Posts mit dem Label Bandcamp werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Bandcamp werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

11.12.2024

Infinity Machine - The Lighthouse




INFINITY MACHINE - THE LIGHTHOUSE


Ich bin damit gleich mehrere Monate zu spät, aber bevor wir uns in ein paar Tagen erwartungsfroh in die beliebte Jahresendabrechnung neuer Musik einschwingen, möchte ich noch flott auf meine zweite Band Infinity Machine zu sprechen kommen; genauer gesagt auf "The Lighthouse", unsere erste 4-Track-EP, die im Oktober 2024 offiziell erschien. 

Es erscheint angemessen, dafür ein bisschen weiter auszuholen. Verzeihung, aber da müssen wir jetzt durch. 


-Prolog-

Wer diesem Blog nicht erst seit gestern folgt, wird sich eventuell an meine Geschichte mit Soleilnoir, beziehungsweise Sun Never Sets erinnern. Im Herbst des Jahres 2000 lernte ich über eine Suchmeldung im Frankfurter Anzeigenblättchen "Das Inserat" Steffi, Wolfgang und Jörg kennen, die für ihre Band Soleilnoir einen Sänger suchten. Und schon nach der ersten Probe war klar: es hatte geklickt. Musikalisch, menschlich, konzeptionell waren wir ungewöhnlich schnell beisammen. So schnell, dass wir uns nur drei Monate später im Bazement Studio von Markus Teske wiederfanden, um unsere EP "Drown" aufzunehmen. Zu sagen, jene Zeit sei für mich "intensiv" gewesen, ist eigentlich eine Untertreibung. Ich war nicht nur immer noch frisch verliebt und zog mit der Herzallerliebsten in eine kleine 2-Zimmer-Wohnung im Frankfurter Stadtteil Rödelheim, war Auszubildender bei der Frankfurter Rundschau und lebte von Butternudeln, Instant-Eistee und Versagerkraut, sondern bekam im Sommer 2000 auch die Diagnose Hodenkrebs in die Unterhos' geschummelt. Die Welt stand auf dem Kopf - und die Euphorie darüber, mit meinen Bandkumpelinen und -kumpels derart vereint an einem Strang zu ziehen, in Musik und Kreativität so aufzublühen, sich praktisch ohne Grenzen zu verwirklichen und auszuleben, bedeutete die Welt für mich. Umso schwerer wog das zwischenzeitliche Ende meines Engagements nur ein Jahr später, denn so schnell und leidenschaftlich die Geburt Soleilnoirs verlief, so schnell und leidenschaftlich verglühten wir in einem Netz aus Missverständnissen und tragischen Fehlentscheidungen. Im Grunde könnte ich über diesen tadellosen Schwachsinn noch heute aus der Haut fahren. So unnötig, so dumm, so trostlos. Grundgütiger. Jedenfalls: Wolfgang und Jörg machten mit einem neuen Sänger und einem neuen Schlagzeuger weiter, während ich zunächst ins Krankenhaus geschoben wurde und anschließend zumindest übergangsweise die Musik an den Nagel hing. Nach einigen Jahren Pause lernte ich Simon und Marek kennen und wir gründeten Blank When Zero, eine Hardcore/Punkband, die auch 16 Jahre später immer noch existiert und über die ich zuletzt HIER ein paar Zeilen schrub. 


Im Frühjahr 2009 lagen Soleilnoir bereits seit einiger Zeit auf Eis, und vermeintlich sollte es das dieses Mal endgültig gewesen sein. Wolfgang und Jörg waren heillos zerstritten und redeten nicht mehr miteinander, aber was die beiden vielleicht damals erahnten, aber noch nicht wussten: so wenig sie miteinander klarkamen, so wenig kamen sie ohne einander klar. Im Rückblick erscheint es nicht komplett aus der Luft gegriffen zu sein, dass ich von der Anfangseuphorie über die Gründung von Blank When Zero wieder Blut geleckt hatte. Ich ergriff also entgegen meiner mentalen Konstitution die Initiative - und brachte die beiden wieder an einen Tisch. "Lasst uns weitermachen. Ich weiß, da sind Narben und vielleicht suppt hier und da noch ein bisschen blutiger Eiter aus den Wunden heraus, aber das tackern wir dicht." - Und wir tackerten. Und wir machten weiter. Und auch wenn es sich nach billigem Klischee anhören mag: eigentlich machten wir da weiter, wo wir 2001 aufhörten. Wir schrieben in nur sechs Monaten ein komplettes Album und gingen Anfang 2010 erneut ins Bazement Studio zu Markus Teske und nahmen unser erstes Album "The Absurd" auf. Weil rechte Sackgesichter mittlerweile die Deutungshoheit über die "Schwarze Sonne" (französisch: Soleil Noir) gewonnen hatten, nannten wir uns fortan Sun Never Sets. Das Album ging leider erbarmungslos unter und kann heute nur noch über meinen Soundcloud-Kanal HIER gehört werden. Ich hatte darüber schon früher ein paar Krokodilstränen verdrückt und im Prinzip tu' ich's bis heute: auch wenn die Zeit für einen solchen Sound zu Beginn der 10er Jahre völlig vorüber war, und auch wenn vielleicht nicht jede Idee ein kreatives Feuerwerk abbrannte, hat die Platte diese komplette Ignoranz wirklich nicht verdient. 


