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16.05.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Kamasi Washington - The Epic




KAMASI WASHINGTON - THE EPIC


Eine Bestenliste des letzten Jahrzehnts ohne diesen Meilenstein ist kaum vorstellbar. Auch auf die Gefahr hin, ein bisschen zu dick aufzutragen: "The Epic" hat die Welt verändert, praktisch aus dem Nichts. Und jeder, der es hörte, ahnte schon früh, dass die Ohren bitteschön zu spitzen seien. 

Denn etwas Großes war im Gange, man möchte fast zum despektierlichen "Größenwahn" greifen: 180 Minuten Musik verteilt auf drei LPs beziehungsweise CDs, ein Orchester, ein Chor, überlange Songs, für deren Arrangements die Beschreibung "opulent" nichts weiter als ein abgeschmackter Euphemismus ist, ein ikonisches Coverartwork und eine inszenierte Sogwirkung, die in ihrer Begeisterung alles mitriss, was sich nicht in die hinterste Ecke des Jazzclubs zu den anderen Betonköpfen retten konnte, die seit 50 Jahren auf "Bitches Brew" herumquallen und dabei langsam zu Staub zerfallen. 

"The Epic" wurde zum großen Vermittler und zur spirituellen Einigungsstelle und ja, "The Epic" hat die Welt zu einem besseren Ort gemacht. Das mag angesichts eines Irren, der nur 18 Monate später als herumstammelnde Hämorrhoide das Weiße Haus besetzen sollte, etwas schwer zu begreifen sein - aber wer diese Platte gehört hat, wird schon verstehen. 

(Mehr Hintergrundinformationen gibt es in meinen alten Posts HIER und HIER)



Erschienen auf Brainfeeder, 2015.

14.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 10 ° John Coltrane - Blue World




JOHN COLTRANE - BLUE WORLD


Nach dem letztjährigen Wirbel und dem sich anschließenden sehr beachtlichen Erfolg um "Both Directions At Once" schiebt Impulse nur ein Jahr später eine weitere bislang unentdeckte Aufnahme des klassischen Coltrane-Quartetts nach. Bei "Blue World" handelt es sich um eine 1964 aufgenommene Auftragsarbeit für den kanadischen Filmemacher Gilles Groulx und dessen Film "Le Chat Dans Le Sac". Die Legende sagt, dass die Bänder der Session für 55 Jahre im Archiv des National Film Board of Canada lagerten und erst 2018 an Impulse übergeben wurden. 

"Blue World" gibt der Welt selbst bei heruntergedimmtem Licht betrachtet keine neuen Songs, sondern lediglich neu arrangierte Takes bekannter Stücke des Quartetts, aber weder dieser Umstand noch die Tatsache, dass sich im Grunde nur fünf Titel auf "Blue World" befinden ("Naima" ist mit zwei, "Village Blues" gar mit drei alternativen Takes vertreten), tun wenigstens meiner Freude und Begeisterung keinen Abbruch. Höhepunkt des Albums ist der Titelsong, der unter dem Namen "Out Of This World" bereits auf der 1962 erschienenen LP "Coltrane" zu finden war und schon dort zum Besten zählte, was ich je von der vielleicht besten Jazzband aller Zeiten hörte. Das 1944 von Harold Arlen komponierte Stück wurde für "Blue World" gestrafft und etwas verlangsamt, was die Eindringlichkeit nur noch weiter zu steigern vermag. Die atmosphärischen Parallelen zu "A Love Supreme" sind überdeutlich zu hören - und gleichzeitig gibt der Song bereits zu Beginn die Stimmung und Ausrichtung der gesamten Session vor: balladesk, dunkel, tief in sich versunken. Es sind sehr besondere Momente, die das Quartett hier verewigt hat und ich muss es ohne jede Übertreibung oder Ironie sagen: "Blue World" hat mein Leben im abgelaufenen Jahr sehr bereichert und ich empfinde es als großes Glück, diese Musik hören zu dürfen. Höre und staune. 



Erschienen auf Impulse Records, 2019.

03.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 16 ° Flying Lotus - Flamagra



FLYING LOTUS - FLAMAGRA


Die gute Nachricht zuerst: "Flamagra" ist wieder deutlich inspirierter ausgefallen als der Vorgänger "You're Dead", das bis heute einzige FlyLo-Album, das den bitteren Gang zum Second Hand-Dealer antreten musste. Dennoch war auch das sechste Studioalbum zunächst ein Wackelkandidat für die Top 20. Vermutlich ist es meine Erwartungshaltung, die mir (und ihm) immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen will, vielleicht macht man ein Album wie "Cosmogramma" aber auch wirklich nur einmal im Leben. Denn auch wenn die Musikredaktionsstuben zwischen zwei Mariacron aus dem Rollcontainer immer noch derart vehement die seit vielen Jahren bekannten zentralen Aspekte des Sounds von Flying Lotus betonen, erkenne ich zumindest stilistisch nichts bahnbrechend Neues auf "Flamagra" - natürlich ist die Detaildichte seines Sounds immer noch hoch, natürlich sind das immer noch die bizarren, übergroß auf die Kinoleinwand projizierten Science Fiction-Drehbücher und natürlich lassen sich selbst in den etwas zurückgenommeneren Momenten noch mehr eingebaute Bells & Whistles in diesem wahnsinnig kuratierten Gedankenfluss finden, als bei jedem anderen Remmidemmi-Produzenten. Was Flying Lotus für mich indes so einzigartig macht, sind seine Interpretationen von Jazz und Hip Hop und deren Verschmelzung in postmoderne Lebensrealitäten.  

Jede der rund 6420 Sekunden von "Flamagra" scheint für einen klitzekleinen Moment ein Bewusstsein darüber zu haben, woher sie kommt und wohin sie geht  Und jede einzelne erzählt in atemberaubender Geschwindigkeit Mikro-Poesie vom Anfang und vom Ende ihrer Welt - und aus diesem virtuellen Netz von Gedanken, Ideen, Hoffnungen und Enttäuschungen speist sich der ganze gottverdammte Scheißkosmos. Blingbling. 



Erschienen auf WARP Records, 2019.

17.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 6 ° John Coltrane - Both Directions At Once: The Lost Album



JOHN COLTRANE - BOTH DIRECTIONS AT ONCE - THE LOST ALBUM



Ich schreibe nicht gerne über Coltrane. In den beinahe 12 Jahren, die dieser Blog existiert, gibt es exakt keinen einzigen Artikel zu einer seiner Aufnahmen, während die Stichwortsuche immerhin gleich mehr als zwei Dutzend Beiträge ausspuckt. Ich war immer der Auffassung, sein Werk sei ohnehin in Trilliarden Aufsätzen, Rezensionen und Analysen schon bis ins letzte Detail dechiffriert worden - und meistens von Leuten, die das besser können als meinereiner. Coltrane gehört eben zum Kanon, und auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass er mit allem vorstellbaren Fug und Recht auch da reingehört, ziehe ich es vor, allzu offensichtlich erscheinende Fingerübungen über Ubiquitäres von diesem virtuellen Tagebuch fern zu halten. Außerdem, und das ist sehr wahrscheinlich der schwerwiegendere Grund für meine Entscheidung: ich konnte bis heute keine Worte für das finden, was er mir mit seiner Musik bedeutet. Beziehungsweise: ich habe mich nicht mal getraut, nach ihnen zu suchen. Nicht, dass es sich nun im März 2019 grundlegend geändert hätte, aber wir ja hier "ja aus...ääähh...Gründen".

