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04.05.2021

The Story Of thOught industry

Meine leider etwas holzig formulierte Lobeshymne auf eine der interessantesten, mutigsten, vielseitigsten, technisch versiertesten und scheißrein, ich sag's jetzt: besten Bands der 1990er Jahre ist schockierenderweise beinahe volle 12 Jahre alt, und es ist einer jener Texte, bei denen ich mir heute wünsche, ich hätte sie etwas später geschrieben. Es zeigt sich wiederholt, dass zwischen "gut gemeint" und "gut gemacht" zwei bis drei Enden der Welt liegen können; zumindestens gilt das für die frühen Texte des "Flohihaan" (Monaco Franze) - und manchmal sogar immer noch für das aktuell Erbrochene. Sad.

Inhaltlich gibt es indes nur wenig zu mäkeln, auch wenn meine Ergebenheit gegenüber ihrer Musik im Jahr 2021 sicherlich noch größer ist und im Falle eines heute geschriebenen Textes eine nochmal bedeutend euphorischere Wortwahl verwendet werden müsste. thOught industry stehen in meiner Realität in jener Reihe großer Bands, denen der "OK, Boomer!"-Sticker mit der Aufschrift "Solche Bands werden heute nicht mehr gebaut" bestens zu Gesicht stehen würden. Und verfickt nochmal, ich sag's jetzt nochmal, und zwar laut:


SOLCHE BANDS WERDEN HEUTE NICHT MEHR GEBAUT!!!1111eins1


Ich habe mich über die Jahre sehr oft gefragt, was die ehemaligen Mitglieder wohl heute so treiben mögen und auch wenn ich darauf immer noch keine Antwort habe, kam ich dem Mysterium dieser Irren kürzlich ein bisschen mehr auf die Schliche: Der Youtube-Kanal STAUNCH T.V. hat tatsächlich den früheren Gitarristen Christopher Lee Simmonds ausfindig gemacht und ihn eine knappe dreiviertel Stunde über die Geschichte der Band erzählen lassen. Es bieten sich so faszinierende wie abstoßende Einblicke in die Welt der thOught industry. Die wichtigsten Erkenntnisse, erstens: man muss nicht miteinander befreundet sein, um großartige Musik zu machen. Zweitens: Metal Blade waren (?) offenbar mal ein totaler Saftladen. Drittens: Suff und Drogen killen jede große Band, es ist schlicht erschütternd. 

Wer die Band bislang nicht auf dem Radar hatte und nun Lust auf ihre Musik bekommen haben sollte: es ist egal, welches ihrer Alben man anwählt - sie sind alle (!) großartig. Kein Witz. Isso.


 


 

17.01.2021

Die besten Vinyl-Nachzügler (3): Ministry - The Mind Is A Terrible Thing To Taste



MINISTRY - THE MIND IS A TERRIBLE THING TO TASTE


"Man muss die Erscheinung des hässlichen Echten grundsätzlich verteidigen", schrieb Roger Willemsen mal in Anlehnung an die lebensverändernde Begegnung mit der Ausnahmekünstlerin Sinéad O'Connor und ihren Kampf mit einer Unterhaltungsindustrie, die keine Liebe für sie hatte, denn: wenn kein Konsens herzustellen ist, ist es nicht attraktiv. Wenn Künstler sich selbst und ihrer Verwertungsmaschinerie Schaden zufügen können, wenn es Selbstzerstörerisch wird, peinlich, werden Existenzberechtigungen in der Öffentlichkeit entzogen. 

Mich erinnerte das an meinen im Jahr 2020 zweiten gefeierten Frühling mit Ministry und ihrer wohl prägendsten Phase von 1988 bis 1998. Weniger, weil man Ministry Existenzberechtigungen entziehen wollte, schließlich fand die erfolgreiche Selbstidentifikation mit der Band nicht zuletzt über den inszenierten Tabubruch statt, über Extreme und Enthemmung, sondern weil Ministry in ihrer Hochphase für totale Anarchie standen, für beidseitigen Kontrollverlust. Das war in der dargestellten Echtheit tatsächlich hässlich, peinlich, selbstzerstörerisch und damit auch gefährlich. Für jene, die außer Kontrolle waren, für jene, die sie kontrollieren wollten, wo nicht mussten, und für jene, die von Außen zuschauten. 

Ministry waren ein großer Zirkus, eine Attraktion, der Mann mit den zwei Köpfen und vier Pimmeln - aber sie waren es vor allem, weil sie echt waren, echt kaputt. Disturbed. Die Anziehungskraft einer Platte wie "The Mind Is A Terrible Thing To Taste" geht von einer wahren, realen Gefährlichkeit aus. 

Al Jourgensen und Paul Barker waren über knapp 15 Jahre außer Rand und Band. Ich kann mich von schäbigem Voyeurismus leider nicht durchgängig freisprechen.


         

Erschienen auf Sire, 1989.


09.01.2021

Die besten Second Hand-Funde 2020 (4): Oddzoo - Future Flesh

 


ODDZOO - FUTURE FLESH


Die Herzallerliebste und ich beschlossen vor etwa drei Jahren, uns nach einer langen Zeit der Tanz-Abstinenz wieder öfter ins Nachtleben Frankfurts und der angeschlossenen Funkhäuser zu schmeißen. Nach einigen Tests mit ganz, äh, unterschiedlichen Erfahrungen und Ergebnissen, sollten vier Etablissements in der engeren Auswahl für die wochenendliche Abendplanung verbleiben. Eine Nacht, die künftig als feststehender Termin gebucht war, war der Fürstentanz im Gambrinus in Bad Homburg, eine Gothicparty, die für uns weniger wegen der Affinität zu solchen Sounds, als viel mehr durch die immer angenehmen Gäste interessant wurde. Keine Besoffenen, kein aggressives Verhalten, keine Idioten - keine offensichtlichen immerhin - what's not to like? 

Oddzoos "Future Flesh" haben wir auf dem Mainfloor noch nicht gehört, aber es wäre weder Stilbruch noch Überraschung: das französische Trio pendelt zwischen einer teils durchaus ruppigen und überdimensioniert arrangierten Noise-Ästhetik und pompösen, elegischen Melodiebögen und entwickelt in diesen Momenten nicht zuletzt wegen der glockenklaren Gesangsstimme ein bizarr wirkendes Pop-Verständnis, das für mindestens zwei Tanzflächenmonster in Deiner Gothic-Datsche gut sein dürfte. 

Besonders herausragend: die mit großen Refrains zugeballerten "Little Death", "Lunesta" und das abschließende "Singularity". Wenn Martin Gore, Danny Cavanagh und Chris Corner ein Nebenprojekt gründen würden.


 



Erschienen auf Blood Music, 2018.


01.08.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Stephan Mathieu - A Static Place





STEPHAN MATHIEU - A STATIC PLACE


Immer wenn ich ein Album von Stephan Mathieu auflege, mache ich nichts anderes außer zuzuhören. Ich habe das im letzten Jahrzehnt gelernt. Wobei: eigentlich begann die Schulung bereits 2008 mit dem mittlerweile als Klassiker zu nennenden "Radioland". Der Text, den ich im Sommer des Jahres 2009 in diesen Blog, nunja: erbrach, wird im Rückblick und selbst mit einer großen Portion Stechapfelkuchen mit Crystal Meth-Sahne dieser Platte nicht gerecht, aber er erschien mir damals ganz offensichtlich als angemessen, um die Aura um "Radioland" und ihren Einfluss auf meine Hörgewohnheiten zu beschreiben. Wenn es an eigenen und halbwegs ordnungsgemäßen Erklärungen mangelt, und Herr Zugeknöpft mit seinen Mitstreitern "Kopfkino" und "Klangkathedralen" aus der journalistischen Kleingartenanlage "Wortart Germania e.V." besser das Kartoffelbeet besprechen sollte, als sterbenslangweilige Texte im Internet zu verklappen, rutscht mir eben manchmal das Vokabelheft von Dr.Bizarro aus der Schreibmaschine. Immerhin: hier bin ich Chef, hier kann ich sein. 




Was nach all dem übrig bleibt und bleiben sollte: hört diesem Mann zu. 