Im August 2012 spielten wir unser letztes Konzert. Wolfgangs Gesundheitszustand verschlechterte sich bereits seit einiger Zeit immer weiter. Aus der kurzen Pause, die er zu seiner Genesung verwenden wollte, wurden zunächst Monate, später Jahre. Die traurige Wahrheit ist, dass wir es nie mehr hinbekommen sollten. Die noch viel traurigere Wahrheit ist auch, dass Wolfgang im Sommer 2021 verstarb. Ich kann nicht sagen, wie oft ich es mir vorgenommen hatte, über ihn und über unsere gemeinsame Zeit auf diesem Blog zu schreiben - und wie oft ich daran scheiterte. Vielleicht ist mir in den meinen 47 Jahren auf diesem Planeten keine andere Person untergekommen, die so ambivalent war. Wolfgang konnte herzensgut sein, empathisch, vertrauensvoll, loyal, künstlerisch, kreativ, unterstützend - und manchmal in Bruchteilen von Sekunden später das genaue Gegenteil: cholerisch und zu komplett grotesken Kurzschlussreaktionen neigend, erratisch, bösartig, ignorant, oberflächlich, lethargisch, depressiv. Ich glaube, ich war (und bin) nicht in der Lage, all diese Splitter in ein vollständiges Bild von ihm zu transformieren. Und dann müsste ich anschließend schnell hinzufügen, dass es darum vermutlich auch gar nicht gehen müsste. Um was es indes gehen müsste: ich bin traurig und ich vermisse ihn. Und darüber, dass wir unseren Freunden öfter sagen müssen, dass sie wichtig sind. Weil wir das irgendwann nicht mehr sagen können. Und weil sie es irgendwann nicht mehr hören werden. 



-Corpus-

"Jetzt....warum sag ich Ihnen das, ja?! Ich meine....was soll das?" (Gerhard Polt)

Der Grund für diese extralange Rückblende: ich muss wohl gestehen, dass mir das Ende von Sun Never Sets immer ein bisschen ungemütlich im Nacken saß und vielleicht sogar immer noch sitzt. So richtig einfach war die Dynamik in dieser Band nie auszuhalten, aber das verbindende Element war immer das gemeinsame Verständnis über die Musik, das Auftreten, die Ästhetik, den Kontext. Und daraus entspann sich die Freundschaft mit diesen Menschen, die andererseits alle in ihren eigenen Erlebniswelten und Realitäten lebten. Ähnlich wie bei Blank When Zero gab es sowas wie den definierenden Rahmen, in dem man sich bewegte, eine gemeinsame Interpretation, ein Selbstverständnis, auf das man sich über die Jahre einigen konnte. Und das auch immer wieder neu verhandelbar war, wenn es denn angebracht war. Ich hatte ähnliches in einem früheren Text über Blank When Zero schonmal geschrieben - zu Beginn der Band sagten wir einmal, dass wir uns umgehend auflösen werden, wenn wir mal einen 4/4 Punk-Schunkler schreiben und damit zufrieden sind. Und dabei geht es gar nicht darum, ob wir das denn tatsächlich jemals tun würden, und ob das nur halbjugendliches Getöse war, über das wir alle auch mal lachen konnten, aber damit war eine symbolische Grenze in den Boden gehauen, auf die wir uns einigen konnten. So intensiv soll es sein, so intensiv wird's gemacht. So verstehen wir das, was wir hier mit dieser Band machen möchten. Bei Sun Never Sets war das ähnlich, wenn auch weitgehend unausgesprochen. Aber das wichtige Element war: so fühlten wir die Musik, so fühlten wir uns. 

Im Grunde ist das ein kleines Wunder, solche Mitstreiter zu finden. Zumal, musikalisch ergänzten sich Blank When Zero und Sun Never Sets in meiner Lebensrealität und mehr noch: es gab Schnittmengen. Erstere stehen für die rohe Kraft, die Geschwindigkeit, das Entfesselte, das Politische, das Kompromisslose, während ich bei Sun Never Sets die Gelegenheit hatte, dem emotionalen Überhangmandat Zucker zu geben, der Melancholie, der Dunkelheit, dem Künstlerischen, vielleicht auch der Abgrenzung. Hier kam das Kind der 1990er Jahre zum Zug, nicht zuletzt aus musikalischer Perspektive. Als hätte man die Essenz aus meiner allerliebsten Metalband Voivod mit der ungeheuren Wucht der Kompromisslosigkeit von Bands wie Soundgarden, Nirvana oder Pearl Jam in meiner Adoleszenz verbunden. Das ist mein Haus. 

Und nachdem das Licht bei Sun Never Sets ausgeknipst wurde, stand zumindest dieses Haus einsam und verlassen auf dem weiten Feld herum. Und wenn mir das allzu triviale Bild nun erlaubt ist: über die Jahre zerfiel es in eine Ruine. Das Fundament bekam Risse. Es bröckelte. Die Fensterscheiben gingen zu Bruch, das Dach wurde undicht. Es wurde kalt. Vielleicht ein bisschen schimmlig. Drum herum holte sich der Alltag aus verzehrender Lohnarbeit und Überforderung alles zurück. Das Unkraut wucherte. Und irgendwann war von dem Haus fast nichts mehr zu sehen. Ich konnte es noch fühlen, aber eigentlich war das nicht mehr als ein Phantomschmerz. 