Mein Leben wäre ohne die Entdeckung von "A Love Supreme" im Winter 2005 sicherlich anders verlaufen, und trotzdem gibt es einen Vorläufer zu dieser Sternstunde, der für deren Entdeckung noch wichtiger war: das Debut des SF Jazz Collective, von einem Mitarbeiter des Media Markts Wiesbaden fälschlicherweise ins Electronica-Fach einsortiert und mit einem mich sehr neugierig machenden Coverartwork ausgestattet, brachte mich erstens zum Jazz und dadurch zweitens zu "A Love Supreme". Einmal eigetaucht, gab es keinen Weg zurück. Bis heute versuche ich es vor allem mir selbst zu erklären, was die Faszination ausmacht. Was bringt mich dazu, schon ab der ersten gespielten Note von "Acknowledgment" funkensprühend von diesem Klang eingenommen zu werden? Bis heute bleibe ich mir eine zufriedenstellende Erklärung schuldig. Vielleicht ist es auch schlicht zu akzeptieren, manchmal einfach keine Antworten zu haben.

Dass wir im Jahre 2018 überhaupt nochmal über Coltrane im Rahmen einer Jahresbestenliste sprechen müssen, grenzt an ein Wunder, das der Saxofonist und Weggefährte Coltranes Sonny Rollins mit dem Fund einer neuen Kammer in der Cheops-Pyramide vergleicht. Die Aufnahmen der vielleicht größten Jazzband aller Zeiten mit Elvin Jones am Schlagzeug, Jimmy Garrison am Bass und McCoy Tyner am Piano fanden im Jahr 1963 in den Studios des legendären Produzenten Rudy van Gelder statt - und verschwanden danach für 55 Jahre im Nirgendwo. Coltrane stieß 1961 zum damals neu gegründeten Impulse!-Label und es mag nun trefflich darüber spekuliert werden, warum die beiden Chefs Bob Thiele und Creed Taylor die Aufnahmen nicht veröffentlichten. Tatsächlich geschah noch weitaus Schlimmeres als nur das: nachdem die Mastertapes zunächst einige Jahre im Archiv des Labels lagerten, wurden die Bänder im Zuge von Aufräumarbeiten wegen Platzmangels zerstört. So ist es lediglich Rudy van Gelder zu verdanken, heute in die Geschichte zurück hören zu können: er überließ dem Saxofongiganten nach Abschluss der Session einen Originalabzug der Aufnahmen, der sich nun wieder im Nachlass von Coltranes verstorbener ersten Frau Naima wieder fand. Coltranes Sohn Ravi vollendete die Produktion für diese Wiederveröffentlichung.

Dabei kommt es immer wieder mal vor, dass bislang unveröffentlichte Liveaufnahmen großer Jazzmusiker gefunden werden, manchmal auch mehrere Jahrzehnte nach ihrer Entstehung. Vor wenigen Monaten schrub ich beispielsweise an dieser Stelle über ein vergessenes Livedokument des Pianisten Bill Evans. Auch für Coltrane gab Überraschungsfunde. Da ist zum einen das 1957 im Rahmen des Benefizkonzerts "Thanksgiving Jazz" aufgenommene Gipfeltreffen in der New Yorker Carnegie Hall mit Thelonious Monk, dessen Aufnahmen im September 2005 erstmals veröffentlicht wurde, nachdem die Bänder knapp 48 unentdeckt in der US-Amerikanischen Kongressbibliothek standen. Oder das ebenfalls 2005 präsentierte Livealbum "One Down, One Up" mit Radioaufnahmen aus dem Jahr 1965, das den damaligen Entwicklungsstand des großen Coltrane-Quartetts dokumentiert und gleichzeitig offenlegt, warum Tyner und Jones nur kurze Zeit später die Band verlassen sollten. Gerüchte über einen möglicherwiese zu jener Zeit einsetzenden LSD Konsums Coltranes erscheinen im Lichte der Aufnahmen nicht all zu weit hergeholt: der Titeltrack, damals bekanntes Forschungsobjekt für die Band und hier erstmals in einer wahrlich atemberaubenden knapp 28 Minuten langen Version zu hören, besteht im Grunde aus einem ebenso langen Solo Coltranes und zeigt eine sich entfesselt in den Subraum schraubende Band, die hier hörbar an der Grenze zum Wahnsinn entlang irrlichtet. Diese Aufnahmen gehören zum faszinierendsten, was mein CD und Plattenschrank hergibt und in Verbindung mit den ausführlichen Linernotes bin ich jedes Mals aufs Neue wie vor den Kopf geschlagen: Es wird berichtet, dass die Band in der Zeit ihres Residency-Engagements im Halfnote oft erst tief in der Nacht die Bühne betrat und damit die Sperrstunde verletzte. Der Inhaber des Clubs verschloss dann von innen die Eingangstüren, während die Band nicht selten bis morgens um 5 Uhr spielte. Aufnahmen solcher Nächte gab es zu jener Zeit ausschließlich im New Yorker Lokalradio. Von solchen Übertragungen existierten bis 2005 lediglich von Hörern damals mitgeschnittene Bootlegs, die unter Coltrane-Devotees schnell die Runde machten und zum Kult wurden.

Und hier schließt sich auch der Kreis zu "Both Directions At Once": "One Down, One Up" ist hier erstmal in einer Studioversion zu hören - allerdings deutlich kürzer und mehr auf den Punkt als die ausufernden Liveaufnahmen.

"Both Directions At Once" erlaubt den Einblick in die Entwicklung und de Arbeitsweise des Coltrane Quartetts und darüber hinaus eine über 50 Jahre später möglich werdende Einordnung in das Oevre dieser vier Giganten, von welchen uns drei bereits wieder verlassen haben (Pianist McCoy Tyner ist als einziges Bandmitglied noch am Leben). Ich frage mich fortwährend, wie dieses Album wohl damals rezipiert worden wäre und ob es einen ähnlichen Klassikerstatus erreicht hätte wie beispielsweise "Coltrane" oder "Crescent". Aus meiner Sicht ist "Both Directions At Once" vor allem deswegen hochinteressant, weil es ein Zwischenstadium des Quartetts dokumentiert und wir in diesen kurzen Moment, in der Geschwindigkeit von Coltranes Entwicklung vermutlich nicht länger als ein Augenaufschlag, nun tatsächlich hineinhören können. Es ist, als hätten wir endlich eine funktionierende Zeitmaschine bauen und uns in das van Gelder Studio in Englewood Cliffs beamen können. Die Band zeigt sich gespalten, steht mit einem Bein in der Tradition und wagt sich mit dem anderen Bein in die Zukunft. Coltrane wittert Veränderung und sägt in "Slow Blues" am melodischen Ast der Hardbop-Harmonien und schwingt sich vielleicht erstmals zaghaft in jene spirituellen Höhen auf, die die Band spätestens ab "A Love Supreme" im Studio und auch in den Live-Performances besuchen sollte.

