Eher widerwillig klickte ich auf den Videolink zu "No More Room In Hell", dem einige Wochen vor Albumveröffentlichung präsentierten Teaser; das Mindest auf "Zynismus" eingerastet, sowieso das Schlimmste erwartend, alle Gläser immer halbleer. Hören musste ich das natürlich, weil...hey: "Seven Churches"! Wahrscheinlich gab es 1985 wirklich nichts Krasseres als "Seven Churches", dagegen klingt ja selbst die erste Kreator so steif wie der Ministrantenchor Mozetta. Aber warum müssen die ollen Rochen auch immer und immer wieder ihren guten Namen aufs Spiel setzen? Das waren vor 32 Jahren Legenden, ihr Werk ist über 32 Jahre legendär geblieben und wenn sie es so halbwegs richtig anpacken, könnten sowohl Band als auch Werk sogar für die nächsten 32 Jahre Legenden bleiben. Wwwwwhhhhhhhyyyyyyyyyyyyyyyyyyy tho - und wer GENAU hat eigentlich eine Band wie Possessed in den letzten 32 Jahren vermisst? Also so RICHTIG vermisst? Wer hat denn über 32 Jahre an jedem Tag oder in jeder Woche zu sich und seinem sozialen Umfeld, sofern denn noch eines vorhanden ist, gesagt "Mannomann...Possessed! Wie schade, dass es die nicht mehr gibt. Was würde ich heute dafür geben, nochmal eine neue Platte von Possessed hören zu können."? Dann sind auch noch Nuclear Blast als Label ins Satanshaus eingezogen und haben zig Zillionen unterschiedlicher Vinylversionen in jeder denkbaren Farbe pressen lassen, eben weil sie's können. Das volle Marketingbrett. Was hat das noch mit Musik zu tun? Mit Possessed? Was soll das schon werden?
Es wurde erstaunlich viel! "No More Room In Hell" konnte mich nach dem dritten Durchlauf sogar dazu bewegen mir die Platte zu kaufen, natürlich in der US-Version auf rot-weißem Splattervinyl, weil ich Superhornochse diesen Donzdorf-Dicks und ihrer Marketingscheiße eben immer noch auf den Leim gehe (und weil die Platte ziemlich geil aussieht, klar). "Revelations Of Oblivion" hat eine ganze Menge Argumente auf seiner Seite, allen voran ist das fiese Geballer definitiv mehr im Thrash als im Death Metal angesiedelt, auch wenn die Vermarktungsmaschine fleißig "DEATH METAL" auf alles spuckt, was nicht bei drei auf dem Baum ist - die tragende Säule beim Mitinitiieren eines ganzes Genres muss eben nicht nur immer wieder, sondern ganz besonders nach über 30 Jahren mal frisch gestrichen werden; woher sollen die ganzen nachgewachsenen Metal-Kiddos das auch sonst erfahren? Hinzu kommen technisch beeindruckende Leistungen an Gitarre und Schlagzeug (Emilio Marquez an den Drums ist sowohl im Studio als auch live ein fucking Monster), den klassischen, charakteristischen Gesang von Jeff Becerra und eine Peter Tärtgren Produktion, die für heutige Verhältnisse erfreulich bodenständig ausgefallen ist. Letzteres sehen die Kuttenhorsts mit dem Junge Union-Branding im Hypothalamus natürlich anders, aber sowas passiert eben, wenn man sich so frei und distinguiert wie Zappa geben will, es aber real für nicht mehr als Markus Söder reicht. Das peinliche Geflenne muss man ignorieren.
Das für mich eindrücklichste Merkmal von "Revelation Of Oblivion" ist hingegen eines, das man nur über Umwege hören, dafür aber direkt fühlen kann. Jeff Becerra ist das einzig verbliebene Originalmitglied von Possessed. Der Mann wurde 1990 (drei Jahre nach der offiziellen Auflösung Possesseds) Opfer eines Raubüberfalls, wurde angeschossen und sitzt seitdem querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Seine ehemaligen Bandkollegen kümmerten sich nicht mehr um ihn, da die Band nach der Auflösung heillos zerstritten war. Über 17 Jahre versuchte Becerra mit seiner Situation klar zu kommen, rutschte in den Alkohol- und Drogensumpf ab und kämpfte mit Depressionen. Aber er überlebte. Studierte Jura und Sozialwesen, gründete eine Familie und nahm 2007 mit Possessed einen neuen Anlauf. Die Musiker, die auf dieser Platte zu hören sind, sind mindestens seit 2011 an seiner Seite, Drummer Emilio Marquez gar seit 2007). Bei der Recherche stieß ich auf Interviewsequenzen mit dem Gitarristen Daniel Gonzalez, in denen er auf schwierige Anfangszeiten zurückblickt: Becerra wollte vor allem ihm, der stilistisch eher dem modernen Death Metal nähersteht, den Stil und den Spirit von Possessed näherbringen - und lehnte zunächst offenbar ein Riff und eine Songidee nach den anderen ab, bevor Gonzalez und der Rest der Band mehr und mehr verstanden, in welche Richtung Becerra wollte. Becerra selbst sagt darüber hinaus, er lebe ständig mit dem Druck, die verlorene Zeit, die verlorenen 17 Jahre aufholen zu müssen. Selbst dieses Comeback nahm ganze 12 Jahre in Anspruch. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Wer dem Typen in den Interviews zuhört, entdeckt echte Euphorie, Aufrichtigkeit, vielleicht sogar Genugtuung - und ein kindliches Feuer der Begeisterung in ihm. Und ehrlich gesagt: ohne ein kindliches Feuer der Begeisterung ließen sich Texte wie
Six, six, six on the head and the wrist
The bloodied, battered crucifix
Two coins to cross the river Styx
On bended knees and Satan's fist
mit 51 Jahren auch nur schwer singen. Ob meine Wahrnehmung nun von der professionellen Inszenierung mit entsprechend vorgeschriebenen Drehbüchern getrübt wird und ich also immer noch tief drinnen glaube, es gäbe im Heavy Metal noch sowas wie echte Authentizität, oder ob das alles kompletter Bullshit ist, um die metallischen Naivlinge mit dem zu füttern, was sie am einfachsten fressen, nämlich plakative Trueness to the fokking bone, habe ich noch nicht ganz begriffen. Wäre ich DER_GROSSE_ZYNIKER vom ersten Absatz, wäre die Antwort klar.