---

Ich lernte Christoph zu Beginn der 1990er Jahre über gemeinsame Freunde kennen und wir waren über die kommenden Jahre trotz einiger nennen wir es mal: zwischenmenschlicher Stromschnellen beinahe unzertrennlich. Und wie es dann gar nicht so selten passiert, verlor man sich später bis auf wenige Situationen, die ich an einer Hand abzählen könnte, fast vollständig aus den Augen. Bis mich in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 plötzlich eine WhatsApp Nachricht erreichte. Seine Band Demon Cleaner suche nach einem neuen Sänger und vielleicht hätte ich ja Lust, mir das mal anzuhören. 

Natürlich hatte ich Lust.

Aber ich hatte fast noch mehr Zweifel. Denn mein Haus war - siehe oben - alt, rostig und durchlöchert, die Lohnarbeit wurde praktisch mit jedem Tag gefräßiger, energieraubender, unaushaltbarer und nahm mich locker 10 bis 11 Stunden täglich in Beschlag, ich hatte außerdem Blank When Zero als Band am Laufen, und es ging hier niemals um ein "oder", sondern immer um ein "und". Darüber hinaus gibt es da auch noch die Herzallerliebste, die so oder so schon unter meinen bizarren Arbeitszeiten litt, unseren Hund, den Blog, die Schallplatten - und irgendwann muss ja auch nochmal das reale Haus saubergemacht werden. Kann ich mich wirklich darauf einlassen? Es gibt da doch sicher Erwartungshaltungen, und zwar von allen Seiten. Was ist, wenn ich da irgendwen enttäusche, weil ich das alles nicht schaffe? Ich muss singen, texten, proben, reden, vermitteln. Uff. UFF!


Zumal: Demon Cleaner waren musikalisch durchaus speziell. War die Musik ein tiefergelegter, in Teilen recht stoisch groovender Stonersound, wurde die Gesangsabteilung sehr unüblich mit einem Death Metal-Sänger besetzt. Das war ohne Frage originell, aber nicht wirklich meine Tasse Tee. Und: sie hatten sich über die Jahre ein kleines Following erspielt, das vor allem live die Extrovertiertheit und Unbekümmertheit in ihrer Musik zu schätzen wusste. Davon konnte ich mir selbst ein Bild machen, als ich sie mal auf der Bühne sah, denn die Stimmung war bombig. Und obwohl ich keinen Bezug zu ihrer Musik aufbauen konnte, fühlte ich mich bestens unterhalten, nicht zuletzt, weil im Duden neben dem Rubrum "Rampensau" ein Bild von Sänger Olli eingeklebt ist. But here's the thing: ich bin nichts von all dem. Nicht mal annährend Death Metal, nicht extrovertiert, nicht unbekümmert, meine Stimmung ist praktisch nie bombig und unterhalten kann ich mich am besten mit mir selbst. Die schmeißen doch alle mit in Pisse getränkten Klopapierrollen, wenn ich mich da als Nachfolger hinstelle?! 


Um zumindest jenes Fazit vorwegzunehmen, wurde ich bislang von derlei Ferkeleien seitens der alten Fangemeinde verschont. In diesem Zusammenhang ist damit auch klar, dass wir - long story short - alle weiter oben ausgerollten Zweifel zur Seite wischten und es also miteinander versuchten. Ein kurzer Faktencheck im WhatsApp-Chat nach dem ersten Aufeinandertreffen erinnert mich daran, die Atmosphäre als "sehr herzlich" empfunden zu haben und tatsächlich bin ich bis heute davon überrascht, wie Christoph, Basti und Christian praktisch ungefragt sämtliche Türen sperrangelweit öffneten, um mir den Raum zu geben, den ich benötigte, um mich gut zu fühlen. Um offen zu sprechen: ich bin mir nicht sicher, ob ich jederzeit so großzügig gewesen wäre. Denn Sängerwechsel sind immer kritisch für jede Band (huch, ein seltener Fall von Endgültigkeit auf diesem Blog, aber hier erscheint sie angemessen), selbst dann, wenn die stilistischen Unterschiede kleiner ausfallen, als es in unserer konkreten Situation der Fall war. Sänger*innen sind stets die Achillesverse einer jeden Band. Sie stehen im unmittelbaren Fokus, sie prägen im besten wie im schlimmsten Fall das interne und externe Stilgefühl der Gruppe, und ihre "Instrumente" sind grundsätzlich viel anfälliger dafür, an den traditionell eher volatil ausgerichteten Rezeptoren der Hörerschaft stumpf abzuprallen. Wenn die Stimme keine Verbindung mit dem Hörer aufbauen kann, aus welchen Gründen auch immer, ist der Ofen meistens ziemlich schnell aus. Niemand wird jemals sagen "Das ist eine tolle Band, ein tolles Album und ein alles überragender Song, aber wie der Bassist dieses Cis spielt/der Gitarrist die Saiten aufzieht/der Schlagzeuger die HiHat anschlägt ist unerträglich für mich, ich werde das nie wieder hören, bah!" - Im Gegensatz dazu ist die Zahl jener Bands, die ich wegen der Stimme schlicht unhörbar finde, geradezu Legion. Und niemanden trifft dafür irgendeine Schuld. Es ist bisweilen ein bisschen furchteinflößend, wie zufällig die Grenze zwischen Anziehung und Abstoßung gezogen werden kann. 


Jedenfalls: die drei Herren mussten sich nicht übergeben, als sie meine Stimme hören mussten - was umso überraschender ist, wenn man in Betracht zieht, wie eingerostet meine Stimmbänder im ersten Jahr waren. Das eigentliche Geschenk daran ist indes: sie waren offen. Und ich kann nicht genug dankbar dafür sein. Das ist alles andere als selbstverständlich. 