"Es war nicht Ekstase, nicht Magie, es war Läuterung, Reinigung, etwas eindeutig Religiöses, von dem wir ergriffen wurden. Viele im Publikum weinten und schämten sich nicht dafür." 
(Martin Kluger)

Interessant ist nun noch die Frage, warum die Aufnahmen überhaupt ins Archiv wanderten und nicht veröffentlicht wurden. Dafür gibt es mehrere Erklärungsversuche: Erstens nahm Coltrane mit seinem Stammproduzenten Bob Thiele so oder so schon mehr Musik auf, als Impulse überhaupt veröffentlichen konnte. Zweitens wollte Coltrane den Markt nicht mit alten Aufnahmen überschwemmen. Drittens darf vermutet werden, dass Impulse den kurz zuvor erzielten Erfolg von "My Favourite Things" nicht mit einer eher herausfordernden Session gleich wieder gefährden wollten und stattdessen eine traditionellere Ausrichtung bevorzugten. Die vierte Option ist zugleich die vielleicht waghalsigste: Jazz-Kenner streiten sich darüber, ob dieser Aufnahmetermin überhaupt zu einer neuen Platte führen sollte - und erkennen im Spiel der Band, ganz besonders bei Drummer Elvin Jones, einige Unzulänglichkeiten. Sie interpretieren jene als einen Hinweis auf eine grundsätzliche andere Ausrichtung dieser Session: am darauf folgenden Tag nimmt das Quartett mit dem Sänger Johnny Hartman (nebenbei der einzige Sänger, mit dem Coltrane jemals gearbeitet hat) ein Album auf, das aus sechs Balladen besteht. Es wird daher spekuliert, dass "Both Directions At Once" lediglich eine Warmup-Session für die Aufnahmen am nächsten Tag ist, ein bewusstes Auspowern, um für die Balladen das richtige Energie- und Dynamiklevel zu finden. Möglicherweise hat van Gelder, bekannt für seine Pedanterie in Bezug auf die Mikrofonierung, die Session auch für einen Soundcheck für die Aufnahmen mit Hartman genutzt. Ich finde auch diese Auseinandersetzung mit "Both Directions At Once" als sehr lohnenswert. Es ist wirklich ein großes Glück, diese Platte hören zu dürfen.


Pressung: +++++ (Tadellos)
Ausstattung: +++++ (Ich nenne die Deluxe-Ausgabe mein Eigen: Gatefold, die-cut sleeve, Prägedruck, bedruckte Innenhüllen und ein großes Poster nebst ausführlichen Linernotes - toll!)





Erschienen auf Impulse, 2018.

07.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 14 ° Menagerie - The Arrow Of Time




MENAGERIE - THE ARROW OF TIME


Ich hatte "They Shall Inherit", das Vorgängeralbum dieses australischen Kollektivs, bereits vor über vier Jahren hier in diesem Blog präsentiert, damals noch mit der Anmerkung, die Platte zu spät für meine damaligen Jahrescharts entdeckt zu haben. Nochmal passiert mir das nicht! 

Dabei ist das keine Konzessionsentscheidung zugunsten des aktuellen Werks "The Arrow Of Time", denn die Platte steht mit ihrer Qualität für sich und wäre auch ohne das frühere Versäumnis bereit für die Top 20 des Jahres 2018 gewesen. Chef-Multitalent/-instrumentalist Lance Ferguson hat erneut nicht weniger als zehn weitere Musiker um sich geschart und um klassische Spiritual Jazz-Themen wie die Erforschung des Weltraums, die menschliche Entwicklung und, es darf ein großer Schluck aus der Pulle genommen werden: die Zukunft der Menschheit fünf Kompositionen gebastelt, die zwischen Space Funk, Spiritual und Modal Jazz zwar ohne den künstlerischen Größenwahn eines Kamasi Washington auskommen, aber dafür mehr in die Tiefe gehen als dessen etwas abgeschliffenen "Heaven & Earth" Brocken aus dem letzten Jahr. Herausragend vor allem der treibende Opener "Evolution" als einziger Vocal-Song mit dem predigerhaft agierenden Fallon Williams am Mikrofon, das funkig-peitschende und mit tollen Harmonien ausgestattete "Spiral", sowie der Abschluss "Nova", der dank des perlenden Pianothemas tatsächlich zunächst an moderne ECM Stars wie Nik Bärtsch erinnert, bevor ein an SunRa angelehntes Saxofon den Horizont erweitert. 

Ferguson betont, er sei in erster Linie von Labels wie Strata East, Tribe und Black Jazz inspiriert, wenn er Musik für Menagerie komponiert und beschreibt deren Sound auch über 40 Jahre nach deren Höhepunkten als noch immer zeitlos. Es gibt so oder so keine andere Musik als Jazz, dem die Zeit so gut wie nichts anhaben kann, und "The Arrow Of Time" ist in dieser Frage für die nächsten Jahrhunderte gewappnet: Frisch, deep, visionär. 


Pressung: ++++ (wahrscheinlich low-budget (1), aber ultraleise ohne Auffälligkeiten, kräftiger, voluminöser Sound, schwarzes Vinyl only)
Ausstattung: + (wahrscheinlich low budget (2): keine gefütterte Innenhülle, Cover nur schwarz/weiß, single LP, Texte auf dem Backcover)




Erschienen auf Freestyle Records, 2018.

27.10.2018

Manic Monday




THE BILL EVANS TRIO - ON A MONDAY EVENING


Immer wenn ich Musik von Bill Evans höre, sage ich laut zu mir selbst "Man muss viel öfter viel mehr Musik von Bill Evans hören." - und ich habe sogar Zeugen dafür; die Herzallerliebste nickt mir just in diesem Augenblick mit einigem Mitleid im Gesicht zu und ich bin mir nicht sicher, ob jenes Mitleid ihr oder mir gilt. Evans' hier gefeiertes Livealbum aus dem Jahr 1966 ist hingegen eine jener Platten, die man nur selten hört, weil man Angst davor hat, die Magie könne beim nächsten Hören umständehalber verschwunden sein - und damit auch die Bedeutung der Musik für's eig'ne Sein. Traut man sich dennoch alle Jahre mal, die Platte erneut abzuspielen, und sie, die Magie, steht immer noch strahlend vor der eigenen Erektion, tritt Gevatter Hypotonie ins Oberstübchen ein und löscht für die nächsten Jahre wieder das Licht. So lässt sich's auch mit schwerer Hirnerkrankung aushalten. 

"At Town Hall Vol.1" (entre-nous: ich warte seit fucking Jahren auf Vol.2) ist diesbezüglich eine kleine Ausnahme; die anderen Evans Platten im Schrank, und seit dem 2010 verfassten Textlein hat sich im Ikea-Holzschrott rein quantitativ auch etwas getan, sind gleichwohl brilliant, laufen aber nicht Gefahr, zu selten gehört zu werden. Ganz im Gegenteil. Der aktuelle Anwärter in dieser Reihe, das im Jahr 2017 veröffentlichte Livealbum "On A Monday Evening", läuft heute bereits zum dritten Mal durch die Rillen und angesichts der Geschichte und Hintergründe dieser Aufnahme scheint es eine gute Idee zu sein, mein nunmehr seit 2 Monaten andauerndes Schweigen zu brechen. Denn ähnlich wie im Falle des kürzlich veröffentlichten "neuen" Albums von John Coltrane ("Both Directions At Once - The Lost Album") wusste bis vor wenigen Jahren niemand von der Existenz dieses Mitschnitts. Evans, Eddie Gomez am Bass und Eliot Zigmond am Schlagzeug spielten am 15.November 1976 im Madison Union Theater an der Universität von Wisconsin und die beiden gerade mal 22 Jahre alten Radio-DJs der Fakultät Larry Goldberg und James Farber, die am vorangegangenen Tag noch ein Interview mit dem Pianisten führten, entschieden kurzerhand und instinktiv, das an einem Montagabend stattfindende Konzert mitzuschneiden. Die Aufnahmen gerieten in Vergessenheit und wurden erst 40 Jahre später bei Aufräumarbeiten wieder entdeckt. 