"Du musst heute nur noch auf die Bühne gehen, die Pommesgabel \m/ zeigen und die Leute flippen alle aus." (Name der Redaktion bekannt)
Das ist die Überraschung des Jahres - und bitte: wer hätte das gedacht? Wer hat überhaupt mal nach einer Acid Reign-Reunion gefragt? Die Band hatte sich kurz nach der Veröffentlichung ihres letzten Albums "Obnoxious" (1990) aufgelöst und obwohl Titel und Coverartworks ihrer beiden vorangegangenen Releases "Moshkinstein" und "The Fear" nebst einer erfrischenden Unbekümmertheit in ihrer Musik für eine Platzierung auf der Landkarte für britischen Thrash Metal sorgten, erschienen mir Acid Reign über die letzten 29 Jahre als mehr oder minder vergessen, ganz sicher mit einigem Abstand hinter den UK-Aushängeschildern Sabbat und Xentrix eingereiht. Vom Original-Lineup ist im Jahr 2019 auch nicht mehr viel übrig geblieben, lediglich Sänger Howard "H" Smith ist noch mit dabei und hält die Reboot-Zügel fest in den Händen. Was sollte unter solchen Bedingungen also schon erwartet werden?
Am End' ist's vielleicht das beste oldschool Thrash Album des Jahres - sofern man mit den paar ätherischen Punk und Hardcoreeinflüssen zurechtkommt, die die Band aus den 1980er Jahren ins Jetzt mitgenommen hat - das ist nicht immer so prägend wie im zweiminüten Brecher "Blood Makes Noise" (im Original von Suzanne Vega), der klingt, als hätten The Offspring am Speed Metal-Fliegenpilz genascht, aber der Vibe ist, nicht zuletzt wegen der immer noch sehr originellen und gar recht unmetallischen Stimme von H, durchaus allgegenwärtig. "The Age Of Entitlement" ist bis oben randvoll mit Power, Energie und Frische gefüllt. Im Prinzip finde ich keinen einzigen bräsigen Moment. Und alleine damit kann ja jetzt nicht mehr so irre viel schief gehen.
Das ist umso beeindruckender, da auch Acid Reign nicht darauf verzichten konnten, hier und da in die so von mir gefürchteten hymnischen Bereiche abzudriften, wie sie eine bodenlose Ballermannkapelle wie Hammerfall vor über 20 Jahren erbrachen, um Heavy Metal endgültig den künstlerischen Todesstoß zu verpassen - denn was der Grunge nicht schaffte, das schaffte die schrullige Schwedencombo mit schwäbischer Schützenhilfe aus Donzdorf, und zwar mit links. Dennoch: Acid Reign machen es zumindest in meiner Wahrnehmung bedeutend besser als die Konkurrenz. Der Opener "The New Low" ist zwischen relativ klassischem Thrash-Gehacke mit einem großen Refrain ausgestattet, irgendwo zwischen Airdash's "Both Ends Of The Path"-Melodieansätzen und, ich trau' mich beinahe nicht, es wirklich hinzuschreiben: zarten Riffknospen aus der Endneunziger-New Metal-Schule. Dazwischen finden sich darüber hinaus überraschend komplexe, an "Obnoxious" angelehnte Momente wie das über achtminütige "Within The Woods", das mich bisweilen an echten Power Metal aus der Feder von Metal Churchs Kurt Vanderhoof erinnert.
Eine solche Mischung aus juveniler Euphorie und Frische, kerzengeradem Speed- und Thrash-Riffing, filigran eingewebten, unpeinlichen Melodien, smarter Komplexität und einem Sänger, der sich nicht anhört wie Schorsch Hackl in der Muckibude beim Reißen von 200 Kilo (und anschließend der Patellasehne), gibt's heutzutage nicht mehr oft zu hören. "The Age Of Entitlement" bekommt das selbst im Jahr 2019 unter einen Hut und ich bin hocherfreut über eine Platte, die ich so im Leben nicht erwartet hätte.
Auch mit deutlich herabgesetzten Maßstäben ist das erste Studioalbum Sacred Reichs nach 24 Jahren leider eine große Enttäuschung. Und keinen schmerzt es mehr als mir, diesen Satz schreiben zu müssen, schließlich bin ich seit ihrem Klassiker "The American Way" großer Fan dieser Band, von ihrer Musik, ihren Texten und auch von ihrem Auftreten abseits der Bühne. Ich sah sie erstmals im Juli 1991 im Frankfurter Volksbildungsheim im Vorprogramm von Sepultura, nachdem ich meine Eltern als damals gerade mal 14 Jahre alt gewordener Backfisch über fucking Wochen in den fucking Ohren lag, mich doch bittebittebitte und trotz der Indisponiertheit meines üblicherweise als Begleitperson eingesetzten älteren Bruders, alleine zum Konzert gehen zu lassen. Und ich war erfolgreich. Ich kaufte zur Hochzeit meiner Metalphase alle ihre T-Shirts, CDs, LPs und EPs und fuhr sogar noch sehr viel später, nach ihrer Reunion in den nuller Jahren, für ein Konzert ihrer damals typischen Sommertourneen durch Europa sogar in die verbotene Stadt nach München und ertrug all die Schickeria-Bussi-Bussi-Watschengesichter, die einem schon fünf Minuten nach Überqueren der Stadtgrenze entgegenflattern und die Laune versauen. Das alleine sagt vermutlich mehr über meine Liebe zu Sacred Reich aus als die Plattensammlung.
Dabei bin ich mir schon seit vielen Jahren darüber im Klaren, dass Sacred Reich schon lange keine wirkliche Thrash Band mehr sind - strenggenommen darf man die Schublade nur für das recht flotte Debut "Ignorance" und die "Surf Nicaragua"-EP öffnen und schon beim Nachfolger "The American Way" zumindest zur Hälfte wieder schließen - und das nicht nur wegen der Open Mind-Hymne "31 Flavors":
Aber das war einfach schon immer eine verdammt coole Band und die beiden von vielen Betonköpfen kriminell unterbewerteten, weil vergleichsweise experimentelleren und groovigeren Alben "Independent" und "Heal" stehen in meiner Gunst sogar ziemlich deutlich vor "Ignorance". Und ich habe ihren über Jahre dargelegten Standpunkt, auch trotz ihrer Reunion keine neue Musik mehr veröffentlichen zu wollen, nicht nur jederzeit respektiert, ich war sogar hocherfreut: wenn die Band nicht glaubt, ihrem bis dato völlig unantastbaren Oevre eine weitere fehlerlose Platte hinzuzufügen, dann nehme ich ihnen das ganz bestimmt nicht übel. Streng genommen hätte sich so manch andere Band besser mal an jenem Ansatz orientiert, anstatt sich in müder Mediokrität zu ergehen. Kollateralschäden des Sinneswandels waren Drummer Greg Hall und Gründungsmitglied Jason Rainey. Ich halte beide Abgänge für sehr schwerwiegend, aber angesichts der Lässigkeit, wie sowohl die Metalszene als auch die Band selbst darüber hinweg ging, bin ich wohl entweder zu empathisch oder zu altmodisch.