"A Static Place" ist exakt eines nicht: statisch. Die Räume, Ebenen und Perspektiven, die Mathieu hier wie von Geisterhand zum Sein erweckt, wechseln beinahe sekündlich - und trotz dieser vermeintlichen Volatilität entwickelt sich jedes einzelne Bild in Echtzeit in einem formvollendeten Design. Es scheint fast, als dirigiere Mathieu diese ätherischen Partikelströme aus Klang lediglich mit der Kraft seiner Gedanken und Emotionen, er channelt Farbe und Bewegung, gräbt sich immer tiefer bis in die letzten dunklen Winkel ein, um auch sie mit Licht und Energie zu fluten. Das Bild ist weise gewählt: als Hörer habe ich den Eindruck, als könne ich alle Dimensionen dieser Musik erleben, jede Schwingung spüren, jeden Kontext aus einem Universum von Möglichkeiten erkennen und umgehend in eine Realität einsortieren. Jeder Ton wird Materie, funkelnd, mehrdimensional, mystisch, perfekt. Ich kenne keinen anderen Musiker, der Klang so unmittelbar erfahrbar werden lässt. 

"A Static Place" ist eines der betörendsten Alben des Jahrzehnts. 




Erschienen auf 12k, 2011. 

05.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 15 ° Die Wände - Im Flausch




DIE WÄNDE - IM FLAUSCH


Ich erinnere mich daran, dass ich der Herzallerliebsten das phänomenale Cover-Artwork zeigte und dazu verlauten ließ, die Platte heiße "Im Flausch" und mir sei es nun völlig wurscht, wie das klingt, ich müsse das jetzt blind und taub kaufen. Als Antwort erhielt ich ein "Ich bitte darum!" und im Subtext eine neuerliche Erinnerung daran, dass wir verheiratet, vulgo: "ein Kopf und ein Arsch" (H.Schenk) sind. Jetzt sind wir hier, im Sinne von am Jahresende angekommen und wie zu sehen ist, habe ich die Entscheidung nach dem Anhören nicht nur nicht bereut, sondern ganz außerordentlich begrüßt: das Trio spielt im Postpunk-, Indie- und Noise-Sandkasten, hat nicht nur im Gestus den obersten Hemdknopf geschlossen und rasselt mir mit nonchalant vorgetragenen Texten wie "Ich finde nichts mehr gut. Ich lege mich nicht mehr fest. Ich schmeiße alles hin." nebst anschließendem Noise-Ausbruch direkt in die linke Herzkammer. Die angenehm dosierte Dissonanz, sowohl in der Musik als auch in den hintergründigen Texten, piekst mich genau dort, wo ich's gerne hab: kein breitbeiniger Rockzirkus, sondern eher distinguiertes Detachement. Und wenn es doch schmutzig, krachend und laut wird, räumt hinterher jemand schön auf und macht wieder alles sauber - allerdings mit dem Kommentar, dass das ja jetzt schon ziemlich unlocker sei. 

Unser Leben ist ein einziger, stets größer werdender Widerspruch - und das hier ist sein Soundtrack. 



Erschienen auf Späti Palace, 2019.

30.11.2018

First Time Now, Schnakenhals! (1)

Was braucht Herr Dreikommavierull also furchtbar dringend erstmals auf Vinyl, Teil 1. 

Zunächst brauchen wir alle eine Handvoll einleitender Worte. Mir fiel beim Suchen, Nachdenken und Schreiben auf, dass ich die Nummer hier auch locker "Meine liebsten Alben der Neunziger" hätte nennen können, aber bei näherer Betrachtung wird ein Schuh draus: erstens verzichteten ab Mitte der 1990er Jahre die meisten Labels auf Vinylpressungen und in diesem Zusammenhang auch ich mit einem Kauf derselben, zum anderen war das eben, well: meine Zeit. So schön und lohnenswert ich das manische Suchen nach neuer Musik auch im fortgeschrittenen Alter noch finde und ich auch nicht mal im Traum, sondern mittlerweile allerhöchstens im Halbschlaf nach einem Liter Kaffee nachts um halb zwei, daran denke, im eigenen Saft und also in alter Rotze zu versumpfen, muss ich den übergroßen Einfluss der Musik aus jener Epoche auf mein Leben anerkennen. Die neuerliche und im Rahmen der Recherche nochmal tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Scheiben, über die es also nun in den nächsten vier Beiträgen gehen wird, hat es mir erneut gezeigt: so geil wird's vielleicht nie wieder. 

Bevor es losgeht noch die Wahrscheinlichkeitslegende. Sie zeigt an, wie wahrscheinlich es ist, dass die Alben tatsächlich eines Tages auf Vinyl veröffentlicht werden:

5: Praktisch schon auf dem Weg zum Presswerk
4: Das Glas ist halbvoll. Licht am Ende des Tunnels. Eintracht Frankfurt Internationaaaaal.
3: Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Irgendwann mal. Auf jeden Fall später. Hm.
2: Don't hold your breath, Argentina!
1: LOL, bist' deppert?





FENNESZ / SAKAMOTO - CENDRE

Erschienen im Jahr 2007 auf dem legendären Touch Label und mittlerweile ein Klassiker für Ambientfreunde. Touch ist nicht dafür bekannt, all zu großen Wert auf Vinyleditionen zu legen, die gemessen am übrigen Labelprogramm ohnehin nur einen Bruchteil ihrer Veröffentlichungen ausmachen. Touch ist des Weiteren auch nicht dafür bekannt, den Blick all zu oft in die Vergangenheit schweifen zu lassen, geschweige denn, in ihr zu leben. Die Chance für einen Vinylrelease dürften vor diesem Hintergrund nicht besonders rosig aussehen - und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob sich Ambient IMMER und GRUNDLEGEND für die Schallplatte eignet. Aber wie ich es bereits vor zehn Jahren im reichlich ungelenk formulierten Text auf diesem Blog andeutete: alleine wegen des wunderbaren Covers ist "Cendre" auf Vinyl einer der innigsten Wünsche meines Plattensammlerherzens.


Wahrscheinlichkeit: 2/5





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I MOTHER EARTH - DIG


Abgesehen von zwei 10-Inch-Singles ist diese kanadische Alternative/Progressive Rock Band ein weißer Fleck auf der Vinyl-Landkarte, und es wird allerhöchste Eisenbahn, dass sich das ändert. "Dig" erschien 1993 genau zwischen Grunge-Hysterie und Alternative Rock-Boom via Capital Records/EMI Canada und gehört zum Besten, was die 1990er ausspuckten - das sahen die Progressive Rock Dinosaurier von Rush ähnlich und nahmen die Band gleich mehrfach ins Vorprogramm ihrer Tourneen. Für manche Zeitgenossen ist der Nachfolger "Scenery And Fish" das bessere Album, ich mag "Dig" wegen seiner Unbekümmertheit und der etwas höheren Hitdichte ("Rain Will Fall", "Not Quite Sonic") einen kleinen Tacken lieber. Die Chancen, diesen kleinen Klassiker in diesem Leben nochmal auf Vinyl zu sehen sind indes übersichtlich: die Band war lange Zeit aufgelöst und tingelt seit ein paar Jahren für vereinzelte Auftritte durch Kanada und die USA - ist also kommerziell mausetot. Und die "Anything Goes"-Ära der neunziger Jahre ist heute auch alles andere als en vogue. File under "Vergessene Perle", und sie wird vermutlich auch vergessen bleiben.


Wahrscheinlichkeit: 1/5




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ROLLINS BAND - COME IN AND BURN


So fantastisch die beiden Vorgänger "The End Of Silence" und "Weight" auch immer noch sind, Eisenheinrichs hellste und strahlendste Sternstunde ist das 1997er Album "Come In And Burn", das er noch mit dem großartigen Line-Up der klassischen Bandphase (u.a. mit Bass-Fusion-Monster Melvin Gibbs) einspielte, bevor er ab 1999 und mit neuer Begleitband in Richtung Rotzrock abdriftete. "Come In And Burn" ist das definitive Statement dieser Formation: jazzy, verspult, progressiv - aber mit einer nie dagewesenen Durchschlagskraft und Gradlinigkeit , verpackt in einen unschlagbaren Sound. Das 1996 von David Geffen, Steven Spielberg und Jeffrey Katzenberg gegründete Major Label Dreamworks Records, das "Come In And Burn" veröffentlichte, wurde 2003 von Universal übernommen und damit faktisch geschlossen. Ich habe immer wieder kleine Hoffnungsschimmer, ob Rollins nicht mal auf die Idee käme, "Come In And Burn" über seinen eigenen Verlag in der Vinylfassung herauszubringen und sein Infinite Zero Sub-Label unter Rick Rubins American Recordings wäre dafür ja prädestiniert gewesen. Kennt man allerdings das "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!"-Mantra des Meisters nebst seiner seit über einem Jahrzehnt andauernden musikalischen Stille, darf das mit einem bis zweihundert weinenden Augen bezweifelt werden.


