AMANDA WHITING - LOST IN ABSTRACTION
"What are they tuning, a harp?!" (Kurt Cobain)
Eine Harfe. Ich liebe Harfenmusik. Ich höre viel zu selten Harfenmusik. Ich sollte viel öfter Harfenmusik hören.
Als ich beim Stöbern im Frankfurter Plattenladen Tactile Records über "Lost In Abstraction" stolperte, fiel die Kaufentscheidung im selben Moment, als ich Amanda Whitings Instrument der Wahl erblickte. Dorothy Ashby, Alice Coltrane und, etwas aktueller, Joanna Newsom haben das engelsgleich klingende Rieseninstrument direkt in meine linke Herzkammer gerollt, jetzt ich bin bereit für einen neuen Namen, eine neue Idee, einen neuen Weg.
Die Waliserin Amanda Whiting hat sich für ihr sechstes Soloalbum einen etwas missverständlichen Titel ausgesucht. "Abstrakt" klingt hier wenig. Das Album erschien im vergangenen Jahr auf Jazzman und da tanzt für gewöhnlich nicht gerade die Avantgarde auf den Tischen - und erwartbar bleiben die Geschwister "Dekonstruktion" und "Atonal" auch draußen vor der Tür. Im gleichen Atemzug muss ich aufpassen, es nicht gleich wieder ins Despektierliche abgleiten zu lassen, wenn ich das Bild vom "Drinnen" zeichne und von britischer Konfektionierung spreche, diesem doch sehr prosaischen Duktus des größeren Teils der der aktuellen britischen Jazzszene, der mehr Wert auf Versachlichung als auf das manische Erleben von Grenzerfahrungen legt. "Lost In Abstraction" kann bis auf ein, zwei Momente völlig problemlos als Hintergrundmusik für den sonntäglichen Brunch in der Alten Oper in meiner Heimatstadt verwendet werden. Das mag an sich schon eine Qualität sein, die es zu schätzen gilt - die Harfe ist ein leises Instrument, daher ordnet sich die Musik des Quartetts ihr ganz natürlich unter und wird grazil, elegant, zu gleichen Teilen subtil wie direkt und bietet viel Oberfläche zur räumlichen Entfaltung. Diese Vielfalt gibt es bei all der polierten Fassade tatsächlich auf "Lost In Abstraction", und es ist lohnenswert, auch besonders diese Räume zu besuchen.
Whiting verwendet ihre Harfe mal als Substitut für ein Piano zur Begleitung, als Grundierung für die melodischen Akzente, die Chip Wickham, ein alter bekannter der britischen Jazzszene, mit seinem Saxofon und seiner Flöte in den Mix einwirft. Tritt sie in Solopassagen oder in harmonisch stärker ausdifferenzierten Momenten mehr in den Vordergrund, erwächst aus ihr eine beinahe mystische Qualität, etwas Phantastisches. Zusammen mit dem Perkussionisten Baldo Verdú bereist sie in "Where Would We Be" die nächtliche Wüste, und besucht Oasen auf dem wackligen Rücken von Kamelen. Im Solostück "Discarded" perlen die Töne durch ein kaskadenförmiges Wasserspiel, frei beweglich, spielerisch - und es ist auch sechzig Jahre nach Alice Coltrane immer wieder verblüffend, wie viel Texturen dieses so liquide Instrument ausformulieren kann. In "Too Much", einem der Höhepunkte des Albums, duelliert sich Whiting gar mit dem Bassisten Aidan Thorne, der zunächst mit einem virtuosen Solo startet, bevor er mit der Band ein pulsierendes Rhythmusdickicht inszeniert, auf dem Whiting sich mit einem stilisierten Gitarrensolo austobt.
Wie so oft liegen auch auf "Lost In Abstraction" die hocherfreulichen Entdeckungen der Musik unter der Oberfläche, sind etwas verborgen, ein bisschen Chiffre hier, ein bisschen Mystik da. In Zeiten, in denen wirklich alles am Exterieur verhandelt wird, weil Kapazitäten und Ressourcen als Folge von kompletten Verlust von Fokus so knapp sind, dass sie nur für die reine Existenz im Maschinenraum des Lebens die Notbeleuchtung aufrecht erhalten, sind Momente solchen Eintauchens Gold wert.
Vinyl: Jazzman Pressungen sind selten fehlerfrei, und so ist es auch hier. Schlimmster Makel ist der Seitenschlag auf der B-Seite, das heißt: die Rillen sind nicht zentriert gepresst und je weiter der Tonarm in Richtung Plattenmitte wandert, desto mehr Raum bekommt der LSD-Trip des Leierkastenmanns. Darüber hinaus: non-fills und zahlreiche Klicks, vor allem auf der B-Seite. Ich höre mir die Platte trotzdem an, weil Streaming immer noch der hinterletzte Vollscheiß ist, aber gut ist ist das nicht. Das Frontcover ist toll. Das Foto der Musikerin auf dem Backcover ist hingegen diskussionswürdig. Welche*r halbwegs professionelle Fotograf*in schaut sich sowas an und denkt sich "Sieht prima aus, das nehmen wir!"?! Dafuq?! (+)
Erschienen auf Jazzman Records, 2022.