"Awakening" hinterlässt nun leider ein paar dunkle Flecken auf der bislang blütenweißen Weste. Das beginnt bei der zwar angenehm unmodernen, aber zeitgleich auch saft- und kraftlosen Produktion, die vor allem im Bereich der Rhythmusgitarre jede Schärfe und jeden Punch vermissen lässt. Das Hauptproblem hingegen sind die Songs. Die Band war dem Minimalismus sicher schon immer zugetan, aber das hier ist zu weiten Teilen schon frech unterfordernd. Gefühlt kommen Sacred Reich auf drei maximal harmlose Riffs pro Song, Gesangslinien, die dank steter Wiederholung schon nach dem zweiten Durchgang unfassbar nerven und extrem simple Hooklines, die nicht einen einzigen Song tragen können. Hinzu kommen mit dem drögen Südstaatenrocker "Death Valley" und "Something To Believe", einem dreieinhalbminütigen Nichts, das mich völlig ratlos zurücklässt, gleich zwei glatte Totalausfälle aufs Tableau - und alleine das ist bei einer Spielzeit von 31 Minuten einfach zu viel. Sowas veröffentlicht man eigentlich nur, wenn man wirklich gar keinen Bock auf gar nichts mehr hat. Und das traue ich dieser Band nicht zu. Nicht Sacred Reich. Nicht nach dieser Vorgeschichte. Was uns zur logischen Schlussfolgerung führt: es liegt also alles (wie immer) nur an mir. Muss ich mit leben.
Xentrix haben es ihren ersten beiden Alben "Shattered Existence" und vor allem "For Whose Advantage?" zu verdanken, in die immerhin dritte Reihe des Thrash vorgestoßen zu sein, bevor die typischen Kurskorrekturen der Früh- und Mittneunziger und eine komplett auf den Kopf gestellte Metalszene zum ersten Mal das Ende einläuteten. Obwohl die Band zu Beginn ihrer Karriere als schamlose Metallica-Kopie und gegen Ende wegen der als peinlich empfundenen Anbiederei an den damals angesagten Groove/New Metal auf dem desaströsen 1996er Album "Scourge" eher belächelt wurde, entwickelte sich speziell das Zweitwerk "For Whose Advantage?" in der Szene zu einem kleinen Klassiker, weshalb die Rufe nach einer Wiedervereinigung über die Jahre immer lauter wurden. Und tatsächlich: ab 2005 existierte die Truppe wieder, wenn auch nur in einer on/off Beziehung mit vereinzelten Liveauftritten oder gar kurzen Tourneen durch England.
2013 folgte gar die Meldung, man arbeite an einem neuen Album - und ganze sechs Jahre später ist es auch "schon" soweit. Leider hat es in der Zwischenzeit ein paar Einschläge gegeben: Chris Astley, Charakterkopf an der James Hetfield-Gedächtnisgitarre und darüber hinaus Sänger, entschloss sich 2017 dazu, endgültig das Weite zu suchen, Ur-Bassist Paul MacKenzie hatte sich bereits 2013 absentiert; und während letzterer angemessen ersetzt werden konnte, sieht die Sache bei Astley schon anders aus: sein Gesang und besonders sein Gitarrenspiel mit dem typischen Riffing fehlen dieser Band - auch wenn die beiden verbliebenen Gründungsmitglieder Gasser und Harvard versuchen, einige Songs mit den bekannten, wunderbar auflösenden Astley-Riffs auszustatten. Nachfolger Jay Walsh macht indes auf "Bury The Pain" seine Sache besser, als nach den ersten Livevideos zu befürchten war und klingt im Vergleich mit Astley gesanglich zwar etwas tiefer gelegt, fällt dabei aber immerhin nicht unangenehm auf.
Ärgere Probleme machen dieses Mal die überdeutliche stilistische Schlagseite in Richtung Testament, eine Reihe von bedauerlichen und für mich nur schwer hinnehmbaren Textentscheidungen, eine viel zu lange Spielzeit und die ein oder andere zu sehr an den heutigen Metal-Zeitgeist ausgerichtete hymnische Melodie, die so manchen Song in jene für mich komplett ungenießbare Power Metal Gefilde abrutschen lässt, also das, was heutzutage landläufig als Power Metal bezeichnet wird, aber natürlich kein Power Metal ist. Damit befinden sich Xentrix nun sicher eher in der Mehr- als in der Minderheit der aktuellen Szene, aber ich möchte diesen aufgesetzten und von A&Rs reindiskutierten Krampf nicht hören müssen. Keep your melodische Griffelfinger off my thrash metal, motherfucker!
Dazwischen finden sich immerhin drei, vier ganz nette Momente - nichts, wofür ich mir vor Begeisterung die Unterhose über den Kopf ziehen müsste, aber meine Qualitätsmaßstäbe wurden nach einem zwanzigjährigen Marsch durch den Sumpf unerlöster Häffi Mettl-Reunions entsprechend angepasst.
2019 ist das Jahr der Thrash und Death Metal-Comebacks. Das gilt besonders für jene Fälle, in welchen wir über die Veröffentlichung neuer Studioalben einer ganzen Reihe alter Kultbands sprechen, die über Dekaden hinweg eigentlich schon mausetot in der Kiste lagen und allerhöchstens für vereinzelte Liveshows reanimiert wurden. In dieser Hinsicht war der Status so mancher Kapelle indes nur schwer zu durchschauen: mal standen sie, mitunter im Original-Line-up und mit großspurigen Ankündigungen über geplante Aufnahmen und Tourneen, auf der Bühne, nur um im nächsten Augenblick wieder komplett vom Radar zu verschwinden. Ja, was denn nun?
Nun bin ich ja immerhin nicht komplett doof und habe genügend Imaginierungsvermögen, um mir die Lebensumstände eines ehemals semiprofessionellen Musikers vorzustellen, der mit seinen heute 50+ Jahren und dem bestenfalls erfolgten Abtauchen ins blanke Hobbymusizieren, schlechtestenfalls ins Familienleben mit 9-to-5 Job, in Sachen Karriereplanung vor anderen Herausforderungen stehen dürfte als noch in blühender Adoleszenz Ende der 1980er Jahre.