Wahrscheinlichkeit 2/5




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JUD - CHASING CALIFORNIA


Jud sind die beste Rockband, von der Du noch nie gehört hast. Das 1998er "Chasing California" Album, von mir im selben Jahr und aus reiner Verlegenheit beim damals noch nicht ganz so peinlichem EMP Versand (!) mit einer Postkarte (!!) bestellt, ist tief pumpendes Seelenfutter zwischen mehreren Stühlen, was übrigens eine Erklärung für den seit jeher ausbleibenden Erfolg wäre: ihr mit melancholischem Hedonismus aufgeladener Alterna-Stoner Metal und mit tiefergelegtem Noiserock abgerundeter Sound hat die breite Masse einfach überfordert. Jud waren schon zu Zeiten größerer Aktivität kommerziell ein totes Pferd und für den Gedanken, dass irgendeine Plattenfirma trotz des immer noch grassierenden Vinyl-Hypes auf die Idee käme, ein zwanzig Jahre altes Werk erstmals auf Vinyl zu veröffentlichen, brauche ich viel Antidepressiva. Vielleicht ein kleiner Hoffnungsschimmer: Bandgründer David Judson Clemmons hat dieser Tage immerhin das letzte Album "Generation Vulture" erstmals und zwei Jahre nach dem CD Release aufs schwarze Gold gepresst. Vielleicht....vielleicht geht da noch was.


Wahrscheinlichkeit: 3/5




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RAGING SLAB - DYNAMITE MONSTER BOOGIE CONCERT


Das Magnum Opus dieser mittlerweile in Tragik versunkenen Southern Rock Band gehört zu meinen Lieblingsplatten der 1990er Jahre und ist bislang ausschließlich als CD erhältlich - und solange sich nicht ein durchgeknalltes Spezialistenlabel findet, das dieses stimmungsvolle Werk auf Schallplatte sehen will, wird sich daran auch künftig nichts ändert. Die Band war nach dem Release von "Dynamite Monster Boogie Concert" nicht gerade auf Rosen gebettet: American Recordings-Chef Rick Rubin, der die Band nach dem gleichfalls hervorragendem Vorgänger noch mit der Hoffnung, die zweiten Black Crowes gefunden zu haben, aus dem Vertrag mit RCA herauskaufte, ließ die Truppe kurze Zeit später komplett fallen. Die Folge: rechtliche Probleme mit gleich mehreren Plattenfirmen, die dazu führten, dass Raging Slab mehrere Jahre auf Eis lag, eine schlimme Heroinabhängigkeit und eine in der Folge auf späteren Alben kaum mehr wieder zu erkennende Band. Als letzter Schicksalsschlag verstarb Gitarristin Elyse Steinman 2017 nach einem dreijährigen Kampf gegen den Krebs. "Dynamite Monster Boogie Concert" ist eine große Platte. Und große Platten gehören auf Schallplatten. 


Wahrscheinlichkeit: 1/5




...to be continued...

25.08.2018

Die Runkelrübe und der Wattegott




KILLING JOKE - PYLON


Audiophile Supersnobs können mich sowohl zum Lachen als auch zum Weinen bringen - ab und an ist sogar ein schöner Wutanfall drin, wenn die Voodootänze um bei Vollmond geschliffene Tonabnehmersysteme und mit aus dem Erdkern handdestilliertem (sic!) Edelgas gefüllte Lautsprecherkabel all zu hysterisch ausfallen. In den Discogs-Kommentaren zu "Pylon" des britischen Wave/Industrial-Flagschiffs Killing Joke wird die Soundqualität auf der Schallplatte, diplomatisch formuliert: bemängelt, und angesichts meiner zwar mit einigen, in dem noisigen Inferno der Tracks sowieso niemals wahrnehmbaren, Knacksern ausgestatteten, davon abgesehen aber tadellos klingenden Kopie frage ich mich durchaus bisweilen, ob der ein oder andere die derzeit ubiquitäre (und im Kern ja durchaus notwendige) Diskussion um schlechte Pressungen "wie vernagelt" (Polt) am Laufen halten muss und dabei die Musik wegen des ganzen HiFi-Kladderadatsch in den Hintergrund drückt. Schließlich gibt es ja auch noch so etwas wie Klang. Im besten Fall den eigenen, eigenständigen Klang einer Band. Kennt man heute gar nicht mehr, aber er existiert wirklich immer noch. Und er existiert ganz besonders bei Killing Joke. 

Denn "Pylon" hat wie alle Killing Joke-Alben der letzten 15 bis 20 Jahre einen sehr speziellen, zäh pumpenden, schmutzigen Sound, den man natürlich nicht mögen muss, der aber wenigstens für mich eine gewisse Faszination ausstrahlt, und der darüber hinaus auch für das Klangbild, ja: das Selbstverständnis und die Message der Band von großer Wichtigkeit ist. Ganz besonders der Gitarrensound ist eine Sensation, und wer den Beweis dafür benötigt, hört sich das gnadenlos dreckige Riffgebratze in "Dawn Of The Hive" an, das bereits für einige spitze Schreie im Casa Dreikommaviernull verantwortlich war. Ich darf außerdem feststellen, von der grundsätzlichen Qualität des Albums nicht unangenehm überrascht worden zu sein - und eigentlich habe ich "Pylon" nur deshalb kürzlich gekauft, weil ich die Vinylausgabe mehr oder weniger zufällig für schlappe 12 Euro im Regal stehen sah. Für eine seit 36 Jahren und außerdem aus absoluten Vollchaoten bestehende Band klingt "Pylon" nicht nur frisch, sondern auch erfreulich leidenschaftlich und aufrichtig. Selbst die Herzallerliebste ließ sich zu einem hörbar verblüfften "Ich find' die Platte eigentlich ganz gut?!" hinreißen. Und das können wir uns alle mal rot im Kalender anstreichen. 

Dabei kommt es besonders mir sehr entgegen, dass Jaz Coleman weitgehend auf seine geröchelte Runkelrübenstimme verzichtet und stattdessen mit seinem im pathologischen Sinne wahnsinnig klingenden Klargesang melodisch voll durchzieht. Höhepunkte sind in diesem Kontext die in der Schnittmenge von "poppig" und "ruppig" angesiedelten "Euphoria" und "Big Buzz", während sich der kaum aushaltbare Zynismus, der Zorn und die Unberechenbarkeit dieser Band und ihrer Protagonisten, am deutlichsten bei dem unbarmherzigen "I Am The Virus" zeigen, das wie eine Nilpferdfamilie über sämtliche Nervenstränge hinwegtrampelt, wenn es einen auf dem falschen Fuß erwischt. 

Nun habe ich mich seit Jahren von Veröffentlichungen dieser Band absichtlich ferngehalten, weil ich ihr, Achtung, Achtung: persönliche Wahrnehmung ungleich universelle Wahrheit, dieser Blog ist irrelevant, bitte keine Morddrohungen schicken, lieber im 3.Welt Laden ein Pfund Kaffee kaufen! - Ranschmeißen an die Kuttenmetallerfraktion ehrlich gesagt ziemlich eklig fand und ich weiß auch nicht, ob ich als Rosaplüschkönig mit glitzernden Bommelschuhen aus reiner Watte künftig wirklich oft Lust auf solche Musik haben werde, aber für den Moment und bei einer Affenhitze, die mir das Resthirn zunächst wabbelig kocht und anschließend förmlich 'rauskondensiert, habe ich viel Spaß mit "Pylon" - ganz bestimmt mehr, als ich zunächst dachte. 




Erschienen auf Spinefarm Records, 2018.

07.07.2018

Hotel Neon - Means Of Knowing



HOTEL NEON - MEANS OF KNOWING


Pflastersteine aus Eis. Wischen und rutschen durch den darunter liegenden Sand, den Schlick. Vermischen sich, werden eins. Sie funkeln. Das Licht bricht sich an ihren Kanten und es scheint, als würden sich kleine Glühwürmchen aus gefrorenem Wasser in die Luft schwingen, als Überlebende für einen Tag und eine Nacht. Die Netzhaut bitzelt. Die eiskalte Luft schmerzt beim Einatmen. 