Das Trio Evans/Gomez/Zigmond gilt unter Kennern als wenigstens ebenbürtig mit Evans' populärster Besetzung zu Beginn der 1960er Jahr mit Schlagzeuger Paul Motian und Bassist Scott LaFaro, das sich kurz nach Evans' Beteiligung am Meilenstein "Kind Of Blue" formierte. Mit Eddie Gomez spielte Evans bereits seit 1966 zusammen, während Zigmond gerade einmal ein knappes Jahr vor diesem Abend in Wisconsin zur Band stieß. Leider hielt diese Besetzung nur kurze Zeit. So nahm das Trio mit "You Must Believe In Spring" im Jahr 1977 lediglich eine gemeinsame Studioplatte auf, die sogar erst nach Evans' Tod 1981 veröffentlicht wurde. Auch Liveaufnahmen sind rar, tatsächlich lassen sich die Spuren der drei Helden, abgesehen von obskuren und wenig offiziellen Radiomitschnitten, nur auf der autorisierten Zusammenstellung "The Complete Fantasy Recordings" nachvollziehen, einem Boxset mit nicht weniger als neun vollgepackten CDs, die tragischerweise nicht in der Vinylversion angeboten wird. Wer sich den digitalen Schinken nicht ins Regal wurschteln will, sollte mit einiger Geduld nach der 1989 nur in Japan erschienenen CD "The Paris Concert" Ausschau halten - es handelt sich um die selben 1976er Aufnahmen wie jene aus dem Boxset. Nur damit's niemand übersieht: Wir haben 2018 und auf einem Blog (!) werden CDs (!!) empfohlen. Bizarr.


Nicht zuletzt ob der Seltenheit von Tondokumenten aus jener Zeit sind Freunde des Pianisten und seinen Trioformationen angesichts dieses entdeckten Schatzes aus dem Häuschen. 

Einer der beiden oben erwähnten damaligen Radio DJs, James Farber, genießt heute einen exzellenten Ruf als herausragender Toningenieur und nahm sich der Restaurierung der Aufnahmen an. 




Nick Phillips liegt richtig mit seiner Einschätzung. Evans war vor allem für sein lyrisches, poetisches Spiel bekannt, für seine außerordentliche Tiefe im Umgang mit Harmonien. Auf "On A Monday Evening" ist all das zu hören, gleichzeitig aber mit bisweilen gar furios vorgetragener Dynamik. Die Geschwindigkeit, in der die drei Musiker miteinander interagieren, der sprühende Antrieb von Eliot Zigmond am Schlagzeug, das befreite Spiel von Eddie Gomez, über den ohnehin nicht wenige sagen, er sei in dieser Phase auf dem Höhepunkt seiner Kreativität gewesen, und der funkelnde Bandleader am Piano, der stets die Richtung vorgibt, ohne nach eigener Aussage autoritär sein zu wollen, machen "On A Monday Evening" zu einem besonderen Vergnügen. 

Evans hatte zu der Zeit dieses Konzerts zwar seine Heroinabhängigkeit überwunden, war aber dennoch bis zu seinem Tod kokainsüchtig und vor allem nach dem Selbstmord seines Bruders Ende der 1970er Jahre ein gebrochener und kranker Mann. Dass einer, der sich ausgerechnet zum Kokain hingezogen fühlte, zu solch atemberaubender Tiefe, Verletzlichkeit und Melancholie in seinem Spiel fähig war, macht mich jedes Mal aufs Neue sprachlos.

"On A Monday Evening" ist abgesehen von seinem historischen Wert als bislang unentdecktes Zeitdokument aus der Karriere eines großen Musikers eine tolle Momentaufnahme dieses Trios. 

Wir müssen alle viel mehr Bill Evans hören. 


 Erschienen auf Condord Records, 2017.

07.02.2016

2015 ° Platz 7




KAMASI WASHINGTON - THE EPIC


Na, wo warst Du, als Du zum ersten Mal "The Epic" gehört hast? Ich weiß noch, wie und wo ich es zum ersten Mal hörte; für gewöhnlich brennt sich so ein Erlebnis ja nur dann ins Gedächtnis ein, wenn das Gefühl neben den Lauschern entlang spaziert, etwas Wichtiges oder Großes zu hören - jedenfalls geht mir das so. Ich kann mich schließlich auch noch an mein erstes Mal mit "Smells Like Teen Spirit" erinnern.

"(...) es war im Wohnzimmer der frisch verkabelten elterlichen Wohnung, dunkelbraune Auslegeware, braunes Noppensofa (Mutmaßungen, was ein Noppensofa ist gerne in die Kommentarspalte), ein schwerer, gleichfalls dunkelbrauner Raumteiler so groß und schwer wie die verfickten Alpen. Halbgrauer Herbstnachmittag, MTV. Ich hatte noch nie einen Ton von dieser Band gehört, aber mir knallte alles durch. Ich sprang über die Noppen im Sofa abwechselnd auf den Sessel, auf die 2er- und 3er-Couch, setzte zum Torjubel eines Fußballspielers an und bremste auf dem krausen Teppich mit den Knien direkt vor dem Fernseher. Es tat nicht weh, das Adrenalin unterdrückte jeden Schmerz."

Ich hörte "The Epic" zum ersten Mal an einem Sonntagnachmittag im Mai 2015, während ich mein Plattenregal sortierte. Es war ein Tweet, der mich auf eine Seite mit dem kompletten Albumstream leitete, und als ich das dreistündige Mammutwerk erstmals hinter mir gelassen hatte, drückte ich umgehend erneut die Play-Taste. Ich stand in Flammen. Ich war wirklich aufgeregt, immerhin so aufgeregt, dass ich noch am selben Tag eines meiner frühen Instagram-Post absetzte, mit einem Screenshot der Labelseite von Ninja Tune und mit aus heutiger Sicht immer noch nachvollziehbarer "You got to hear this!"-Übertreibung im Text:





Ein paar Tage später verfasste ich sogar einen Blogpost zu "The Epic" - sogar  drei Tage vor einem entsprechenden Artikel in der ZEIT, dem "knalligen Jugendmagazin aus Hamburg" (Harald Schmidt) - remember, where you read it first! 


Das Album wirbelte in den kommenden Wochen und Monaten ganz schön viel Staub auf: Das Feuilleton feierte wie von Sinnen die Rückkehr des Jazz (und außerdem die Rückkehr der Leser), Qualitätsmedien wie der Spiegel bezahlten Qualitätsschreiber wie Andreas Borcholte für das Abschreiben des Pressetexts - weil: wer kann, der kann - und selbst Fans von breitbeiniger Rockmusik, die Jazz bis dahin als spaßfeindlich, intellektuell, elitär - kurz: "Schwuuul!" (Matussek) ablehnten, entdeckten plötzlich das Saxophon für sich. "The Epic" sahnte in Deutschland sogar eine goldene Schallplatte ab. Das muss man sich alles mal auf der Netzhaut zergehen lassen: ein 180-minütiges Jazzalbum auf einem Indielabel im Jahr 2015 gewinnt eine goldene Schallplatte in Deutschland. Wo wenn nicht hier, wäre ein besserer Moment, die Sackgesichter der für die RWE arbeitende Werbeagentur und ihre Scheißhausparole "Sind wir Deutschen denn eigentlich verrückt geworden?" zu erwähnen?