Dass es oftmals für nicht viel mehr reicht, als einmal kurz den Kopf in die angegammelte Brise zu stecken, die aus den Achselhöhlen des mittlerweile ergrauten und erbierbäuchten Publikums herausströmt, haben seit der vor gut 20 Jahren startenden Reunionwelle mehrere und im Rückblick eher unerfreuliche Comebackversuche von Bands gezeigt, die schneller wieder in der Versenkung verschwunden waren als die "We're back for good because we love our fans so much"-Ansagen in einem halbleeren Club verhallten. Und ganz allmählich fragt man sich abseits der immer noch aufkommenden bittersüß-verzweifelten Erinnerungen an vergangene Zeiten: was wollen die alten Klappergestelle eigentlich mit ihren ganzen Reunions? Metal ist heute erfolgreicher, als er es vielleicht jemals war, bon. Und die Möglichkeit, sich nebenbei einen Extra-Buck zu verdienen, ist unter heutigen Businessmaßstäben vermutlich erfolgsversprechender als noch vor 30 Jahren - will man also ein Stück vom Kuchen abhaben? Reich i.S.v. "Privatjet-Reich" wird man damit ja nun wirklich nicht. Oder wird immer noch auf den richtig großen Durchbruch gewartet, vulgo: gehofft? Oder ist es - haha, Riesenwitz: die Mischung aus simpler Lust, die alten Tage wieder aufleben zu lassen? Bevor Taschentücher gereicht werden müssen: ich hielte alle drei Optionen sowohl für denkbar, als auch für legitim.
In der Bewertung der Musik spielt das freilich keine Rolle. Oder vielleicht doch?
Wer 1988 in unerlösten Flammen stand und sich Frustration, Wut und Testosteron einen Weg an die Oberfläche suchen mussten, hatte ganz möglicherweise eine andere Herangehensweise, Musik zu komponieren als im Jahr 2019 mit 50 Jahren und der Verantwortung über zwei Jobs und drei Kinder. Ganz zu Schweigen von der technischen Weiterentwicklung, die stärker als je zuvor Kreativität fördert und ganz neue Kanäle öffnen kann. Wer würde angesichts solcher veränderten Voraussetzungen ernsthaft erwarten, die Musik unserer Röhrenjeans'n'Patronengut-Helden wäre 1988 eingefroren und just zum Mastering des neues Albums aufgetaut worden? Darf, soll oder muss man wirklich erwarten, auch im Jahr 2019 immer noch den gleichen Krempel von 1988 zu hören? Am Ende ist's vermutlich nur das Spiel mit der eigenen Erwartungshaltung, dem eigenen Leben nebst geistigem Horizont.
Problematisch wird's wenigstens in meinem Buch nur dann, wenn der besonders in Genres wie dem Speed, Thrash und Death Metal so immanent wichtige und prägende Vibe juveniler Durchgedrehtheit abhanden kam und entweder mit bräsiger Loggerpeder-Arroganz und/oder einem over-the-top-Soundmassaker ersetzt wurde. Ich kann viel aushalten. Ich gebe auf Schubladen und Genredefinitionen und -dogmen sehr viel weniger, als es mir so mancher andichten will. Aber mir fehlt bisweilen das Verständnis für laue Kompromisse und für Faulheit.
Die kommenden sechs Beispiele für Alben-Comebacks, die ich mir für diese Serie herausgefischt habe und die alle mit kleinen aber feinen Reviews bedacht werden, bilden für derlei Betrachtungen einen idealen Rahmen, denn eigentlich ist damit die volle Bandbreite abgedeckt. Und manchmal ist sogar noch Platz für die berühmten Zwischentöne.
Den Anfang machen Noctnurnus AD, eine Inkarnationen der legendären Death Metal Band Nocturnus, mit ihrem Comebackversuch "Paradox".
NOCTURNUS AD - PARADOX
Erster Grund für Herzoperationen bei Managern, Promotern und allen anderen Musikindustriemenschen: eine Band löst sich auf und macht danach mit unterschiedlichen Line-ups und sich ständig wechselnden Bandnamen weiter. Spätestens nach dem zweiten Wechsel wissen nur noch eingefleischte Superloyalo-Nerds wer hier eigentlich mitmischt, der Rest ist von derlei künstlerischer Exzentrik völlig überfordert und macht den Peter Lustig. Abschalten.
Über 26 Jahre hatte Gründungsmitglied und Drummer Mike Browning sein Nocturnus-Outfit abgeschaltet (von einer eher obskuren und ohne ihn stattfindenden Wiederbelebung zwischen 1999 und 2002 abgesehen, q.e.d.) und kehrt nun, natürlich unter erneut verändertem Namen und Line-up, zurück. "Paradox" schließt - und das ist in diesem Fall mehr als nur eine Floskel - nahtlos an das als Klassiker im Death Metal-Kanon verankerte "The Key" von 1990 an. Angefangen beim Cover-Artwork, über den Sound, den Einsatz schräger und origineller Keyboards fernab jedes Gothic Kitschs, manisch verspulten Gitarrenriffs, komplexen Songs bis hin zum textlichen Konzept ist hier selbst für die traditionell vergangenheitsfixierte Metalszene auf beinahe bizarre Weise die Zeit stehen geblieben. Das ist für einen kurzen Moment charmant, in der immanenten Verzweiflung aber auch ungesund traurig: wie sich die Band im Videoclip zum klar schwächsten Song des Albums "Apotheosis" in Billo-Sci-Fi-Umgebungen mit Billo-Überblendungen und Billo-Videoeffekten wie eine Horde "querschnittsgelähmter Faultiere" (Kalkofe) abmüht, schaut man sich besser gar nicht an. Oder eben doch.
Wer indes "The Key" und zu gleichen Teilen technischen wie kruden Old School Death Metal feiert und modernen Metal in all seinen uninspirierten, oberflächlichen, ranschmeißerischen, polierten Auswüchsen in weiten Teilen für einen Haufen festgekrustetes Elefantensperma hält, findet mit ein paar Metern Sicherheitsabstand sicher Spaß an "Paradox". Ich habe an solchen Platten mehr Freude als am gesamten Labelprogramm von Nuclear Blast.