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Hotel Neon ist ein Ambienttrio aus dem US-amerikanischen Philadelphia. Die drei Musiker sind kein reines Studioprojekt, sondern spielen als Band ihre Version von Ambient auch live auf der Bühne, mit Gitarren und Bässen und Synthesizern. Mal fanfarengleich, hymnisch, bebend, mal (meistens) subtil schimmernd und lebhaft reflexiv mit großer Klarheit.

Ihr Ansatz erinnert mich bisweilen an die Australier Seaworthy, ebenfalls ein Trio, die ihr Klangbild in ähnlicher Weise mit analogen Instrumenten zu einem sehr direkt erfahrbaren Erlebnis entwickeln - und die alleine dadurch zu jener Gruppe Musiker gehören, die ihren Klang durch jahrelanges Schärfen, Modellieren und Verkanten so einzigartig gestalteten. Ich kam nicht umhin, mich bereits nach wenigen Sekunden des Titelsongs anerkennend in die watteweiche Couchlandschaft zu kuscheln, weil mich die Raffinesse in diesem Sound, wie es mir auch bei den Werken Stephan Mathieus ergeht, jedes Mal aufs Neue fasziniert. Wenn Gil Scott-Heron sagt, es gäbe sehr wohl diesen einen (richtigen) Weg, das erste Erleben neu erworbener  Musik sehr bewusst und völlig frei von jeder erdenklichen Störung zu genießen, dann nimmt "Means Of Knowing" wenigstens mir die aktive Entscheidung, Türen und Fenstern zuzumauern und das Smartphone ins Klo zu pfeffern, just mit der entwaffnenden Schönheit seines natürlichen, mit Field Recordings zillionenkilometerhoch aufgetürmten und doch flächigen, transparenten Sounds ab.

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Und dann kommt die Wärme. Verschlingend und verzehrend. Aufopferndes Kämpfen wird niemals belohnt. Doch während das Rinnsal vergangenen Glanzes zu moralischer Trauer zu gerinnen droht, ist im Vergangenen ein neuer Glanz von Aufbruch, von Erneuerung zu spüren. Erkenntnis, Erfahrung, Erleuchtung. Es nimmt nie ein Ende. Alles nimmt nie ein Ende. Wenn das nicht tröstet - was dann?





Erschienen auf Archives, 2018.


02.04.2018

Best of 2017 ° Platz 2: The Afghan Whigs - In Spades




Platz 2: THE AFGHAN WHIGS - IN SPADES


Die Überraschung des Jahres - und das ist fast noch eine Untertreibung. Hätte man mir vor zwölf Monaten erzählt, die neue Platte der Afghan Whigs würde in meiner Jahresbestenliste auf dem zweiten Platz landen, hätte ich vermutlich den Notzarzt gerufen und die ersten Anzeichen für Schlaganfallsymptome (blaues Auge, gebrochene Rippe) abgefragt. Tatsächlich habe ich vor einem Jahr nicht mal daran gedacht, "In Spades" überhaupt nur zu hören. Nach kurzem Check des Comebackalbums "Do To The Beast" aus dem Jahr 2014 gab ich keinen Pfifferling mehr auf die Truppe, die mit "Congregation", "Gentlemen" und "1965" immerhin drei echte Klassiker der neunziger Jahre veröffentlichte und mit ihrem souligen (Alternative) Rock zwischen Sex, Hedonismus und emotionaler Agonie zu einer echten Ausnahmeband heranreifte. Die Leidenschaft in ihrer Musik war verschwunden, die Whigs klangen alt und müde. Ein Konzert im Juni 2017 veränderte dahingehend aber ziemlich viel - wenn nicht gar alles. 

Es sollte unser erstes livehaftiges Aufeinandertreffen sein, und weil ich es ja schon mal an anderer Stelle erwähnt habe: ich bin ein loyaler Fan. Davon hat die Band, zumindest in Deutschland, offenbar nicht mehr so viele, denn die Batschkapp war mit maximal 300 Leuten nicht mal zu einem Viertel gefüllt. Ich erinnere mich heute nicht nur an einen wunderbar angenehmen Abend zurück, sondern habe darüber hinaus den vielleicht eindrücklichsten Konzertmoment der letzten 15 Jahre für immer auf meiner Festplatte gespeichert: Whigs-Gitarrist Dave Rosser kämpfte zum Zeitpunkt des Konzerts bereits seit einigen Monaten gegen Darmkrebs und konnte daher nicht an der Tour teilnehmen. Dazu gab es von Sänger Greg Dulli bereits während der Show eine Ansage, jeder Musiker auf der Bühne spiele heute Abend für den im Sterben liegenden Freund - und wenn einem das schon einen Kloß in den Hals zauberte, passierte bei der Bandvorstellung jener Gänsehautmoment, der mich bis heute bei jeder Erinnerung wie ein Blitz durchfährt: die Band spielt "Faded" vom "Black Love" Album, und Dulli nennt gegen Ende des Songs die Namen seiner Mitmusiker. Als Dulli den Namen Dave Rosser mit allem, was seine Lunge, seine Seele und sein Herz noch hergeben, geradezu herausschreit, lässt die Band das ohnehin wild um sich schlagende und seit Minuten auftürmende Crescendo zu einem einzigen Donnerhall werden, zu einem ohrenbetäubenden Schlag. Es war, als würde sich Energiestrahl aus dem Hallendach auf den langen Weg nach New Orleans zu Rossers Krankenbett aufmachen. Ein umwerfender Moment, der mich bis heute beschäftigt. Dave Rosser starb nur wenige Tage nach dem Frankfurt Konzert an seiner Krankheit.

"In Spades" ist ein Juwel des Indie- und Alternativerocks und auch wenn mittlerweile der Sex in ihrer Musik tatsächlich weitgehend fehlt, hat Dulli noch immer alle Fäden zu Deinen Nervenenden in den Händen - und er spielt damit Schnick Schnack Schnuck: In etwas mehr als dreißig Minuten sagt die Band ohne einen fucking einzigen überflüssigen Ton alles, was es für die Generation X im Jahr 2017 zu sagen gibt und deckt dabei jede Schattierung zwischen lebens- bis gefühlsecht ab. Im überragenden Abschlusssong "Into The Floor" schmettern sie im Prinzip alles gegen die Wand, was seit 10 Jahren eine Gitarre in der Hand gehalten hat. 

Die Afghan Whigs sind das, was gemeinhin unter der Bezeichnung "a national treasure" läuft und auch wenn ich nach dem Comeback einige Jahre gebraucht habe, um (wieder) in ihre Arme zu fallen: "In Spades" macht es einem klarer als jemals zuvor. Ich brauche die Whigs. Du brauchst die Whigs. Verfickt noch eins - die ganze verfluchte Welt braucht die Afghan Whigs.




Erschienen auf Sub Pop, 2017.

17.03.2018

Best of 2017 ° Platz 5: Tara Jane O'Neil - Tara Jane O'Neil



Platz 5 - TARA JANE O'NEIL - TARA JANE O'NEIL


Im Dezember 2016 schrieb ich über das zwei Jahre zuvor erschienene Album der US-amerikanischen Multinstrumentalistin Tara Jane O'Neil, "Where Shine New Lights" sei "möglicherweise die vollkommenste Verbindung ihrer experimentellen, bisweilen launischen Kunst und ihrem klassischen, in Blues und Folk verwurzelten Singer/Songwriter-Ansatz." Auf ihrem aktuellen, selbstbetitelten Album hat O'Neil die offensichtlichsten Experimente im Gitarrenkoffer gelassen und dem Singer/Songwriter in ihr die Oberhand gewinnen lassen. Das Ergebnis ist von beinahe so blendender Schönheit wie die Sonnenreflektion auf dem wunderbaren Coverartwork; eine betörend warmherzige Musik, der es trotz der im Vergleich zu früheren Arbeiten deutlich abgerundeten Ecken und Kanten erstaunlicherweise nicht an Tiefgang fehlt. Das liegt zum einen an den subtil im Sound versteckten Details, die Dank der durchaus großformatig inszenierten Produktion durchgängig wahrnehmbar sind, ein tiefes, sonores Brummen als Mutterboden für ihre sowohl perlenden als auch dürren Haarliniengitarren, das Zischeln der Becken, ihre zu Liedtexten transformierten Gedichte und die im Vordergrund stehende, glasklare Stimme. Das Schnarren der Gitarrensaiten - man meint manchmal gar, die Innenseite der akustischen Gitarre spüren, sehen, hören zu können. Zum anderen ist O'Neils Ansatz, und darauf legt die Künstlerin wert, nicht besonders konventionell zu nennen. Ihr Ziel ist es nicht, everybody's darling zu sein, ihre Akkordfolgen und Arrangements sind ungewöhnlich und bisweilen spröde - und trotzdem spielt diese Musik nicht in der Liga von Lo-Fi-Schlafzimmerproduktionen. Es ist ein Album des Reichtums der kalifornischen Sonne und des dazu passenden Lebensgefühls, heruntergekocht auf die erste Tasse Kaffee des Tages an einem friedlichen Frühlingsmorgen.  