Nun ist's aber so: die Jazzszene ist in weiten Teilen tatsächlich spaßfeindlich, intellektuell und ganz besonders elitär - das ist zwar nicht "Schwuuul!" (Hans-Peter, 58, Kegelclub "Alle Neune"), führt aber zu einer teils bizarren Ablehnung von allem, was ihre heiligen Hallen mit unreinem und unheiligem Unrat verschmutzt. Unrein und unheilig wird es vor allem dann, wenn der Scheinwerfer allzu hell und grell die dunklen Ecken der ollen verstaubten Jazzbar ausleuchtet und dadurch also Gäste kommen, von denen man sich in jahrzehntelanger und harter Detailarbeit so schön abgrenzte. Das ist wie in der kleinen Stadtteilspelunke um die Ecke: jahrzehntelang sitzen hier die Schwerstarbeiter aus den umliegenden Fabriken unbehelligt von der modernen Welt beim ruhigen und tranigen Feierabendbesäufnis, und plötzlich stürmt eine Horde 16-jähriger Teenies die Kneipe, lässt Skillex und Taylor Swift über die Handylautsprecher deren "abominations unto the Lord" (John Oliver) hinausplärren, alles riecht nach Axe "Uganda", sie bestellen KiBa-Weizen - da fühlt man sich einfach nicht wohl. Das kratzt, das wird ungemütlich, man will die respektlose Brut am liebsten einfach rausschmeißen. Genau so geht's der halbwegs eingeschworenen Jazzgemeinde, und nichts belegt das schöner als das Webforum einer größeren deutschen Musikzeitschrift von "den Wichsern von Springer" (Blank When Zero):


"Klingt für mich nach Coltrane ( ca 1964) mit Chorsätzen des "It's Time"-Albums von Roach - und das alles auf mäßigem Niveau. (...) Ich höre durchschnittlichen Post Bop."

"Was für ein substanzloses Gedudel. (...) Süßliche Endsiebziger-Radiojazz-Melodik, schmalzige Chöre, ein Saxophonist, der Übungspatterns sinnlos aneinanderreiht, und bei jedem Solo hört man, dass er nicht weiß, was er als Nächstes spielen soll. (...) Wieso darf der ein Album machen? Grausig."

"Mich hat dieser quasi schon vorab feststehende Meisterwerk-Status auch gestört. Nur weil sich jemand 30 Tage einschließt und ein 3 Stunden-Machwerk rausbringt, ists kein neues Bitches Brew." 

"Ach, und Thundercat ist nun auch nicht gerade der herausragende Bassist."

"Es langweilt mich. Das Schlagzeug hört sich nach schlechtestem Pop an, überhaupt scheinen die alle an einer Jazzakademie studiert zu haben. (...) Das Chorgeplänkel ist aber wirklich albern und das Streicherzeugs auch."



Orthografie- und Satzzeichenfehler wurden aus Gründen der Authentizität selbstverständlich übernommen.

Nun arbeite ich seit Jahren daran, mein Toleranzlevel in schwindelnde Höhen zu schieben und natürlich respektiere ich als Vorsitzender der "Sossenheimer Akademie für freie Meinungsäußerung - es sei denn die von Arschlöchern e.V." jede Meinung, aber come on: that's just a fuckin' pile of fuckin' bullshit.

Freilich ist immer ein bisschen Vorsicht angebracht, wenn vor allem genrefremde Musikfreunde plötzlich zu Jazzern werden - zu leicht blendet der Hype die Sinnesorgane und man muss heute mehr denn je aufpassen, mit welchen Wölfen man heult. Aber total egal ist's dann eben trotzdem: "The Epic" hat auch nach knapp acht Monaten nichts von seiner Faszination eingebüßt. Natürlich hat das nicht die politisch und sozialkulturell aufgeladene Wucht der 1960er Jahre, natürlich ist das Panorama von "The Epic" mit Edelweichspüler bearbeitet, natürlich ist das in der Ansprache sanfter und bedachter - das ändert aber nichts an meiner Wahrnehmung: 

"The Epic" ist ein opulentes, tiefes, spirituelles, herausragend komponiertes, brillant gespieltes, mitreißend arrangiertes und modernes Crossover Jazz-Album, das sowohl das freie Spiel eines mittelalten John Coltrane als auch die modalen Post Bop-Spirituals der 1970er Jahr von Pharoah Sanders oder auch Alice Coltrane streift und sie mit Soul- und sogar Pop-Elementen umrankt, aufhübscht, garniert - und nicht zukleistert. 

Ladies and Gentlemen, we have a classic.

And now: Cheer the fuck up!




Erschienen auf Brainfeeder, 2015.


23.05.2015

Episch im Weltraum



KAMASI WASHINGTON - THE EPIC


Ich schrieb vor einigen Jahren zum "People Hear What They See"-Album des US-Rappers Oddisee, dass die Zeit für Klassiker wohl endgültig vorbei ist - der Pop bringt kein neues "Thriller" auf die Welt, im Hip Hop wird es kein zweites "3 Feet High And Rising" geben, im Metal wohl kein zweites "Kill 'Em All" und ob jemand nochmal so hart an den Türen zu Coltranes "A Love Supreme" oder Davis' unvermeidlichen "Kind Of Blue" rütteln wird, darf mit Recht ebenfalls in Zweifel gezogen werden. Das liegt natürlich niemals an der Musik selbst, sondern an den gesellschaftlichen Veränderungen unserer Welt im Allgemeinen, an jenen Veränderungen im Konsumverhalten und der außer Kontrolle geratenen Geschwindigkeit, mit der uns neue Gesichter und neue Stars vor die Nase gehalten und sogleich wieder durch deren Nachfolger ersetzt werden, im Besonderen. Hinzu kommt die durch Tools und Gadgets forcierte Individualisierung, eine unerschöpfliche Auswahlquelle und vor allem eine durch die neuen Medien professionell entwickelte Steuerung der Meinungsbildung, die gleichzeitig auf jede Nachhaltigkeit zwangsläufig verzichten muss, wenn sie sich weiter am Leben halten will. 

Ab und zu sortiert sich jedoch der Untergrund und steckt zaghaft den Kopf in Richtung Höhenluft. Und ab und zu stellt sich dann dieses besondere Gefühl ein, irgendwas Großes sei gerade im Gange. Beziehungsweise und in diesem Fall: im CD-Player. Im Mai 2015 veröffentlichte der US-amerikanische Saxophonist Kamasi Washington sein Debut über Brainfeeder, das Label von Steve Ellington aka Flying Lotus; in Europa übernehmen die Damen und Herren von Ninja Tune dieses monumentale Werk des vierunddreißigjährigen Musikers. 

"The Epic" ist ein knapp dreistündiges Spektakel des Jazz. Gespielt von einer zehnköpfigen Band, einem 32-köpfigen Orchester und einem zehnköpfigen Chor, gepresst auf drei Silberlinge. Das Hören dieses Brockens eine Herausforderung zu nennen, wäre blankes Understatement, und ich bin noch nicht mit mir einig, ob es naiv oder arrogant ist, im Jahr 2015 ein dreistündiges Album zu veröffentlichen. Gemessen an den Reaktionen im Internet scheint die Rechnung überraschenderweise aufzugehen - ähnlich wie im Falle "Black Messiah" von D'Angelo gibt es kein einziges schlechtes Wort über "The Epic" zu lesen, und knapp 100.000 Views der vierzehnminütigen Single (!) auf Youtube sprechen Bände. 