-Epilog-

Denn was am Ende dabei herauskam, und jetzt biege ich endlich allmählich in die Zielgerade ein, ist erstens: ein Wechsel des Bandnames zu Infinity Machine und zweitens: eine ganz wunderbare 4-Track EP namens "The Lighthouse". Im Mai 2024 rollten wir unseren Krempel - und hier schließt sich der erste Kreis - in das Bazement Studio von Markus Teske. Wolfgang sagte mal, ihm sei völlig egal, ob er in einem anderen Studio mit einem anderen Produzenten vielleicht irgendwas Besseres bekommen könnte, weil er IMMER zu Markus gehen würde. Es sei ihm auch "scheißegal, wie viel das kostet. Ich bezahl das. Markus ist der Beste." Und je älter ich werde, desto mehr liebe ich diesen Typen: zu jeder Zeit Chef im Ring mit klarer Vision, schreiend komisch, empathisch, unterstützend, warm. Es ist einfach unglaublich angenehm und unkompliziert, mit Markus zu arbeiten. Die Platte wurde in vier Tagen aufgenommen und an zwei Tagen gemischt und gemastert und was soll ich Dir sagen?! Sie klingt toll. 

Der zweite Kreis schließt sich ganz persönlich mit der Renovierung meines Hauses. Ich bin wieder eingezogen und habe ein bisschen Ordnung gemacht: meine Stimme ist besser als jemals zuvor. Zugegeben, das hat lange gedauert und es war harte Arbeit, die so schnell auch nicht enden wird, aber ich finde fast keine Worte dafür, wie sehr sich die Antrengungen gelohnt haben. In diesem Zusammenhang: shout out an Judy Fine, eine Gesangslehrerin aus den USA, deren Trainingsprogramm einen großen Anteil daran hatte, überhaupt zu verstehen, was notwendig ist. Das klingt sehr grundsätzlich, aber da kann man mal sehen, aus welcher Grundsätzlichkeit ich kam. 

Hinzu kommt, dass ich selten zufriedener mit meinen Texten war. Es fällt mir schwerer als früher, die richtigen Worte zu finden, aber wenn sie mal da sind, habe ich den Eindruck, sie sind so nahe bei mir wie nie zuvor. Ich muss weiterhin anerkennen, dass sie sich mehrheitlich noch immer sehr kryptisch lesen mögen, aber es ist ähnlich wie mit den Texten auf diesem Blog: ich werde niemanden zur tieferen Auseinandersetzung zwingen. Ich glaube allerdings auch, dass sie auf mehreren Ebenen funktionieren - und sei es "nur" im Transport einer Stimmung, einer Atmosphäre, einer Idee. Das kann und muss manchmal völlig ausreichen. 


Zuletzt noch der Hinweis, dass wir "The Lighthouse" auf Bandcamp zum Download hochgeladen und mittlerweile sogar ein sehr limitiertes Angebot von ausnehmend hübschen DIY-Tapes haben. Enjoy!






Vielen Dank fürs Zuhören, fürs Lesen, fürs Beiseitestehen, für die Begeisterung, für die Möglichkeiten. 


It's all quite a ride, isn't it?!



17.11.2024

"Da lässt sich noch einer Zeit für Bilder."




FLOATING POINTS, PHAROAH SANDERS 
& THE LONDON SYMPHONY ORCHESTRA - PROMISES


"You have to protect people from incompetent people" (Robert Sapolsky)


DAS Hipsteralbum des Jahres 2021. und zugleich: DAS vereinende Musikalbum des Jahres 2021. 

In Zeiten, in denen vornehmlich die Boomergeneration nur zu oft und - Distinktionsgewinn olé: zu gerne - den Abgesang auf die wahre, echte, schöne alte Musikwelt anstimmt, also die wahre, echte, schöne Auseinandersetzung mit wahrer, echter, schöner Musik in endlosen Kopfhörersessions im wahren, echten, schönen Ohrensessel, bei einer guten Flasche Eigenurin und einem guten Stück Haifischknorpel, weil die nachfolgenden Generationen alles, aber auch wirklich ALLES anders und damit, logo: schlechter machen als es die alten "Furzknoten" (Lagerfeld) es vor circa einer Billion Jahren taten, und das fragile Ego damit nun wirklich überhaupt nicht umgehen kann, produziert die Elektronik-Zaubermaus Sam Shepherd aka Floating Points mit dem Saxofonisten Pharoah Sanders wie es scheint mit links eine Jazz-, Ambient- und Klassik-Platte, deren Ankunft von Menschen jeder Altersgruppe wie der neue Heiland gefeiert wurde - und weiterhin wird. Selbst wenn jene Menschen mit Jazz, Ambient und Klassik zuvor soviel an der Frisur hatten wie H.P.Baxxter mit Atomphysik, Körperhygiene und Frauenrechten.

Über insgesamt neun sogenannte Movements spannt das Duo im Grunde ein einziges Motiv; das ist die Lebensader von "Promises". Und sowohl Sanders, als auch im weiteren Verlauf das London Symphony Orchestra, bleiben über die gesamte Spielzeit in ihrer Nähe, oszillieren, treiben, schweben, drehen und winden sich mit dieser kleinen, so unscheinbar wirkenden Welle aus gerade mal acht Tönen in ein minutenlang aufgeschichtetes Crescendo und sacken gemeinsam wieder ins nächste Diminuendo ab, bis die Intensität schnurstracks auf die Kernschmelze zukriecht. 