Erschienen auf Gnomonsong, 2017.

10.03.2018

Best Of 2017 ° Platz 6: Slowdive - Slowdive



Platz 6: SLOWDIVE - SLOWDIVE


Ich hatte es an anderer Stelle bereits erwähnt: meine Beziehung zu Slowdives Comebackalbum sollte sehr persönlich und besonders werden. Denn als im Mai des vergangenen Jahres Chris Cornell starb, und sowohl ich als auch die Herzallerliebste über Wochen und gar Monate hinweg praktisch am Boden zerstört waren, lieferte "Slowdive" den Soundtrack zum Trauern - und zwar so ausgeprägt und nachhaltig, dass es für gleich ein paar Wochen nicht in Frage kam, diese Platte vom Plattenteller zu lösen. Sie schien wie festgeschweißt. Ich hätte keine andere Musik ertragen können. Mir ist darüber hinaus sowieso nichts bekannt, was diese spezielle Mischung ihres einzigartigen Sounds - eine sowohl melodisch als auch atmosphärisch kitschfreie Sicht auf Leben und Liebe mit zahlreich eingeflochtenen Extra-, Meta-, Superduper-, Obendrunter-Ebenen der prachtvollsten und reichsten Melancholie, die die Welt seit Marsilio Ficino jemals vertont gehört hat - selbst in einer weniger anspruchsvollen Vollendung kopieren könnte. Das ist alles lebensechte schwarze Galle mit darin schwimmenden Regenbogenschleifchenbooten. Vor allem erscheint es aber so plastisch und einfach zu verstehen: Das Licht und der Schatten. Die Umarmung und das Abwenden. Die Struktur und das Chaos. Das Leben und der Tod. Und da ist sie wieder, die niemals alt werdende Idee: die Suche zum Mittelpunkt des Lebens, des Guten, des Schönen. Im vorliegenden Fall gemeinsam mit dem Eindruck, den Weg zum Ziel wieder ein Stückchen abkürzen zu können. "Slowdive" hat mich tatsächlich getröstet. Nicht mit Thoughts and Prayers, nicht mit einem Lolli, nicht mit Schnaps. 

"Slowdive" hat mir einen Teil des Lebens erklärt. 

Pathos Olé!




Erschienen auf Dead Oceans, 2017.

31.10.2017

Eine Schwalbe macht doch einen Sommer



WINDHAND

Die Chance, dass ich mit meinen 40 Jahren und einer recht weit fortgeschrittenen Allergie für Metal neueren Datums, die  Entdeckung einer Band wie Windhand feiern darf, steht in der Wahrscheinlichkeitstabelle knapp hinter des Empfangs des Nobelpreises für Physik. Dass ich indes zu der Party locker fünf Jahre zu spät komme, bon - aber das kommt eben davon, wenn einerseits das eigene Mäuerchen im Bregen fröhlich zugespachtelt wurde, andererseits ja aber nicht ohne Grund: über die vielen, vielen Unzulänglichkeiten des Heavy Metal der letzten 20 Jahre habe ich mich auf diesem Blog nicht erst ein Mal ausgelassen, und auch wenn meine allerliebsten Lieblingsleser sich das vielleicht wünschen würden, werde ich noch lange nicht müde, immer wieder auf diesen gigantischen Kackhaufen aus unverdauten Nietenarmbändern, Schlagerschwulst, blanker Verarsche und bodenloser Ideenlosigkeit hinzuweisen, der mir fast jeden Spaß an der Musik genommen hat. 

"HIER! RUNTER VON DEM RASEN! HIER WIRD KEIN FUSSBAL GESPIELT!"

"Schöner Krückstock, Oppa! Aussem Kriech?"

Aber eben nur fast. Nun standen Windhand tatsächlich schon seit ein paar Jahren auf meiner Liste, ganz besonders ihr in einschlägigen Kreisen mittlerweile als Klassiker gehandeltes Zweitwerk "Soma", nachdem Herr "Krach Und So..." auf meine eigene Anfrage einen Anlauf nahm, mir ein paar aktuelle Metalbands vorzustellen. Ich erinnere mich daran, dass ich nicht lange überlegen musste, das Album auf dem Wunschzettel vorzumerken, denn: da war eine Stimme. Da war eine Stimme, die sang. So richtig mit Melodie. Call me fucking old-fashioned, aber sowas kann ja Wunder wirken. 

Es dauerte dennoch bis zum Sommer 2017, bis ich endlich die Kohlen über den virtuellen Tresen warf, und was im ersten Moment für Skepsis sorgen dürfte, ist genauer betrachtet nur logisch. Ich habe für gewöhnlich ein ganz gutes Näschen für den richtigen Moment, in dem mich eine Band, ein Album oder ein Song packen können - und erkenne es mittlerweile auch ganz gut, wenn die Zeit noch nicht reif sein sollte. Manches vergesse ich über die Jahre, manches kommt aber wieder. Und was zuvor vielleicht nur ganz nett oder wenigstens interessant war, trifft plötzlich genau ins Herz- und Seelenzentrum. 


So tastete ich mich im Falle Windhand in den Sommermonaten zunächst über ein Livealbum heran, aufgenommen auf dem prestigeträchtigen Roadburn Festival im Jahr 2014, und war ob des konsequenten Willens zur Nicht-Perfektion sofort angefixt. Das klingt despiktierlicher, als es gemeint ist: Windhand spielen gut und diszipliniert, aber da ist Leben im tiefen Wummern, da brodelts im bassigen Klangmatsch, in den über Minuten ausgerollten Feedbackorgien zwischen den Songs, die einem sowohl Ansagen als auch für die nächsten Lebensjahre so oder so überflüssigen Nervenballast ersparen. Auf "Soma", dem nach dieser Erweckung ziemlich umgehend und also endlich besorgten zweiten Album, strahlen Leben, Abfuck, Drogensumpf, Bassmatsch, Mystik, Waldmenschen, Groovewalzen, Pimmeltattoos und Intimbehaarung mit einem Schluck aus Dave Wyndorfs Zaubertrankfläschchen zu "Dopes To Infinity" Zeiten um die Wette. Dabei ist die Rezeptur ihres Sounds so stumpf und, pardon: billig, dass mir anfänglich durchaus Zweifel kamen: trägt die Idee, praktisch jeden Song mit dem Hauptriff einzuleiten, es danach durch minutenlanges Wiederholen zum Vakuum auszusaugen, eine kurze Variation für den...wasweißich...Refrain durch die Bong zu jagen, wieder zum Hauptriff zurückzuehren, um dann eine Brechung (Takt, Riff, Stimmung) im hinteren Drittel anzustoßen, wirklich über drei ganze Studioalben? Wird das nicht irgendwann öde?

Nach einem besuchten Konzert im Wiesbadener Kesselhaus, das mich mit seinem charmant angeranzten Charakter und seinem Schmutz tadellos an meine großen Metalkonzerterlebnisse aus den neunziger Jahren erinnerte, und dem anschließenden tage-, ja wochenlangen Durchhören der beiden übrigen Alben gibt es nur eine Antwort: ja, es trägt. Weil es nämlich bumsegal ist. Alles wird bumsegal, wenn die Irre am Mikro beschwörend und kilometertief im Klangdickicht vergraben ihre großartigen Melodien in diesen Morast hinein säußelt, der Groove Dich gegen die Wand und die Wand anschließend in ein anderes Universum drückt. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man sich ergeben muss. An dem Du nur noch die Wellen des Sounds empfangen willst. An dem Du Dir auch als sattelfester, mit rosafarbenem Polohemd im Spießergolf sitzender und mit dem mentalem Krückstock herumwedelnden vierzigjähriger mit Hilfe eines schwarzen Eddings ein umgedrehtes Kreuz auf die langsam grau gefärbte Brustbehaarung schmieren und im Rewe ein Pfund Dackelblut (vegan!) kaufen willst. Re-Illuminierung.