Kann man sich neben die 1-Euro-Ammoniten vom Flohmarkt und die Inklusen von in Bernstein eingeschlossenen Insekten aus dem Paläozän ins Regal stellen und ab und zu melancholisch in der Hand wiegen.
Es ist nach zumindest intensiverem Synapsen-Mikado vermutlich keine allzu große Überraschung, dass sich so einiges, was sich vor zwei oder drei Dekaden nicht nur, aber vor allem in der Metal-Ursuppe tummelte, mit einigen Jahren Abstand nicht mehr ganz so revolutionär oder abgedreht anhört, wie es sich beim Erstkontakt möglicherweise anfühlte. Rock im Allgemeinen und Metal im Speziellen mögen aufgrund der durchaus signifikanten Entwicklungssprünge in Sachen Klang, Härte und Dichte, die das Rock-Genre vor allem seit den frühen Nullern durchmacht, besonders anfällig für einen ungünstig verlaufenden Alterungsprozess ihrer vermeintlichen Klassiker sein; Ausnahmen gelten für die seit Äonen ubiquitären Legenden des Mainstream wie Maiden, Priest, Sabbath, Purple und Zeppelin, deren weichgezeichneter Labbersound aus der Eisenzeit heute eher als wünschenswerte Patina gewürdigt wird, sowie für die berüchtigte Loyalität des Metal-Publikums: was mal in den Klassikerkanon einsortiert wurde, kommt da so schnell auch nicht mehr raus. Wie schon in dem Beitrag aus dem Jahr 2018 über Benedictions "Transcend The Rubicon" bemerkt, ist ein heute 15-jähriger Metalfan, der mit der klanglichen Intensität aus dem Metal- und Deathcore oder der technischen Qualität des heutigen Death Metal vertraut ist, mit der Musik seiner Eltern nicht nur aus pubertären Gründen im Sinne der Abgrenzung psychologisch herausgefordert, sondern insgesamt unterfordert.
Dasselbe kann zumindest für diesen Aspekt auch ohne gröbere Gewissenskonflikte über das Debut der US-amerikanischen Band Cynic geschrieben werden, die mit ihrem Debut "Focus" im Jahr 1993 auf der Bildfläche erschienen - wenngleich der Auseinandersetzung mit etwas addierter und der Musik angemessenen Komplexität sicher kein Schaden zugefügt wird, ganz im Gegenteil. "Focus" gilt heute weitläufig als Klassiker des Progressive Metals/Death Metals, und zieht man die Umstände der damaligen Zeit sowie der Szene in Betracht, hat es diesen Status als Zeitdokument einerseits, aber auch als Einfluss auf die spätere Entwicklung des Genres andererseits nicht zu Unrecht.
Zwar war man selbst als Death Metal Fan im Jahr 1993 schon so einiges gewohnt, weil die "Anything Goes"-Mentalität der frühen neunziger Jahre den Zeitgeist bis in den Untergrund bestimmen sollte: Fear Factorys Debut "Soul Of A New Machine" zeigte bereits ein Jahr zuvor Experimente mit Klargesang zwischen dem gutturalen Geröchel, Atheist lösten die schon auf früheren Alben nur unzureichend gesicherten Bremsen mit "Elements" endlich komplett und verbanden die fast vollständig aufgelösten Restspuren ihrer Death Metal Vergangenheit mit Latin und Salsa-Beats, während Chuck Schuldiner von Death, dem Großteil der Szene stets mit Sieben-Meilen-Stiefeln voraus, mit "Human" nicht nur einen Meilenstein des technischen Death Metals vorgelegt hatte, sondern auch automatisch die Marschrichtung der kommenden Entwicklungen im extremen Metal vorgab. Maßgeblichen Einfluss daran hatte auch die Hälfte von Schuldiners damaligem Line-Up: Paul Masvidal an der Gitarre und Sean Reinert am Schlagzeug spielten auf "Human" förmlich um ihr Leben und beeinflussten damit Musiker wie einen Gene Hoglan (u.a.Dark Angel), der Reinerts gewebte Prog- und Fusion-Fäden auf "Human" als späterer Death-Schlagzeuger auf den Alben "Individual Thought Pattern" (1993) und "Symbolic" (1995) aufnahm und dabei selbst stetig weiterentwickelte.
Eben diesen beiden Musiker Paul Masvidal und Sean Reinert bildeten auch die kreative Keimzelle bei Cynic. In Zusammenhang mit dem "Focus"-Produzenten Scott Burns und dem Morrissound Studio in Florida, beides in der Kombination zur damaligen Zeit DER Maßstab schlechthin, wenn es um Death Metal Produktionen ging, wurden Cynic als "Next Level Death Metal" vermarktet - und dafür hatte der ungewöhnlich progressive Sound es durchaus in sich. Die Band wechselte von anspruchsvoll zu spielendem, technischem Death Metal in Bruchteilen von Sekunden in spirituell anmutende und ätherisch wirkende Traumwelten, in denen Akustikgitarren und die mittels Vocodereinsatz surreal verfremdete Stimme von Masvidal den Sound prägten - nicht zu vergessen das melodische Harmonien aufziehende Bassspiel von Sean Malone, der mit seinem Fretless Bass dem Bandsound zusätzliche Originalität verpasste. Im Ergebnis habe ich "Focus", trotz der recht eindeutigen Vorzeichen, nie als Death Metal wahrgenommen; tatsächlich habe ich mich nie darum bemüht, überhaupt irgendeine passende Schublade dafür zu finden.
Ich habe mir vor wenigen Wochen den Vinyl-Reissue von "Focus" gegönnt und mich in diesem Zuge wieder intensiver mit dem Album befasst. Ich war zunächst über den Sound überrascht - und nicht unbedingt im positiven Sinne. In meiner Erinnerung war das Brett, das die Band mit Scott Burns bohrte, bedeutend dicker und druckvoller als ich es heute empfinde. Ein Gegencheck mit der CD und einem digitalen Format verschaffte Aufklärung: "Focus" klang auch schon 1993 nach heutigen Maßstäben nicht besonders gut, was vielleicht das eindrücklichste Zeichen dafür ist, dass der Zahn der Zeit auch in diesem Fall ein Stück der Faszination abnagen konnte. Interessant ist indes, dass sich im Vergleich zu Burns' Standardsound (Bass- und Schlagzeug-Regler auf 11, alle Mitten raus) auf "Focus" etwas mehr Transparenz und Differenzierung zeigt - das ist unter gegenwärtigen Gesichtspunkten zwar immer noch nicht viel, war aber für damalige Verhältnisse immerhin eine Varianz, eine Öffnung.