Und wenn der Mythos tatsächlich stimmen sollte, dass heute also wirklich niemand mehr so richtig zuhört oder zuhören kann, weil die Aufmerksamkeitsspanne so gering und der Druck so mächtig sind, dann ist's vermutlich genau das: ein Mythos. Denn - Achtung, der Ohrensessel naht - im Prinzip kommt hier nur so richtig dahinter, wer sich auf "Promises" mit Haut und Haaren einlässt. Den Bewegungen folgt. Sich treiben lässt. Die Kontrolle verliert. Und langsam....ganz langsam...in Richtung Ausgang schwebt. 

Angesichts des Erfolgs dieses Projekts, schweben vielleicht mehr im ergiebig-positiven Kontrollverlust umher, als das Narrativ der im Ausnahmezustand delirierenden Generation uns Glauben machen will. 

Was ich sagen will: Hoffnung für Alle. 

     

Vinyl: Die Erstpressung war sehr schnell ausverkauft, und weil davon irgendwie so ziemlich alle überrascht waren, dauerte es fast ein halbes Jahr, bis die nächste Edition in die Läden kam. Hübsches die-cut Cover, 12"-Inlay, schwarzes Vinyl. Es gibt viele gemischte Reaktionen zur Pressqualität, von "totalem Schrott" bis hin zur "bestklingenden Platte aller Zeiten" ist alles dabei, und ich möchte mich mit meinem Exemplar etwa in der Mitte platzieren. Ich bereue den Kauf natürlich nicht, aber "spektakulär" geht eventuell ein bisschen anders.


            


Erschienen auf Luaka Bop, 2021. 

11.08.2024

Keno & Tristan De Liege - Transatlantyk




KENO & TRISTAN DE LIEGE - TRANSATLANTYK


"I have one question and then I have to go." (Larry David)



Fucking hell, wie oft wollte ich schon etwas über diese Platte schreiben? I'm the overlord of the procrastination army. 

Ich lernte die Musik von David Hanke's Downbeat-Flagschiff Keno bereits im Jahr 2018 kennen, damals mit dem Debut "Around The Corner". In meinem damaligen Post auf Instagram schrieb ich:



"Instrumental downbeat and lush electronica from David Hanke. Somewhere between Thievery Corporation, De-Phazz and Bonobo. Beautiful pressing made by Pallas on 140g vinyl. Alina says it makes you yearn for summer - but it also works well at the very beginning of spring with your first cup of coffee on a Sunday morning"


Mittlerweile ist es August 2024, wir stehen knietief im Sommer - und seit einigen Wochen trägt mich "Transatlantyk", bereits im Oktober 2020 veröffentlicht, wie bestellt durch den sonntäglichen Kladderadatsch aus Hausarbeit, gechilltem Durchatmen und der kleinen Angststörung in unserer Straße. Nach "Around The Corner" - immer noch eine wirklich tolle Platte - verlor ich David aber aus den Augen und den Ohren. Erst Anfang 2023 stieß ich über einige bizarre Umwege und wahrscheinlich auch mit einer großen Portion Zufall auf einen Kommentar auf Discogs, dem Epizentrum der prätentiösen Pissnelken aus Schallplattenhausen. User TobiTobsucht schreibt:

"If you like early 2000s relaxed downtempo tracks like from Bonobo or Blockhead, then you have to listen to this little secret."

Und ich erinnerte mich. An Keno, an "Around The Corner" und an den Frühling. "Transatlantyk" musste also mein neuer Mitbewohner werden. Ich werde ja auch stets magisch von Platten angezogen, die niemand auf dem Schirm hat. Die unter aller Radar existieren, die keine Aufmerksamkeit bekamen, die schlicht in dem schier endlosen Meer aus Musik und Geräusch untergingen. Die dem ubiquitären Geplärre von untalentierten, von Marketingagenturen durchgestylten und von Businessmanagern hochgejazzten, von wirtschaftlich abhängigen und dem Großkapital hoffnungslos ergebenen "Redaktionen" auf Spotify, Deezer, Apple Music und wie der ganze verschissene Haufen aus den Arschritzen von Daniel Ek und Steve Jobs noch so heißen mag, hochgepushten Schreihälsen nichts entgegenzusetzen hatten - und die das nicht verdienten. Ich möchte offen sprechen: Wir suchen doch alle diese Platten. Wir suchen doch nach all dem, was nicht sowieso schon überall an jeder Straßenecke rumliegt. Wir suchen nach den Underdogs. Etwas, das außerhalb der Money-Bubble einen Wert hat, eine Verbindung aufbaut, was uns berührt. Was zu uns gehört. "Transatlantyk" ist eine dieser Platten. Die muss gehört werden.

Auf das Gerüst aus eleganten Downbeat-, Future Jazz-, und Hip Hop-Elementen, die den unwiderstehlichen Groove im Layer 1 ausrollen, ihn so leichtfüßig, so erfinderisch, so durchlässig machen, setzen David Hanke (Lübeck) und Tristan De Liege (Los Angeles) melodische Leuchtfeuer in die Architektur, die Melancholie, Sehnsucht, Fernweh und Introspektion an die Wände tapezieren. Emotionale Verdichtung im Sepiafilter seinerseits, andererseits der schwungvolle, klare Verve im Beat- und Groove-Unterholz. Vor allem die C-Seite mit dem leidenschaftlichen "Nikosi" und dem durch alle Aggregatzustände gleitenden Titeltrack, der mir zusätzlich und wie von Geisterhand Nuancen ins dritte Auge hämmert, die ich als "maritim" beschreiben könnte, wenn nicht müsste. Ich weiß nicht, wo's herkommt - aber es ist da. 