"Windhand", "Soma" und "Grief's Infernal Flower" sind auf Relapse erschienen.

03.10.2017

Methadon



Seit acht Jahren rutsche ich sowohl auf diesem Blog als auch auf anderen Kanälen wie Twitter oder Instagram auf meinen Knien herum, um eine der besten existierenden Rockbands irgendwie dazu zu bewegen, sich in ein Flugzeug zu setzen, um im Kartoffelland wenigstens eine Show auf hiesigen Bühnen zu spielen - eine Deutschlandtournee des Spacerock-Alternative-Power Trios The Life And Times scheint trotz einer gewissen und wenigstens von meiner Seite fortwährend zur Schau gestellten Zähigkeit (die Band würde es wohl eher salopp eine "Belästigung" nennen) völlig utopisch zu sein. Ich weiß nicht, wie viele Alben die Kapelle in Deutschland tatsächlich verkauft, und in Zeiten des ubiquitären Streamings spielt das wohl auch gar keine so arg große Rolle mehr; es wäre indes arg optimistisch, die Zahl der Eingeweihten auch nur auf 100 zu taxieren - und wer klettert dafür schon in ein Flugzeug? Die Chancen, die Band jemals live zu sehen, tendieren also gegen eine stattliche Null.

And that's fucked up.

Nach der Veröffentlichung ihres aktuellen, selbst betitelten Albums zu Beginn des Jahres, erneut ein starkes Stück emotionaler und klischeefreier Rockmusik mit im Vergleich zu früheren Werken etwas gestrafften Arrangements, legt mir die Band nun via Bandcamp zumindest ein kleines Fläschchen auraler Ersatzdroge in die frisch gewechselte Erwachsenenwindel: ihre am 6.September 2017 aufgenommene Audiotree-Session mit immerhin fünf Stücken vom neuen Album gibt es nun als kostenpflichtigen 5-Dollar-Download zu erwerben. Oder eben auch kostenlos als Stream. 

And that's fuckin' A.

Einzig an den mutmaßlichen Queens Of The Stone Age-Tribut "Out Through The In Door" mit seinem klar erkennbaren melodischen Überhangmandat zur vielleicht überbewertesten Rockband der letzten 20 Jahre, muss ich mich immer noch gewöhnen. Der Rest ist strahlendes Musikgold.

Enjoy.





17.09.2017

November



SOLO ANDATA - IN THE LENS


Einer der härtesten Kämpfe, die ich Ende des vergangenen Jahres mit mir ausfechten musste, war die Entscheidung, "In The Lens" der australischen Band Solo Andata aus der Bestenliste 2016 herausplumpsen zu lassen, und wie so häufig schmerzt die über Tage und Wochen hin-, her- und aufgeschobene und also schlussendlich getroffene Wahl schon zweieinhalb Sekunden später. Wenn ich im Rahmen der Texte zu Purls "Form Is Emptiness" oder Warmths "Essay" davon schrieb, ganze Wochenenden mit diesen Platten verbracht zu haben und die Stopptaste nur zum Schlafen drückte, dann gilt ähnliches auch für dieses Album.

"In The Lens", erschienen auf dem beliebten 12k Label des Ambientmusikers Taylor Deupree, ist indes nicht so offensiv ohrenschmeichelnd wie die beiden genannten Werke aus dem Archives-Labelstall. Das Duo Kane Ikin und Paul Fiocco achtet stets darauf, sich nicht ausschließlich in der auralen Komfortzone aufzuhalten. Das beginnt schon bei der ungewöhnlichen Auswahl der Instrumente, die vor allem dann gerne zum Einsatz kommen, wenn sie bereits kurz vor dem Auseinanderfallen sind und endet (nicht) bei der bewussten Entscheidung für den Einsatz billiger Mikrofone. Zusammen mit vergessenen und verloren geglaubten Archivaufnahmen und krisseligen Field Recordings ist "In The Lens" charmant angeranzt und gibt sein Statement mit viel Natürlichkeit ab, mit einer Besinnung auf Ursprüngliches und Echtes. 

Es hat seine Zeit benötigt, um mich auf diesen Lo-Fi Ansatz einzulassen und die kristalline Schönheit zu erkennen, die in ihm steckt - eine Schönheit, die sich in Kombination zwischen den nur kurz aufflackernden, sich aus zunächst beliebig erscheinenden getupften Clicks'n'Glitches herauswürmelnden Melodien und einer romantischen Stimmung von frisch gefallenen Herbstlaub auf von Nebel bedeckten Feldwegen zeigt. 

"In The Lens" ist eines jener durchaus seltenen Ambientwerke, die es zulassen, erkundet werden zu wollen - manchmal auch im Tausch mit dem Risiko, über die Klippe zu springen, bevor das ganze Puzzle zusammengesetzt wurde. Wer sich allerdings auf die Suche begibt und kein Gedanke ans Aufgeben verschwendet, wird mit einer reichen, kunstvollen Musik belohnt, die die Lebensfarben wie ein Prisma zunächst zu bündeln und anschließend aufzufächern vermag. 

Und die aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken ist. 




Erschienen auf 12k, 2016.


25.03.2017

2016 ° Platz 6 ° Jud - Generation Vulture




Meine ausführliche Besprechung zu "Generation Vulture" ist keine 100 Tage alt, und die in jenem Text induzierten Hellseherfähigkeiten des stets leicht vertstrubbelten Bloggers aus Dreikommaviernullhausen hinsichtlich der möglicherweise übersichtlich angelegten Erfolgsaussichten dieses Comebacks muss ich nicht mal in meinen Lebenslauf eintragen. Jud waren schon fast immer die Übersehenen - und sollte nicht ein kleines Wunder geschehen werden sie es auch für fast immer bleiben. Und wie auch immer ich es versuche zu drehen: ich komme nicht dahinter, warum das so ist. Extraorginell, hochemotional, klischeefrei, smart, in der Lage, breitbeinig zu rocken und gleichzeitig verletzlich und sensibel zu wirken  - warum die Heerscharen, die nach dem offiziellen Ende des Grunge auf der Suche nach ihrem musikalischen Methadon waren und Ende der 90er und Anfang der 00er Jahre die Musik von beispielsweise Queens Of The Stone Age und Blackmail in die Charts gewuchtet haben, dem Exil-Berliner Clemmons und seiner wie gewohnt supertight aufspielenden Truppe (Jan Hampicke, James Schmidt, Steve Cordrey und Anne de Wolff) nicht schon seit Jahr und Tag die Bude einrennen, ist eines der großen Rätsel der Rockmusik. Und wenn Du jetzt denkst, dass ich damit ja wohl mal viel zu dick auftrage, dann hast Du weder "Chasing California" noch "The Perfect Life" gehört. Ganz zu schweigen von "Generation Vulture".

Dann bist Du das Problem.

Harte Wahrheiten, supersexy formuliert: eine meiner großen Stärken.

"Generation Vulture" traf im Herbst des vergangenen Jahres mit voller Wucht auf sämtliche Nervenbahnen und bretterte über holprige Wald- und Wiesenwege direkt in mein emotionales Schmerzzentrum. Es bebt. Es brodelt. Es zittert, beißt, kratzt, streichelt, küsst. Und es lebt.

For fuck's sake: ES LEBT!

Im Laufe der letzten drei Monate hat sich die im ersten Text aus dem Dezember 2016 angedeutete Trilogie des Albums stärker herausarbeiten lassen; inhaltlich nimmt "Generation Vulture" eine aus dem Wut- und Frustrationszirkel stammende Entwicklung über Rebellion, Enttäuschung, Klarheit, Akzeptanz und einem kleinen Spritzer Optimismus (Huch!) mit erschütternd ernsthaft vorgetragener Leidenschaft. Unbestrittener und sich über die guten acht Minuten immer weiter hochschraubender Drama-Höhepunkt ist weiterhin "Humanity, The Lie", der vielleicht beste Song, den die Band bislang geschrieben und aufgenommen hat. Ein kathartischer, reinigender Moment. Wie eine wochenlange Reikibehandlung aus flüssigem und purpurnem Stahl, der vom Scheitel bis zur Sohle durch Körper und Geist fließt.