Darüber hinaus erscheint "Focus" aus heutiger Sicht bei Weitem nicht mehr so abgedreht zu sein, wie es sich in der Erinnerung immer noch anfühlt - und wie Rezensenten und Kommentatoren es bis heute beteuern. Besonders ist das Album auch 25 Jahre später ganz sicher noch, technisch wie visionär herausragend - aber am Ende des Tages lediglich im traditionell sehr eng begrenzten Kosmos von Rockmusik und Heavy Metal als unkonventionell zu bezeichnen. Das ist aus diesem Blickwinkel auch im Jahr 2019 noch legitim, vielleicht angesichts der tatsächlich noch dramatischer in Erscheinung tretenden Mutlosigkeit der Szene noch mehr als das. Aber für die, die keinen Tellerrand kennen, weil sie nicht mal einen Teller haben, spielt sich dann eben doch zu viel im Rahmen dessen ab, was man so kennt: klassische Instrumentierung, klassisch-progressive Arrangements, klassischer Sound. Das stete Gerede über ein mit übergeschnappten Ideen vollgepacktes Avantgarde-Jazz-Experimental-Feuerwerk ist letzten Endes irreführend.
Cynic wurden im Grunde nach ihrer zwischenzeitlichen Pause und ab 2008 mit dem Comebackalbum "Traced In Air" interessanter, weil sie subtiler wurden. Das Gerippe hatte immer noch Rockmusik eintätowiert - und ganz ehrlich: etwas anderes wollte und sollte die Band ja auch niemals sein - aber die Anpassungen in den Arrangements wurden so feingliedrig und behutsam umgesetzt, die Atmosphäre so genuin ätherisch und schwebend inszeniert, dass die Fraktion, die mit "Focus" Death Metal und Mucker-Frickeleien verband, mit dem signifikant zurückgeschraubten Metal-Anteil in ihrer Musik nun wenig überraschend ernste Probleme bekam. Eine erneute Weiterentwicklung gab es auf dem bislang letzten Album "Kindly Bent To Free Us" (2014) zu hören, auf dem Cynic eine besonders nuancierte Nische des Progressive Rocks besetzten und sich von Metal noch mehr als zuvor abgrenzten.
Es hat Spaß gemacht, "Focus" nochmal zu besuchen und es in diesem Zusammenhang nochmal neu einzusortieren - vielleicht war die neuerliche Beschäftigung nach meiner ganz persönlichen Öffnung zu so unterschiedlichen Musikgenres möglicherweise noch lohnenswerter, als sie es in meiner Adoleszenz war. Ich höre "Focus" heute sicherlich mit anderen Ohren als ich es noch 1993 tat.
Auch wenn der oben gemachte Versuch einer Differenzierung immer gut tut: An der visionären Kraft, dem Mut und dem Einfluss von "Focus" gibt es auch im Jahr 2019 nur wenig zu rütteln.
Ich habe ehrlicherweise lange mit mir gerungen, ob eine live aufgenommene Platte wirklich an der Spitze meiner Jahrescharts stehen sollte. Ganz aus Prinzip. Hätten es nicht eher die brillianten Wanderwelle mit ihrer funkensprühenden Kreativität oder die künstlerischen und traumwandlerisch souveränen The Sea And Cake verdient gehabt? Möglicherweise irgendjemand sonst, der wirklich neue Musik im Jahr 2018 präsentieren konnte und also nicht auf Bewährtes zurückgreifen musste, um eine Veröffentlichung vorweisen zu können?
Am Ende war es eine Entscheidung für ein "mehr als die Summe der einzelnen Teile", eigentlich für das Lebenswerk einer Band, die seit 40 Jahren im Geschäft und noch immer so voller Kraft, Leidenschaft und Kreativität ist. Die nach so langen wie problematischen Zeiten in den neunziger Jahren, in denen außer einer überschaubaren aber loyalen Fanbase niemand mehr einen Pfifferling auf sie geben wollte, sich immer wieder aufraffen und sich am eigenen Schopf aus dem Dreck ziehen konnte. Die trotz eines musikalischen Klimas, das für eine Progressive Rock Band, in der kein Steven Wilson mitspielt, kaum ungemütlicher und unwirtlicher sein kann, plötzlich mit einem aufsehen erregenden Studioalbum in die vorderen Regionen der Charts einsteigen konnte. Und die sich Ende 2017 plötzlich dort wiederfanden, wo sonst nur die größten der Großen aufspielen dürfen: in der Royal Albert Hall. Ein Blick in die Gesichter der fünf Musiker an diesem Abend sagt alles, was man über ihre Hingabe, ihre Begeisterung und ihr Durchhaltevermögen wissen muss.
Ich habe im August des letzten Jahres sehr ausführlich über "All One Tonight" berichtet und weil ich nicht glaube, außer den an dieser Stelle ausgebreiteten und also einleitenden Sätzen noch weitere Einsichten zum Besten geben zu können, die über das bereits Geschriebene hinaus gehen, lade ich meine werten Leserinnen und Leser ein, den damals herausgearbeiteten Text nochmals über sich ergehen zu lassen - oder ihn alternativ zum ersten Mal zu lesen. Nicht nur mit einer billigen Verlinkung, sondern mit dem vollen Text und in voller Pracht.
Ich beendete jene erste Huldigung auf "All One Tonight" mit dem Satz "Das ist die beste Band der Welt" und um den Kreis zu den eingangs gestellten Fragen zu schließen: Dann gehört die beste Band der Welt auch auf Platz 1 der Jahrescharts 2018.
Verdient ist eben verdient.