Dazu öffnet die französische Sängerin Élodie Rama bei drei Songs zusätzliche Ebenen der Ansprache. Auf "Speak The Language", "Dancing In The Dark" und "To Find A Way" schummelt sie einen verführerischen Pop-Appeal in den Sound, der an die großen Namen des Geschäfts (sic!), wie Morcheeba oder Bonobo denken lässt. 

"Transatlantyk" ist ein vielschichtig und elegant inszeniertes Album, das viel, viel mehr Zuhörer verdient hat. Am besten zu genießen, wenn sich das "unvergessene" (Schmidt) Motto des "unvergessenen" (Schmidt) Harald Juhnke über einen ruhigen, gemächlich vor sich hin dampfenden Sonntag legt:

"Keine Termine und leicht einen sitzen." 

Light em up!





P.S.1: Keno heißt mittlerweile Lehto. Hier geht's zur Bandcamp-Seite.

P.S.2: Auf Bandcamp gibt es das "Transatlantyk"-Doppelvinyl im Bundle mit der Vinylfassung der ebenfalls prächtigen Remix-Sammlung "Out Past The Current" (ebenfalls eine Doppel-LP) für gerade mal 45 Euro direkt vom Scheff persönlich



Erschienen auf Bathurst, 2020. 


19.05.2023

Best Of 2022 ° Platz 3: Lav - A New Landscape


LAV - A NEW LANDSCAPE


Ein Album wie ein Mikrokosmos. 

Der schwedische Produzent Lav aka Christopher Landin ist auf diesem Blog bereits mehrfach mit überschwänglichem Lob bedacht worden. Das liegt vor allem an "A State Of Becoming", das mit Beteiligung von Purl aka Ludvig Cimbrelius entstandene Meisterwerk aus dem Jahr 2017, das in meinem Buch zu den drei besten Ambient-Alben aller Zeiten zählt. Nach einigen weiteren Veröffentlichungen auf so illustren Labels wie Dewtone, deren Homepage-Radio ich nur allerwärmstens empfehlen kann, Amone Recordings und natürlich A Strangely Isolated Place (das eigene 9128-Radio ist ebenfalls überaus lohnenswert), ist "A New Landscape" Lavs zweites vollständiges Album - und das erste ohne eine erweiterte Zusammenarbeit mit anderen Musikern. 

Lav lebt mit seiner Familie auf der schwedischen Insel Gullholma und betreibt dort autarken okölogischen Landbau, über den er regelmäßig mittels Videoaufnahmen berichtet - jedenfalls glaube ich das, denn ich verstehe kein Wort: meine Kenntnisse über die schwedische Sprache sind überaus übersichtlich ausgebildet. Er könnte somit auch über Kartoffeldruck und Atomphysik sprechen, aber weil öfter Zucchinis als Brennstäbe im Bild zu sehen sind, gehe ich von Gemüseanbau aus. Darüber hinaus scheint ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Interesse für Pilze zu bestehen. Das Coverartwork von "A New Landscape" zeigt beispielsweise den Schleimpilz Badhamia utricularis, der in seiner Lebensweise Eigenschaften von Tieren und Pilzen gleichermaßen vereint, biologisch aber zu keiner der beiden Gruppen gehört. Das Foto wurde von Lav nur einige Gehminuten von seinem Haus entfernt gemacht. 

In diesem Zusammenhang erscheint es klug, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen:

"To me this album is about perception. Every day we pass over them, without seeing. Fungi, slime molds and other small beings issue an invitation to dwell for a time right at the limit of our ordinary perception. All it requires of us, is attentiveness. Look in a certain way and a whole new landscape can be revealed."


"A New Landscape" ist Natur. Ein kalter, feuchter Waldboden. Die Baumrinde jahrhundertealter Tannen. Der Blick über sich im Wind schaukelnde Baumwipfel. Das Panorama aufs offene Meer. Der Geschmack von Gebirgsluft. Die Sonne auf der Haut. Lavs organischer Ambient Techno, mal technisch nach vorne treibend wie in "Under The Microspope", mal rhythmisch verschachtelt und mehrdimensional wie in "Collaborative Survival", mal ohne jeden Beat und mit gröberer Auflösung operierend in "Below The Forest Floor", fordert und fördert Vergegenwärtigung, Empathie und Demut. 

Das gelingt einerseits durch die Musik, also über den reinen Klang mit viel Atmosphäre und tief versunkenen Flächensounds und andererseits mittels der Bilder und Stimmungen, die auf der Reise ein- und ausgeblendet werden - es fühlt sich manchmal so an, als würde man mit dem Elektronenmikroskop in die Vergangenheit reisen und dem Leben beim Entstehen in Zeitlupe zuschauen. Oder wie mit beiden Händen in Mutterboden zu stecken und eine spirituelle Verbindung aus einer anderen Galaxie gechannelt zu bekommen. Die Auseinandersetzung mit dieser Musik entwickelt das ganz natürliche Bewusstsein, sich mit spielerischer Faszination diesen verborgenen Welten zu nähern, sie als Realität für andere Lebewesen wahrzunehmen und den eigenen Platz in dieser Welt zu erkennen, aufmerksam und -gerichtet zu sein. Die andauernde Lärmbelästigung, die Diarrhoe der Sensation, des Tumults, das ständige Bombardement der Empörung - "'s ist doch wurscht." (Schmidt) - braucht einen Krampflöser. Es wird Jahre brauchen, den Dreck aus unseren Systemen zu spülen. 