Wenn die ersten Stimmen tatsächlich schon von einer Konsensplatte (mit Jazz drauf! Auf einem Indielabel! Im Jahr 2015!) sprechen, dann weiß der halbwegs orientierte: bitte Ohren spitzen. Sowas wird's so schnell nicht nochmal geben.

Muss man haben. 





Erschienen auf Brainfeeder, 2015.

14.07.2014

Deep Diggin'



ELMO HOPE ENSEMBLE - SOUNDS FROM RIKERS ISLAND

Wenn einer, der mit Stars wie John Coltrane, Sonny Rollins und Jackie McLean und vielen anderen mehr Platten aufgenommen und bei Labels wie Blue Note und Prestige und Riverside die Aufnahmen unter seiner Führung veröffentlicht hat, dabei aber bis heute derart unter jedem Jazzradar hindurchfliegt, dann bin ich sofort elektrisiert. Der US-Amerikaner Elmo Hope ist ein solcher Fall, den die Jazz-Fans einfach immer übersehen hatten: seine außergewöhnliche Spieltechnik, bluesbeeinflusst und subtil nuanciert, feingliedrig und unvorhersehbar, mag wohl ein Grund dafür gewesen sein.

Seine anhaltenden Probleme mit Heroin, die zu einem Entzug der Spiellizenz in New York und einem folgerichtigen Umzug nach Los Angeles führten, überschatteten immer wieder sein Talent - und seinen Erfolg. In den Liner Notes zu dieser Platte, auf der übrigens ausschließlich ehemalige Insassen des berüchtigten Gefängnisses auf Rikers Island spielen (Lawrence Jackson, Trompete; Freddie Douglas, Saxofon; John Gilmore, Tenorsax; Ronnie Boykins, Bass - übrigens hier schon mal erwähnt -  und Philly Joe Jones, Drums, dazu spendieren Earl Coleman und Marcelle Daniels ihre Stimmen bei einigen Stücken), zitiert Nat Hentoff den Pianisten zu seiner Situation und seiner Sucht:
“All that time I was off (drugs) I worked hard. Everybody can tell you I worked hard. But jobs were hard to get and harder to keep. Some of the guys I worked for even seemed disappointed that I didn’t goof. Yet I stayed straight. But there were so many disappointments and so much scuffling and personal problems besides. So I got my problem again. I’m going to try to kick again. It might be too late. I might have to pay more dues. But I know I can’t get back to where I ought to be if I don’t stop entirely. Some guys wear the stuff well. At least, they can function while they’re on. Me, the minute I take the first taste, my troubles start. And with all the other tensions going on, I know I’m going to fall apart if I don’t get off. Music is the most important thing in life to me. And yet I’ve been goofing that life away for nothing.

“These days I’m out on the street with no crib. And there’s a new breed using now. I sit in one of those basement apartments and I see guys around me who don’t even have a dream, man. They’re real bitter people. I don’t want to get like that. But where do I go? I need some analysis. I need something to help me straighten out. But with what money? And if I stay with the habit, sooner or later I’ll get busted. And then, I could get put away for a long time. Now what sense does that make? Putting a man away when, if you tried to help him, he could still create. He could still be a credit to himself and everyone else. The only crime I commit, man, is reaching for the bag. And when I want to stop that, where do I turn? And you can see, even with all this pressure, I’ve got something going. I’ve got my own thing musically.”

Elmo Hope starb im Mai 1967 im Alter von nur 43 Jahren an Herzversagen. "Hope From Rikers Island" ist auf 180g schweren Vinyl wiederveröffentlicht worden und eine Art Blaupause für spirituellen Soul-Hardbop-Jazz, was stilistisch umso bemerkenswerter ist, wenn man weiß, dass diese Aufnahmen aus dem Jahr 1963 stammen und sich der Souljazz erst Ende der 60er Jahre etablieren konnte.

Erschienen auf Audio Fidelity, 1963.
Re-Issue erschienen auf Chiaroscuro, 2014.

29.03.2014

Let's make Jazz



MENAGERIE - THEY SHALL INHERIT


Über diese Platte hätten wir schon eine Ecke früher lesen können, wäre sie mir nicht erst im Dezember 2013 in die Hände gefallen. Zu diesem Zeitpunkt war meine Aufstellung über die Top 20 schon in veganen Schokokuchen eingeritzt, und es hätte sich auch nicht richtig angefühlt, nach fünfmaligem Hören von "They Shall Inherit" die ganze schöne Auswahl mit dem Hintern einzureißen, die mich zuvor schließlich mindestens zwei, wenn nicht gar drei Wochen schneller altern ließ. Den Legionen von Erbsenzählern erzähle ich natürlich auch nicht, dass das äußerst sympathische Label Tru Thoughts die Platte schon im Dezember 2012 auf den Markt warf, was sie de facto für das Jahr 2013 disqualifiziert. Aber ich bin ja der Chef hier. 

"They Shall Inherit" ist das erste Jazz-Album des Australiers Lance Ferguson, der außerdem mit der Deep Funk-Kapelle The Bamboos nicht wenig erfolgreich ist und unter dem Banner Lanu elektronische Musik produziert. Es ist ein Jazz-Album, das den Spiritual Jazz Entwürfen einer Alice Coltrane oder eines Pharaoh Sanders bedeutend näher steht als Ausflüge in den Swing, Bebop oder gar den Free Jazz, wenngleich die Nähe eher aus einem Gefühl als aus der Musik entsteht: allzu wilde Saxofonabfahrten und minutenlange Krishna-Mantren werden sich selbst bei genauem Studium nicht auf dieser Platte finden lassen. Der in Neuseeland geborene Gitarrist und Sänger verweist im Interview darauf, dass ihm die gegenwärtige Jazzszene mit ihren Hochleistungssoli nicht über Gebühr herausfordert, und er lieber ein Album im Kollektiv machen wollte, das niemanden in das Scheinwerferlicht stellt, sondern den Fokus auf eine feste Bandkonstellation und das gemeinschaftliche Zusammenspiel richtet. Tatsächlich hat Ferguson nicht weniger als zehn Musiker um sich geschart, um sein Jazzdebut zu einem opulenten und reichen Werk entwickeln zu lassen.

Freilich mögen und werden auch hier die ollen Jazzknochen die Nase rümpfen, denn so haben sie, selbst wenn ihr Held Roy Ayers mitmischt, nicht gewettet: "They Shall Inherit" ist groovy, tatsächlich song- und nicht solobasiert, und insgesamt eine sehr entspannte, souveräne Angelegenheit. Doch auch wenn die Herztropfen also im Apothekerschränkchen bleiben können, heißt das nicht, dass die Schlafpillen gleichfalls nicht benötigt werden: Dem Tentett ist ein positives, cooles Spiritual Jazz Album gelungen, das seit drei Monaten in meinem berüchtigten Rotationsstapel vor der Anlage liegt und immer wieder den Weg auf den Plattenteller findet, vorzugsweise am Wochenende zum gleichfalls berüchtigten und ausgiebigen Frühstück. Manchmal gibt's ja keinen besseren Soundtrack zum Essen als Jazz.