Ein bemerkenswertes Lebenszeichen einer bemerkenswerten Band.







Erschienen auf Supermusic, 2016

17.01.2017

2016 ° Platz 16 ° Merrin Karras - Apex




Als hätte Jean-Michel Jarre im Jahr 1978 mit Lachgas und Valium herumexperimentiert, während er im Spiegelsaal die Stroboskopanlage testete: "Apex" ist ein futuristisches Sedativum im Breitbandkinoformat, dramatisch auf die ganz große Bühne gezaubert und bis ins letzte Byte durchchoreografiert.

Die acht experimentellen Kompositionen des Wahlberliners Brendan Gregoriy bilden dabei ein perfektes Bindeglied zwischen der Berliner Schule um Künstler und Pioniere wie beispielsweise Klaus Schulze oder Manuel Göttsching und einem visionären, melodisch versierteren Ambient-Entwurf, dessen Ausprägungen im Sounddesign und in seinen Arrangements sowohl komplexer als auch bildhafter sind. "Apex" baut die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Und darüber hinaus sieht es mit dem wunderbar gestalteten Coverartwork und den beiden türkisfarbenen Vinylscheiben auch noch ganz ausgezeichnet aus.





Noch mehr über "Apex" lesen? --> Klick!

Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2016.

07.01.2017

2016 ° Platz 19 ° Marsen Jules - Shadows In Time




"Shadows In Time" ist eines der inspirierendsten Alben des Jahres. Ein Spiel mit Raum und Zeit, mit Vergänglichkeit, mit dem Hier und Jetzt. Es ist gleichzeitig ein Versuch, sich der Unendlichkeit zu nähern, indem es die Utopie ihrer Darstellung ankratzt. Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren.

Über dreihundert unterschiedliche Versionen existieren von "Shadows In Time", und jede Verschiebung und Veränderung im Millisekundenbereich erschafft ein neues Bild, eine neue Zeit, ein neues Leben. Ein mächtiger Illusionist, der, dem Licht nicht unähnlich, jene Räume auf- und erschließt, deren Existenz vielleicht nur in mathematischen und physikalischen Formeln bestehen, die sich hier aber plötzlich materialisieren - und das in jedem einzelnen Moment. Diese Idee des Ganzen, der Verbundenheit mit dem Kosmos, fesselte mich immer wieder an diese Musik.

Ich schrieb vor wenigen Wochen über "Shadows In Time", dass die Vorstellung der kosmischen Verbundenheit ein befreiender und tröstender Gedanke sei, und die teils über Stunden und in Endlosschleife andauernde Auseinandersetzung mit "Shadows In Time", sei es das bewusste Erleben eines Moments im aktiven Hören oder auch die Gedanken und die Reflektion um das eigene Leben und darüber hinaus, war ganz besonders in den nachdenklichen Stunden eine große Stütze für mich.





Erschienen auf Oktaf, 2016.

25.12.2016

All Hail The Wünschelrute




TARA JANE ONEIL - WHERE SHINE NEW LIGHTS


Das glimmende Räucherstäbchen in meinem Wohnzimmer, der auf das Terassenvordach prasselnde Regen, der in der "Morgenmuffel"-Tasse vor sich hin dampfende Kräutertee, die gelb gefärbten Blätter des kranken Kirschlorbeerbaums, die schamanischen Verbiegungen des Frontallappens: es ist Zeit für "Where Shine New Lights". Ein Album, mit dem sich problemlos ein kompletter verregneter Samstag vor dem Plattenspieler verbringen lässt. Ein subtil arrangiertes, sich um ausgedehnte Melodien würmelndes Werk voller großer Ruhe. Introspektiv wäre eine Untertreibung. Jede Note am richtigen Fleck zur richtigen Zeit. Kilometertiefes Plüschfutter zum ganz tiefen Einsinken in Deine Welt, Deine Gedanken und Deine Liebe.

Tara ist vielen Post- und Noiserock-Aficionados älteren Semesters möglicherweise noch aus ihrer Zeit mit Rodan bekannt, einer in kleinem Rahmen durchaus einflussreichen, wenngleich weitgehend obskur gebliebenen Band, die sich nach dem ersten und einzigen Album "Rusty" aus dem Jahr 1994 auflöste und stilistisch zwischen Slint, frühen Tarentel und June Of '44 agierte. Seitdem ist die Multiinstrumentalistin weit gereist: Konzeptkunst, Malerei, Soloprojekte, Soundtracks, Theater. Sieben Soloalben stehen seit dem im Jahr 2000 erschienenen Soloalbum "Peregrine" auf der Agenda, und "Where Shine New Lights" ist möglicherweise die vollkommenste Verbindung ihrer experimentellen, bisweilen launischen Kunst und ihrem klassischen, in Blues und Folk verwurzelten Singer/Songwriter-Ansatz. 

Besonders eindrücklich sind jene Momente, die das Album urplötzlich als Einheit präsentieren, wenn sich also aus geheimnisvollen Minuten tiefer Pulsschläge, aus ätherischer Weite und dissonanter Gesangsarrangements völlig unverhofft die große Melodie unter der ganz großen Bühne zeigt - ganz kurz, wie ein in Sekundenbruchteilen erhaschtes Blinzeln auf den Reichtum des Grand Canyon: gerade lang genug, um die Ahnung zu füttern, was es hier alles zu Entdecken gibt. Und ebenso lange genug, um zu verstehen, dass diese Ahnung ohne das Vorspiel, die Hinführung durch tiefrot geklöppeltes Buschland nicht möglich gewesen wäre. Herausragende Beispiele hierfür sind "Glow Now" und ganz besonders "Elemental Finding", das es auch unten als Video zu bestaunen gibt: immer wieder durch kurze und intime Instrumentalpassagen unterbrochen, steht am Ende ein zurückgezogener Folkschunkler mit violett pumpender Aura mitten in der Natur, im Innern, im Licht.




Erschienen auf Kranky, 2014.



09.12.2016

Resurrection




JUD - GENERATION VULTURE


Trump wird Präsident der USA und Jud bringen ein neues Album raus - beides wäre noch vor wenigen Monaten völlig undenkbar gewesen. Während die Wahl der faschistischen "Whiny Little Bitch" (Bill Maher) nebst der Nominierung rassistischer, antisemitischer, christlich-fundamentalistischer Blowhards für weitere Regierungsposten selbst im weit von Washington entfernten Sossenheim für eine Familienportion Depressionen sorgte, breitet sich in Sachen "Generation Vulture" zunehmend große Freude aus. Die letzten zwei Wochen im Hause Dreikommaviernull standen eindeutig im Zeichen dieses völlig unverhofften Comebacks, und die Anmerkung in meinem Textlein zur "Doppelgängers EP" von The Life And Times, dass also ebenejene gemeinsam mit "Generation Vulture" meinen Rock'n'Roll für die nächsten Monate bestimmen werden, kommt nicht von ungefähr: beide Bands haben die alte Schule besucht, in der Tiefgang, Komplexität, Groove und Melodie im Prüfungsfach "Klischeefreie Rockmusik für die Überlebenden der 90er Jahre" abgefragt und bewertet werden und bestehen jede noch so schwere Prüfung schon seit Jahren mit einem Extrasternchen.  

Immerhin satte acht Jahre liegen zwischen dem letzten Werk "Sufferboy" und "Generation Vulture" und obwohl Bandchef David Judson Clemmons auch während dieser acht Jahre neben seinem in Berlin ansässigen Antiquitätenladen musikalisch immer noch und meistens mit Soloauftritten aktiv war, durfte man nicht zuletzt wegen der vermutlich sehr übersichtlichen Verkäufe des Vorgängers wirklich nicht mit einer Auferstehung rechnen. Jud waren irgendwie immer die Vergessenen und selbst dann, wenn der Zeitgeist ihnen eigentlich wohlgesonnen war, tat sich auf der Popularitätsskala so gut wie gar nichts. Schon das Debut "Something Better", immerhin von Korn/Sepultura/Slipknot-Knöpfchendreher Ross Robinson klanglich vollveredelt, ging 1996 trotz dezenter Indie- und Alternative-Schlagseite völlig unter, die beiden Nachfolger "Chasing California" und "The Perfect Life", beides glasklare 10 Punkte Klassiker aus dem viel zu oft zitierten Bilderbuch, konnten an jenem Zustand gleichfalls nichts ändern; dabei hätte gerade "The Perfect Life" mit seinen melodisch verschrammelten Powerindiedoom mit dem Tiefgang eines Ozeandampfers doch wirklich für einen Achtungserfolg sorgen können. Aber es tat sich nichts. Gar nichts. 