Das braucht Ursprung. Nullpunkt. Reset. 


Vinyl: Das stimmungsvolle Cover-Artwork ist eine Sensation und zusammen mit dem Vinyl in *checks notes* Marigold zum Dahinschmelzen schön. Ungefütterte Innenhülle, Bandcamp-Downloadcode. Die Pressung ist nicht perfekt, aber ordentlich. (++++)


 


Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.





29.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 6: Joachim Spieth - Terrain




JOACHIM SPIETH - TERRAIN



Schuldgefühle. Das Auslassen meiner Jahresbestenliste für das Jahr 2021 ließ einige Platten im Regen stehen, die eine detaillierte Aufarbeitung wirklich verdient gehabt hätten. Es gäbe so viel nachzuholen. Das Problem: es fehlen Energie, Kraft und Zeit. Dabei waren die Titel und ihre Platzierungen schon fertig ausgearbeitet, ausgeknobelt und unter den üblichen starken Schmerzen versiegelt. Daher weiß ich auch immer noch, dass "Ousia", das vierte Album des Produzenten und Labelgründers von Affin Joachim Spieth, meine Nummer 1 gewesen wäre. Ich habe im Jahr 2021 vermutlich keine andere Platte so oft gehört wie "Ousia", ein von aquatischen Motiven durchzogenes Album, das eine warme Klangwelle nach der anderen über den Körper spült und den Geist immer weiter in einen unendlich erscheinenden Raum entlässt. Es ist ein Erlebnis, mit "Ousia" auf Reisen zu gehen. Sollte das bis hierhin noch nicht klar geworden sein, möchte ich explizit eine Kaufempfehlung für dieses kleine Wunderwerk aussprechen. 

Nun sind wir im Jahr 2022 und ich bin hocherfreut, endlich über den Nachfolger "Terrain" schreiben zu dürfen. "Terrain" erschien Ende Oktober des letzten Jahres und fiel damit genau in jene Zeit, in der sich der Gesundheitszustand unseres Hunds Fabbi immer weiter verschlechterte, und ich für eine Weile praktisch aufhörte, Musik zu hören. Ich war emotional so ausgelaugt, so stumpf und leer, dass Stille das einzige zu sein schien, womit ich noch halbwegs umgehen konnte. Die Auseinandersetzung mit "Terrain" begann also mit einiger Verzögerung, aber es war in vielen Bereichen das Rettungsseil, mit dessen Hilfe ich mich aus diesem Loch wieder befreien konnte. Das ist auf den ersten Blick nicht selbstverständlich, denn viel Licht ist hier nicht zu finden. Ich sage das, weil ich allzu Abgründigem, Dunklem, Kaltem bekanntermaßen mit einiger Skepsis begegne und es mir oft nicht leicht fällt, einen Zugang zu solchen Sounds zu finden; noch herausfordernder wird es, wenn ich selbst seelisch angeknackst bin. 

Was die Beschäftigung mit "Terrain" indes so lohnenswert macht, ist die Wahrnehmung des Raums, den es kreiert und die Gegensätze, die aus unterschiedlichen Perspektiven entstehen. Wo "Ousia" den Lebensmittelpunkt in flüssigem, bewegten Wasser fand, empfinde ich "Terrain" als erdig, zerklüftet und verwittert. In der Großaufnahme wirkt es, als würden Kontinentalplatten sich im Zeitraffer grob übereinanderschieben und sich verkanten, ausgelöst und angetrieben von einem sonoren, mächtigen Bassdröhnen, der sich wie ein endlos ausklingender Pulsschlag in der Erdatmosphäre ausbreitet. Ein bedrohliches Szenario, weil jeder Versuch der Kontrolle unter gigantischen Massiven bedeckt wird. Das Makro-Panorama, das "Terrain" in der Folge auffächert, löst diese Gefahr wieder auf und lässt im Kontext mit dieser unnachgiebigen Kraft eher ein Gefühl der Ergebenheit entstehen und entschlüsselt damit auch den nächsten Raum dieses Albums: Die Vertiefung.

"Terrain" entwickelt einen erheblichen Sog ins Innere, bis in die winzigsten Verästelungen von Raum und Zeit. Es durchdringt Materie und öffnet die Brennweite bis in unterste Schichten, vergrößert Strukturen und macht sie sichtbar. Insofern trügt der erwähnte erste Eindruck, hier sei kein Licht. Wir erleben eher ein Wechselspiel der Blickwinkel und der sich daraus ergebenen Gegensätze von Licht und Schatten. Je tiefer und kraftvoller uns die Strömung mitreißt, desto deutlicher - und heller - wird das Terrain in uns. 


Vinyl: Das beeindruckende Coverartwork von Markus Guentner unterstützt den "erdigen" Charakter von "Terrain" perfekt. Ungefütterte Innenhülle, kein Bandcamp Downloadcode. Die Pressung ist einwandfrei. (++++)

 


Erschienen auf Affin Records, 2022. 