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Fans von Marillion sind bisweilen ein seltsames Völkchen. Die Diskografie der Band auf dem Plattensammler- und Plattenverkaufsportal Discogs listet aktuell nicht weniger als 142 Alben auf - und obwohl das Quartett auf eine beinahe vierzigjährige Karriere zurückblicken darf, die sicherlich nicht in erster Linie von Däumchendrehen und Tee trinken geprägt war, erscheint die stattliche Anzahl ein wenig irreführend: die loyale Handvoll Bekehrter, die der Band seit Jahrzehnten nicht nur aus der Hand frisst, sondern sie auch mittels eigenständig durchgeführter Internetpromotion ein wenig mehr in den musikgesellschaftlichen Fokus rücken und damit auch gleichzeitig das eigene Ego ein wenig streicheln möchte, hat also ganze Arbeit geleistet und wirklich jede noch so obskure Zusammenstellung und Liveaufnahme der über die geschäftlichen Hauptquartiere Racket Records, Intact Records und Front Row Club vertriebenen CDs in der Diskografie als Album geführt, hinzu kommen außerdem Bootlegs und BBC Radiomitschnitte, deren Aufnahmedatum in den Kommentarspalten auch noch rührselig korrigiert werden. Das passiert sicherlich und ausschließlich mit den allerbesten Absichten, ist einerseits lohnenswert für die Komplettisten in uns, die dieses eine Rothery-Lick von dieser raren Budapest-Liveaufnahme unbedingt auf eine Plastikscheibe gebrannt haben möchten, andererseits völlig überwältigend und unübersichtlich für fast alle anderen. Wer in dieses Rabbit Hole tatsächlich reinkrabbelt und sich die gelisteten Veröffentlichungen etwas genauer anschaut, stellt schnell fest, dass Liveaufnahmen integraler Bestandteil des Marillion'schen Selbstverständnisses sind. Die Anzahl ist Legion, und der Eindruck, die Band habe von jedem ihrer Konzerte in den letzten 40 Jahren mindestens sieben verschiedene Albenveröffentlichungen geschnitzt, wird plötzlich sonderbar real. Aber wer das alles kauft? Und wer das alles hört? Ich sagte doch: es ist ein seltsames Völkchen.
Selbst mit den offiziellen und also im regulären Handel erhältlichen Livealben wird es für das weniger gut organisierte Oberstübchen unübersichtlich und spätestens bei den zahllosen Versionen eines einzelnen Titels zerfällt wenigstens mein Dachgeschoss in Mikropartikel. In den letzten Jahren begeisterten mich aus dieser Kategorie immerhin zwei Aufnahmen so ausgeprägt, dass sie seitdem im heimischen Plattenschrank stehen und - entgegen des immer wieder vorgetragenen Einwands, man könne das ja eh niemals im Leben alles hören, aber stattdessen alles mal schön einstauben lassen - ziemlich regelmäßig auf dem Plattendreher und in der Playlist landen: "Marbles On The Road" und "A Sunday Night Above The Rain" sind exquisite, auf jeweils 3 LPs verteilte Liveaufnahmen, und ja, ich muss es zugeben: diese eine Version von "Montreal" - holy fucking shitballs, die sollte man gehört haben. Um Missverständnissen vorzubeugen: es ließe sich hier nachlesen, dass ich dem Song vor sechs Jahren nicht sonderlich zugetan war. Jetzt weiß ich: "I was wrong." (Mike Ness)
Dass nun im Jahr 2018 selbst die allergrößten Die-Hard Fans das aktuelle Werk "All One Tonight" als bestes Livealbum der Band seit dem Urknall feiern, lässt zunächst aufhorchen; bei genauerer Betrachtung ist indes kein anderes Urteil möglich. Die Band spielte nach dem überraschenden Erfolg ihres letzten Studioalbums "F.E.A.R." mit seinem Top Ten-Charteinstieg im Vereinten Königreich, in der nicht nur altehrwürdigen, sondern auch restlos ausverkauften Royal Albert Hall und das ist denkwürdig genug: dort, wo sich sonst nur die richtig Großen die Klinke in die Hand geben, die Roger Waters', die Brian Mays, die Robert Plants, kommen Marillion-Fans aus der ganzen Welt angereist, um das beeindruckende Gemäuer mit Licht, Liebe und Musik zu füllen. Ich möchte nicht respektlos klingen, aber Marillion galten allerspätestens ab Mitte der 1990er Jahre und der Trennung von der EMI nicht gerade als kommerziell attraktiv oder vielversprechend und segelten mit den in Eigenregie organisierten Crowdfunding-Kampagnen und derart finanzierten Albumveröffentlichungen nebst selbstständig gegründeten und geführten Labels unter dem Radar des Mainstreams - manchmal sogar unter dem Radar des Undergrounds. Das Ergebnis: eine außerordentlich enge, vielleicht einmalige Verbindung zu ihren Anhängern - die sich wenig überraschend in den zweieinhalb Stunden dieses auf sage und schreibe 4-LPs verteilten Mammutprogramms in voller Pracht zeigen darf. Die Publikumsreaktionen lassen das Dach der Royal Albert Hall abheben und wer via BluRay/DVD/Youtube in die Gesichter und auf die Körpersprache der Band schaut, die angesichts der Begeisterungsstürme und ob der schieren Tatsache, dass sie tatsächlich und nach vierzig Jahren zum ersten Mal in der verdammten Royal Albert Hall spielen dürfen, erkennt die Einzigartigkeit dieses Abends, dieser Band und ja: auch dieser Fans. Als konkretes Anschauungsobjekt möchte ich auf das weiter unten eingebettete Video von "Go" und auf die Szenen ab Minute 4:55 Minuten verweisen. Die Herzallerliebste und ich überbieten uns praktisch fortwährend mit den über uns schwappenden Gänsehautattacken.
Über das in Gänze aufgeführte "F.E.A.R." habe ich mittlerweile schon genug Lobeshymnen geschrieben, und ich könnte mich auch knapp 2 Jahre nach der Veröffentlichung nur wiederholen - es bleibt eines der drei herausragenden Alben ihrer Karriere und der damit erreichte Erfolg gibt Anlass zur Hoffnung, dass doch noch nicht alles verloren ist. Der zweite Teil des Abends besteht aus bekannten Bandklassikern wie "Afraid Of Sunlight", "The Space", "Easter" oder "Neverland", die mit der Unterstützung eines kleinen Orchesters aufgeführt werden und glücklicherweise nie überarrangiert in die Kitschfalle aus dem Hause Rondo Veneziano plumpsen, sondern dank der sehr behutsam in die Songs eingepassten Orchestrierung zwar voluminöser und einen Tacken melancholischer klingen, aber nie den eigentlichen Spirit aus dem Kern der Komposition verlieren. Unter normalen Umständen wird "All One Tonight" künftig in einem Atemzug mit "Live & Dangerous", "Live At The Apollo", "At Folsom Prison", "It's Alive" oder "Made In Japan" genannt. Nur: was ist heute noch normal?