Ob sich das Bild mit "Generation Vulture" ändern wird, ist höchst zweifelhaft - und wieder bleibt festzuhalten, dass der Band qualitativ nichts, aber auch so gar nichts vorzuwerfen ist. Über drei Jahre wurde penibel an dem neuen Werk gearbeitet und man hört es "Generation Vulture" zu jeder Sekunde und im allerbesten Sinne an. Die Produktion ist mehr als nur state of the art - ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt ein so imposant in Szene gesetztes Album einer Rockband hörte; einer Indieband zumal, die nicht von Majors, A&Rs und Managern mit ein paar Scheinchen aus der Megaseller-Schatulle gefördert wird. Glasklar, druckvoll, bretthart - und doch soviel Transparenz und Intelligenz, um ihren ureigenen und einzigartigen Signature-Sound wie einen großen Mittelfinger in Richtung der Legion von talentlosen Nichtskönnern zu schmettern, die sich hinter ihrer totproduzierten Plastikscheiße verstecken müssen. Die sieben Songs, drei davon ungewohnterweise jeweils um die acht Minuten lang, gehören mit zum Besten, was diese Band jemals geschrieben hat: groovebetont wie eh und je, fräsen sich vor allem die ersten drei Tracks "Blind Society", "Where We Come From" und "Summer Of Love" mit monströsem Riffing in jedes Rockerherz, das auch ohne breitgetretene Klischees nicht die Arbeit einstellt, sondern stattdessen lieber das Emotionszentrum aufheizt. Große Gefühle, große Bühne, großer Gummiknüppel. Ich erlebe vor allem in jenen Momenten Gänsehautschauer - and that's the fucking truth! - die sich harmonisch und atmosphärisch deutlich am 1998er Zweitwerk orientieren. "Chasing California" blitzt tatsächlich manchmal durch und das ist deswegen so auffällig, weil nur Clemmons solche Harmonien schreibt. Niemand sonst. Kann auch sonst niemand. 

Freudenschreie. Luftschlagzeug. Luftgitarre. Schmerzverzerrtes, weil mitleidendes und mitlebendes Gesicht. Becker-Faust. Bohlen-Pimmel (gebrochen). Dreifacher Salto mit zweieinhalbfacher Schraube von 28 Meter Turm. Alles auf der Autobahn und bei 140 Sachen. 

Nach "Summer Of Love" folgt eine kleine Zäsur, denn jetzt wird's sperrig und die eigentliche Arbeit beginnt: "Find Us, Heal Us" kratzt erstmals an der acht Minuten Marke und ist eine komplex arrangierte Achterbahnfahrt zwischen Drama und Melancholie. "The Operation" taut erst nach knappen drei Minuten so richtig auf und basiert im Prinzip auf nur einem dreckig gespielten Bluesriff. Dazwischen: viel Schmutz, viel Dreck, ein ganz kleines bisschen Gitarrensolo und ein praktisch komplett durchgeschlagenes Crash-Becken. Und Tiefe. Tiefe, Tiefe, Tiefe. 

Wem über die letzten Jahre mit Streaming, Downloads und kultureller Verwahrlosung die echte Auseinandersetzung mit Musik abhandengekommen ist, muss spätestens hier zwangsläufig die weiße Flagge hissen. "Humanity, The Lie" setzt tatsächlich nochmal einen drauf und ist möglicherweise das Kernstück von "Generation Vulture": über acht Minuten lang türmt sich ein Emotions- und Riffklotz über den nächsten auf, bis das so entstandene Intensitätsgebirge fast schon körperlich erfahrbar wird. Was - außer Pudding in den Beinen und einem signifikant beschleunigten Puls - kann nach einem solchen Hammer noch kommen? Können wir jetzt bitte wieder ein bisschen abkühlen? Ich muss mal an die frische Luft. 

"How The West Was Won" beginnt tatsächlich zunächst etwas dezenter, bis ich inmitten des cleveren, an Postrockgrößen wie Godspeed You! Black Emperor erinnernden Spannungsaufbau spüre, dass die Band schon wieder am nächsten Brocken tüftelt - bis zum finalen Einsturz. Ich will nicht zuviel verraten, aber es endet alles ganz anders. Und plötzlich merke ich, wie viel Sinn das hier alles macht. Wie sich der Kreis nach diesen Songs schließt. 

Are you alone in this world?
And are you ready for the new world war?
Have you decided just what you're gonna fight for?
Are you alone tonight?

Das ist eine große, große Platte. Und ich finde fast keine Worte mehr für die Tragik, dass auch "Generation Vulture" nur von einer Handvoll Eingeweihter gehört und geliebt werden wird. Von denen dafür aber dann umso inniger.





Erschienen auf Supermusic, 2016.



03.12.2016

Infinity




MARSEN JULES - SHADOWS IN TIME


Das Hubble Extreme Deep Field (XDF) ist ein Bild einer kleinen südlichen Himmelsregion, das entstand, indem Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops eines Teils aus dem Zentrum des Hubble Ultra Deep Field (HUDF) über einen Zeitraum von zehn Jahren zusammengefügt wurden. Es umfasst Aufnahmen von insgesamt 50 Tagen und einer Gesamtbelichtungszeit von zwei Millionen Sekunden (ca. 23 Tage).



Die Lichtlaufzeit von einigen auf dem Bild zu sehenden Galaxien bis zur Erde beträgt 13,2 Milliarden Jahre, die jüngsten auf dem Bild gezeigten Galaxien sind in einem Stadium lediglich 450 Millionen Jahre nach dem Urknall zu sehen.


One important source of inspiration for “Shadows in Time” was the stunning installation “Series 1024x768” by media artist Johannes Franzen: on a computer screen, all 786,432 pixel continuously change their colour with every second, pursuing the aim of running through all potential possibilities. A simple process that is so complex in itself, that even modern high-performance computer systems cannot capture it and to consequently run through it would last far beyond the existence of our solar system. (Marsen Jules)

"Denn die Maschine braucht, in menschlichen Maßstäben gemessen, unendlich lange, um alle Bilder einmal zu generieren. Daß sich während einer Lebenszeit einmal die Bildpunkte zu einem Bild zusammenfügen, das gegenständlich und wiedererkennbar ist (und daß in dem Moment, wenn es erscheint, jemand anwesend ist, der es sieht), ist sehr unwahrscheinlich. Die meisten Bilder, die entstehen, sind völlig abstrakt, eine vielfarbige Kombination aus Punkten, in der man allenfalls ein Überwiegen bestimmter Farbbtöne oder eine nebelhafte Konzentration von 
Farben an bestimmten Stellen wahrnehmen kann.

Die Schönheit der Maschine liegt in ihrem utopischen Potential. Alle möglichen Bilder sind in ihr enthalten und könnten theoretisch im nächsten Augenblick erscheinen. Das bedeutet z. B. alle Bilder die man während einer Zugfahrt aus dem Abteilfenster fotografieren könnte. Oder jede Seite eines Textes, der je geschrieben wurde und geschrieben werden wird. Oder die Reproduktionen aller Gemälde, die je gemalt wurden. Und die Kombination aus alledem. Und doch handelt es sich um eine endliche Zahl von Bildern."




"Shadows In Times" ist der Versuch, die Einmaligkeit zu begreifen. Die Zeit als mehrdimensionales Chaos. Raum und Zeit erleben. Überhaupt: Leben. In Echtzeit in die Vergangenheit schauen. Alles erscheint ausschließlich im Auge des Betrachters. Was macht das mit unserer Vorstellung von Realität? Unserer Idee von Zeit? Unserem Leben? Ist damit nicht wirklich alles Eins? 

Für mich ist das ein sehr befreiender und tröstender Gedanke.




Erschienen auf Oktaf, 2016.