Erschienen auf Tru Thoughts, 2012.

28.10.2012

Tout Nouveau Tout Beau (6)


FLYING LOTUS -UNTIL THE QUIET COMES

Zugegeben: schon die drei vorangegangenen Alben des Kaliforniers Steven Ellison brachten mich ob ihrer musikalisch geschnitzten Falltüren und aufgestellten Beat-Bärenfallen in so manche Erklärungsnot - was übrigens hier und hier nachzulesen ist. "Cosmogramma" aus dem Jahr 2010 bekam den "Space Opera"-Sticker aufgeklebt, mit dessen Hilfe so mancher die komplette Ahnungslosigkeit hinsichtlich der Musik ganz gut überspielen und -schreiben konnte. Aber unabhängig von der Frage, ob die Musik von Flying Lotus an der ein oder anderen Stelle nicht vielleicht ein ganz kleines bisschen, nasagenwirmal: überambitioniert bewertet wird, ist "Cosmogramma" für mich, auch wenn ich es selten aufgelegt habe, ein großes Gesamtkunstwerk, eine irre Achterbahnfahrt durch 60 Jahre Musikgeschichte, elektronischer Free Jazz, spiritueller Post-Funk für eine Zeit, die wir alle nicht mehr erleben werden. Talking about "überambitionierte Bewertung".

"Until The Quiet Comes" stellt mich vor bedeutend größere Probleme, weil hier einerseits ein spiritueller, meinetwegen ideologischer, Überbau fehlt, der die Sache mit dem Verständnis (wenigstens für mich) vereinfachen könnte. Andererseits werkelt Ellison immer noch in der großen Kiste aus Sounds, Beats, Strukturen, Ideen, Varianten und Farben, dieses Mal aber deutlich entspannter und nokturner als in der Vergangenheit. Die Tunes sind zurückgezogener als auf dem Durchbruchsalbum "Los Angeles", sie wirken noch detaillierter und tiefer als die Schwestern und Brüder auf "Cosmogramma" - und wenn ich es mir recht überlege, ist das ein durchaus mutiger Schritt: Ellison rückt das grelle Blinken und Zischeln, den Krach, den Irrsinn in den Hintergrund, um möglicherweise erstmals den Blick auf das Wesentliche zu werfen. Ellisons Gespür für die akurate Darstellung hochkomplexer Momentaufnahmen seines Musikuniversums wurde vielleicht noch nie so glasklar auf eine schwarze Plastikscheibe gepresst, wie auf "Until The Quiet Comes". Paradoxerweise bedeutet das für mich bislang Kapitulation. Ich befürchte, dass ich diesen Brocken noch lange nicht verstanden habe. Und ich zweifle seit einigen Tagen, ob es mir jemals gelingen wird. Halten wir's mit den ollen Rochen von Asia: only time will tell.

Hoppala, das wichtigste hätte ich um ein Haar vergessen: wenn ich noch einmal die Rezension der Spex zu dieser Platte lesen muss, pisse ich mich ein. Schönen guten Abend.

Erschienen auf Warp Records, 2012.





HOLY OTHER - HELD

Die Debut-EP "With U" war eine der Sternstunden des Jahres 2011, und es ist geradeheraus ein Skandal mittelstrahligem Ausmaßes, dass ich bis heute noch kein Wort darüber verloren habe. Heute, im Oktober 2012, ist es angesichts des mittlerweile veröffentlichten ersten vollständigen Albums des britischen Produzenten auch schon eine Nussecke zu spät, aber dann soll nun wenigstens ebenjenes "Held" eine Handvoll Lob einfahren. Das Tri Angle Label dürfte meinen zweikommavierneun Lesern indes bekannt sein, denn immerhin fand Balam Acabs Debut den Weg in meine Jahresbestenliste 2011: Tri Angle wird in einschlägigen Kreisen seit der Musik von oOoOO, dem erwähnten Balam Acab oder auch Clams Casino als der heißeste Scheiß der neuen Elektronik gefeiert, was insofern verwundert, weil der ganze Beatsalat auf das erste Hören neu- und fremdartig erscheinen mag, er es sich aber Dank des flott einsetzenden Gewöhnungseffekts mittlerweile in der Sackgasse namens "Burial" gemütlich gemacht hat und dort langsam vor sich hinwelkt. "Held" leidet zu Beginn etwas an dieser Entwicklung, vor allem, weil sich "With U" zu dolle über die Gnade der frühen Geburt freuen darf. Was 2011 neu und aufregend war, ist 2012 eben weniger neu und weniger aufregend. Folglich bietet "Held" schlicht die Weiterführung des auf "With U" bereits ausgerollten Konzepts: dunkel verästelte Beats pumpen zwischen weiten Synthieflächen und verhallten Sprachfetzen das Blut der Finsternis durch brüchige Strukturen und opulente Arrangements, die trotz der Fülle an Winkeln und Schauplätzen nie überladen, sondern durchaus fokussiert und straff wirken.

"Held" ist zwar keine Überraschung mehr, aber wer einen Nachschlag zu "With U" braucht, wird hier bestens versorgt. Wenn es in diesem Stil aber weitergeht, bin ich bei der nächsten Scheibe raus. Was wir alle überleben werden, schätze ich.

Erschienen auf Tri Angle, 2012.





MONOPHONICS / DESTRUMENTS - LIKE YESTERDAY / FREEDOM

Das Konzert der Monophonics in Frankfurt wurde aufgrund des miesen Vorverkaufs ersatzlos gestrichen, was mich doppelt ärgert. Erstens grenzt es beinahe an ein Wunder, dass die Kalifornier bereits ein paar Monate nach Veröffentlichung des Debuts überhaupt eine Headlinertournee durch Europa durchziehen, und ich glaube nicht, dass die Band so schnell nochmal in die alte Welt übersetzen wird. Zweitens sah ich die Monophonics vor wenigen Wochen im Rahmen eines US-amerikanischen Festivals in dessen Livestream und war begeistert von ihrer Präsenz und ihrem Soul. Ein großes Ensemble mit fantastischen Musikern, die die Tracks des Debuts "In Your Brain" ausgesprochen lebendig und kraftvoll interpretierten. Das wäre sicherlich ein großartiger Abend im Frankfurter Zoom geworden. Es sollte aber nicht sein, weshalb ich aus Trotz die neu erschienene Splitsingle mit den Destruments einkaufen musste. Ein kleines, simples und doch authentisches Juwel aus Soul und Funk, das sich die Plattenladengräber sicherlich schon gesichert haben. Vielleicht wird man sich in 20, 30 Jahren an die Monophonics erinnern und "Mensch, das war auch eine arschcoole Band!" sagen. Meine anfängliche Reserviertheit bezüglich des Albums hat sich jedenfalls und mittlerweile fast in Luft aufgelöst. Ein echter Grower. Weitermachen, bitte. Und irgendwann mit den fantastischen Orgone nochmal auf Europatournee kommen. 

Erschienen auf Colemine, 2012.



11.07.2012

Revolutionnaire



MARION BROWN - WHY NOT?