Nun ist Herr Dreikommaviernull grundlegend ziemlich nah am Wasser gebaut und es ist nicht ungewöhnlich für mich, von Musik so tief berührt zu werden, dass mir selbst in der Öffentlichkeit die Tränen über die Wangen laufen. Es gibt beispielsweise die Heart-Coverversion von Led Zeppelins "Stairway To Heaven" aus dem Kennedy Center, bei der ich in den letzten dreieinhalb Minuten - völlig egal wo ich bin, wie es mir geht, was ich gerade denke und/oder mache - _IMMER_ Rotz und Wasser heulen muss und es also dem ebenfalls sehr gerührten Robert Plant gleichtue - obwohl mir Led Zeppelin weithin am Gesäß vorbeigehen und am Ende des Videos außerdem ein paar Rockstars auf der Bühne stehen, die sich meinetwegen besser einmauern sollten, aber ich kann mich selbst angesichts dieser "abominations unto the lord" (John Oliver) einfach nicht dagegen wehren, emotional fast zerrissen zu werden. Als ich in der vergangenen Woche in meiner Rolle als professioneller Businesskasper im ICE nach München saß und mir mit "Neverland" das schönste Lied der Welt ins Schallgesims gedrückt wurde, rächte sich mal wieder die Entscheidung, keine Papiertaschentücher ins Reisegepäck aufgenommen zu haben. Wie soll man sowas aushalten?
Manchmal erscheint das alles zu groß, wichtig - überlebenswichtig! - und heilend, um es darüber hinaus in Worte oder auch nur Gedanken zu kleiden.
Manchmal ist es besser, es einfach so im Raum stehen zu lassen: Das ist die beste Band der Welt.
Es ist oftmals eine Herausforderung für mich, über alte Bekannte zu schreiben, solche zumal, die zu den Stammgästen auf Dreikommaviernull gehören. Ich habe in den letzten 12 Jahren gleich sieben Mal über The Sea And Cake geschrieben - und das, obwohl die Band in dieser Zeit nur drei Platten veröffentlichte. Eigentlich ist über sie und meine besondere Verbindung mit ihnen alles gesagt, alle Huldigungen sind gefühlt hundertfach ausgesprochen, sämtliche Fanbrillen längst ins Gesicht zementiert, die LP-Sammlung wird gehegt und gepflegt und ist dabei nicht nur komplett, sondern wegen den von Thrill Jockey farblich einzigartig designten Vinylreissues aus den letzten zwei Jahren sogar überkomplett. Schon wieder muss Polt zitiert werden, denn: "mehr habe ich nicht hinzuzufügen!". Eigentlich.
Vielleicht aber doch noch eine Kleinigkeit.
"Any Day" war nach sechs Jahren Funkstille ein zwar erhofftes, aber nicht notwendigerweise erwartetes Comeback. Bassist Eric Claridge musste aus gesundheitlichen Gründen sein Engagement bereits vor einigen Jahren beenden, Schlagzeuger John McEntire ist mit Tortoise und Studiojobs ausgelastet, Gitarrist Archer Prewitt arbeitet als selbstständiger Illustrator und Zeichner und Sam Prekop ist in seiner Heimatstadt Chicago aktiver und erfolgreicher Künstler. Die Annahme, dass sie alle nach 25 Jahren Bandkarriere und vermutlich auch nicht erst seit gestern nicht mehr auf The Sea And Cake angewiesen sind, um sich entweder kreativ zu betätigen oder um nur banal die Zeit totzuschlagen, ist wohl nicht allzu abenteuerlich. So löste die Ankündigung für ein neues Studioalbum nichts als große Freude bei mir aus - die sich angesichts der ebenfalls erfolgten Bekanntgabe eines Konzerttermins in Frankfurt im Juni 2018 gar zu einer - Pardon! - prachtvollen Erektion ausweitete.
Ich schrub kürzlich über die sehr gute Band Tocotronic, dass deren 2018er Album "Die Unendlichkeit" zu einem Lebensgefühl, einem Begleiter wurde. Ohne das Urteil weder für die einen noch die anderen verwässern zu wollen, und ich bin mir des möglichen Risikos hierfür durchaus bewusst, aber ich kann, nein: muss! dasselbe nicht nur über "Any Day" in den virtuellen Notizblock kritzeln, ich muss es auf die ganze Band ausweiten. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der langen Pause lag, in deren Verlauf zwar kein Frühling und kein Sommer ohne eine geradewegs hypnotische, aber auch nach Jahren der Auseinandersetzung irgendwie abgeklärt durchgewunkene Phase mit ihrer Musik verging, dass mich die Band sogar über das bekannte Maß hinaus so tief traf wie noch nie zuvor - und wer meine früheren Einlassungen zu The Sea And Cake kennt, wird verstehen, warum das etwas Besonderes ist. Oder lag es an meinem fortgeschrittenen Alter und meinen bestenfalls in gleichem Ausmaß fortgeschrittenen Erfahrungen, Gedanken, Einsichten? Und warum muss es eigentlich immer ein "oder" sein?
Mir ist den letzten zehn Jahren in einigen wenigen Fällen eine neue und bedeutend intensivere Liebe zu Bands aufgefallen, die ich zwar schon früher längst auf den musikalischen Olymp geschoben hatte, aber plötzlich einen extragroßen Schubser in den fast schon ätherisch zu nennenden Bereich mitnehmen konnten, in dem die Luft selbst für Götter dünner wird. Ein gutes Beispiel sind King's X, die ich mittlerweile in jedem vorstellbaren Universum und für jeden vorstellbaren Aspekt für völlig unantastbar halte und für die meine Anerkennung weit über Alben, Songs oder Texte hinausgeht. Es ist eher der schier endlose Respekt für das Lebenswerk voller Kreativität, Virtuosität, Durchhaltevermögen, Freundschaft, Zusammenhalt, Inspiration, Freiheit, Offenheit, Hingabe und Leidenschaft.
Ich habe diesen schier endlosen Respekt im letzten Jahr auch für The Sea And Cake gefunden. Ihr Zusammenspiel, ihre Subtilität, ihre Virtuosität, ihr Entdeckerdrang und ihre Ausstrahlung sind völlig einzigartig. Niemand klingt so wie diese vier Musiker, niemand sonst spielt diese feinstoffliche Musik so filigran, so präzise - und dabei gleichzeitig so mühelos und lebhaft. Ich habe heute das Gefühl, "Any Day" hat mich an den Punkt im Universum von The Sea And Cake gebracht, an dem ich den 360° Blick über all das habe, was diese Band im Kern ausmacht, was sie wirklich ist - und diesen Blick dabei jederzeit bis in die engmaschigste Nuance ihres Sounds vergrößern kann, um sie von allen Seiten zu betrachten. Sie funkeln und leuchten zu sehen.