Zwei Dinge fallen mir sofort ins Ohr, sobald sich die Nadel auf "Why Not?" absenkt. Erstens: der Beginn des Openers "La Sorrella" mit Browns langgezogenen Tönen, die die majestätische Melodie entwickeln, wecken umgehend Erinnerungen an die stark sprituell geprägten Mittsechzigerwerke von John Coltrane - was nur wenig verwundert, wenn man weiß, dass Brown mit Coltrane an dessen Meilenstein "Acension" mitarbeitete. Zweitens: Pianist Stanley Cowell. Sein Spiel begeistert mich ab der ersten Sekunde. Er lässt sich tief in seine Töne fallen, reiht sie auf, schwingt mit, schlägt überraschende Melodieschneisen durch das Schlagzeuggewimmel Rashied Alis und harmoniert blendend mit dem Flirren von Bassist Norris Jones. Cowell thront über dieser Aufnahme.

Damit gilt es nicht, die Leistung und Präsenz der anderen Musiker zu unterschätzen. Ich bewundere den Altsaxofonisten Marion Brown schon seit einigen Jahren, tatsächlich gehörte er zu meiner ganz persönlichen Speerspitze, als ich mich, noch etwas grün hinter den Ohren, langsam in das Jazz-Spektakel vorstolpern ließ. Sein Album "Porto Novo" hat mir seinerzeit böse den Kopf verdreht; zugegebenermaßen geschah das zu einer Zeit, in der es mir nicht laut und frei und wild genug zugehen konnte. Aber Brown war selbst dann, wenn er dem Affen ordentlich Zucker gab, eben nicht nur laut und frei und wild, er hatte stets einen hymnenhaften Auftritt in der Hinterhand. Es ist nicht nur das Zusammenspiel der vier Herren auf der Ballade "Fortunato", das die Komposition zu einer Landschaft aus Samt und Seide werden lässt; ein Blick auf sanft zerklüftete Melancholie formt Brown mit der großen "on the top of the mountain"-Geste zu einem einheitlichen, runden Ganzen ab, ohne ihr die subtil brummende Dissonanz zu nehmen.

Der Titeltrack läutet die lebhaftere B-Seite ein. Das Quartett agiert nun deutlich freier, hier gibt es praktisch nichts, was sich außer den rasenden Arpeggios Browns im Kopf festsetzt. Furios walzen sich insbesondere Ali und Jones gemeinsam durch den Sturm, den sie selbst entfachen. Trotzdem ist ihre Feinabstimmung sensationell - wenn ich den beiden durch die ersten zwei Drittel des Stücks folge und erlebe, wie sich ihre Kommunikation im Schlagzeugsolo Alis auflöst, wie Ali die Toms einsetzt, und wie ich im Anschluss daran bemerke, dass da vorher Jones nanometergenau den Bass drüberwischte, dann bin ich zunächst mal ordentlich baff. "Homecoming" zum Abschluss ist dann eine Mischung aus Browns Talent für die große, sakrale Hymne und einer Menge von freiem Humor. Die überraschenden Breaks und Stopps lassen meine Mundwinkel ganz natürlich nach oben schießen, und es ist gut vorstellbar, wieviel Spaß das Quartett bei den Aufnahmen hatte. Dabei ist es nun Cowell, der von der Leine gelassen wird und mit Metriken, Melodien und Rhythmen allerhand Schabernack treibt. Browns Ton erinnert hier bisweilen an die Mittsechzigerarbeiten von Jackie McLean: er hat viel seiner Schärfe in seinem Saxofon, vielleicht an den Ecken etwas abgerundet, aber gleichfalls eine markante mehrdeutige Ansprache. Seine Attacken wurden bei "Homecoming" in den Vordergrund gemischt, so scheint es mir, und genau dort sind die Parallelen gut zu erkennen. Es schwingen einige melancholische Bluesfetzen unter dem vordergründigen Noise mit, und plötzlich entfaltet sich dieser Ton in viel mehr als das, was auf einer flachen Wahrnehmung präsentiert wird, er explodiert regelrecht.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein weiteres Album Marion Browns aufmerksam machen: das 1970 beim Münchener Label ECM erschienene "Afternoon of a Georgia Faun", einer Collage aus Kraft, Vision und Klang. Vielleicht schreibe ich auch über diesen Meilenstein in Browns Oevre demnächst ein paar Zeilen, verdient hätte er es ohne jede Diskussion.

Erschienen bei ESP, 1966.

23.09.2007

The All Seeing Shorter



Gut möglich, dass Wayne Shorter in naher Zukunft mehr als nur zweimal in meinem CD-Regal auftaucht. Dass der derzeitige Stand der Dinge dringend einer Überprüfung bedarf, liegt in erster Linie an einer Platte, die seit Tagen in meinem CD-Player klebt. "Juju" versprach alleine schon durch das Line-Up mit den beiden Coltrane-Sidekicks MyCoy Tyner (Piano) und Elvin Jones (Drums) eine spannende Angelegenheit zu werden, dass mich das Album aber derart in seinen Bann zieht war nicht eingeplant.

Es liegt sicher nicht nur an den genannten Musikerpersönlichkeiten, dass "Juju" manchmal als das "A Love Supreme" Shorters bezeichnet wird. Ich möchte diese Einschätzung gar nicht weiter kommentieren; dass Shorter auf seinem fünften Soloalbum allerdings alleine hinsichtlich des Tons seines Instruments unüberhörbar auf Tuchfühlung mit dem Sound Coltranes geht, steht außer Frage. Auch das Zusammenspiel des Quartetts, insbesondere im fantastischen Titelstück, zwingt ob seiner Intensität, der wie magisch ineinander verzahnten Struktur und dem wild vor sich hin brodelnden Feeling zu seelischen Überreaktionen. "When I wrote this tune, I was thinking of Africa [and]...was tyring to picture the old african rites.", schreibt Shorter in den Liner Notes zu "Juju", einer Reminiszenz an die Schlichtheit von afrikanischen Gesängen, wie er anmerkt.

Shorters zweites Album für das Blue Note-Label lebt aber auch von den überwältigenden, einfühlsamen Melodien. Wenn nach kurzem Drum-Intro von Jones McCoy das Eröffnungsthema von "Mahjong" anspielt, Shorter kurz darauf mit seinem Tenor-Saxophon einsteigt, die Melodie aufnimmt und weiterspinnt, und das Quartett (am Bass: Reggie Workman) sich plötzlich in einer luftigen Höhe blind die Bälle zuwirft, bleibt mir meist nicht viel anderes übrig, als die Kinnlade ganz entspannt nach unten gleiten zu lassen. Das ist schlicht sensationell.

Die weitere Entwicklung Shorters, hin zu immer freieren und offeneren Strukturen hat ihren Ursprung möglicherweise exakt auf dieser Platte. Innerhalb von 18 Monaten nahm der Musiker nicht weniger als sechs Alben auf und spielte zudem seit 1964 noch im Miles Davis Quintett, in welchem er unter anderem an heute legendären Werken wie "In A Silent Way" oder "Bitches Brew" mitwirkte. Das Nachfolgealbum "The All Seeing Eye" (obgleich es vor der Veröffentlichung jenes Werks noch 2 weitere Aufnahmesessions gab), geht hinsichtlich des freieren Ansatzes konsequenterweise gleich mehrere Schritte weiter und präsentiert mit einem Oktett ein großes Ensemble (u.a. mit Herbie Hancock), das die Musik weiter entzerrt, sie aber deswegen nicht weniger intensiv erscheinen lässt.

"Juju" von WAYNE SHORTER ist im Jahre 1964 auf Blue Note erschienen.