23.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 7: Pablo Bolivar & Sensual Physics - Details Am Rande




PABLO BOLIVAR & SENSUAL PHYSICS - DETAILS AM RANDE


Das zweite Album aus dem Hause Seven Villas Music in meiner Bestenliste des Jahres 2022 kommt immerhin zur Hälfte vom Chef persönlich. Pablo Bolivar betreibt das Label in der Region Kantabrien an der Nordküste Spaniens und veröffentlicht mit beeindruckender Stilsicherheit elektronische Musik im Spannungsfeld zwischen Deep House, Ambient und Dubtechno - mal schmissiger, mal mehr laid back, aber der Vibe spannt sich über alle Veröffentlichungen von Seven Villas: warm, maritim, organisch, elegisch. 

Eine Beschreibung über Pablos Zusammenarbeit mit Sensual Physics (aka Jörg Schuster; u.a. bekannt als LUFTH und Digitalverein) auf "Details Am Rande" könnte an dieser Stelle bereits in die Zielgerade einbiegen, denn mit "warm, maritim, organisch, elegisch" wäre im Prinzip alles gesagt. Und wenn solche elektronischen Sounds auch Dein mesolimbisches System fröhlich und quietschvergnügt mit Dopamin fluten, könnte die Lektüre ebenfalls hier und jetzt abgebrochen werden, damit der Mailorder Deines Vertrauens mit dem Verpacken beginnen kann, und die Post möglichst schnell zwei Mal klingelt. Manchmal ist es wirklich so einfach. "Details Am Rande" klingt genau so. 

Die Synthie-Melodie-Pads watteweich und seidenfein, die trippigen Dub-Flächen erzeugen Raum und Tiefe und Umspielen die verästelten perkussiven Elemente spielerisch und zärtlich, der Sound ist lückenlos gefüllt mit Sonne und schwüler Hitze. Es riecht nach Orangenblüten aus Valencia und die Brise, die vom Atlantik herüberströmt, befreit Seele, Herz und Geist endgültig von jeder auch nur entfernt gräulich-schimmernden Wolke. Atmosphärisch bewegen wir uns eher in the heat of the night, aber mein über Wochen sorgfältig austariertes Testszenario ergab, dass auch das Hineingleiten in einen neuen Tag mit Morgenlatte und dazu gehörendem -kaffee bedeutend erträglicher, um nicht zu sagen: lustvoller, wird, dreht sich "Details Am Rande" auf dem Plattenteller.

Wer es nicht ganz so gut mit mir meint und außerdem mit eintätowiertem Binärcode durchs Leben geht, also zwischen Nullen und Einsen keinerlei Differenzierung und Abstufung existieren, könnte jetzt meine oftmals geäußerte Abneigung gegenüber als zu glatt und steril empfundener Musik ins Spiel bringen. Der Kniff von "Details Am Rande" liegt aber genau in dieser vermeintlichen Sorgenfalte: diese Musik pulsiert, atmet, tanzt, sie ist verführerisch, sexy und einnehmend. Ihr Substrat ist Expansion. Es ist vielleicht nicht zwingend im Erstkontakt zu begreifen, aber das Album nimmt seit Monaten jeden Lebenswinkel in Beschlag. Die Welt ist ein bisschen besser, wenn "Details Am Rande" im Dämmerlicht seine Kreise zieht. 


Vinyl: die Pressung der Doppel-LP auf schwarzem Vinyl ist fehlerfrei, das wunderbare Cover-Artwork spiegelt die Atmosphäre der gesamten Produktion wider. Leider kein Bandcamp-Downloadcode inklusive, dafür aber bereits direkt vom Label mit 40 Euro (plus Versand aus Spanien) unangenehm - ich bin versucht "unangemessen" zu schreiben - teuer. Andererseits klemmt man sich einfach den nächsten lieblos hingerotzten Universal-Majordreck für 50 Euro und schmeißt die Kohle lieber in Richtung der echten Basis. Das Album gehört auf Vinyl gehört. Klingt nach prätentiösem Scheißdreck aus der Redaktionsstube der MINT, aber ich kann das jetzt auch nicht ändern. Your call!


 



Erschienen auf Seven Villas Music, 2022.

13.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 9: Cool Maritime - Big Earth Energy



COOL MARITME - BIG EARTH ENERGY

Das Cover kam, ich sah, und alle siegten. Ich musste nicht mal vorab in "Big Earth Energy" reinhören.

Beziehungsweise eben doch, aber - ich schwör's! - nur ganz knappe dreikommavier Sekunden und eigentlich auch nur, um sicherzustellen, nicht mit Reggae, Schrebergartenmetal oder tätowierten Karohemden-"Punk" für Bausparer zunächst über- und dann unterrascht zu werden. Über die Stilfrage hinaus musste ich mir indes keine Sorgen machen. Und ich kann meinen Leser*innen versichern, dass auch über ihren Köpfen nur die rosaroteste Wolke schweben wird, wenn diese Platte sich auf dem Plattenteller dreht. 
 
Vielleicht ist die Wolke aber auch eher grünlich (pun intended) anstatt rosarot, denn "Big Earth Energy" ist...grün. Von oben nach unten, rechts nach links, Westen nach Osten, Norden nach Süden: grün. Es klingt grün, es riecht grün, es schmeckt grün, es fühlt sich grün an. Es ist grün. Was es außerdem ist: voller Leben, voller Wärme, voller Wunder, voller Kraft und voller Bilder. 

Wir tauchen ein in einen tiefen, dichten, unberührten Urwald. Regenzeit. Über den Baumkronen räkeln sich Dunstfelder und wirken in den diffusen Sonnenstrahlen wie eine funkelnde Aura, eine Schutzschicht. Darunter tobt Leben, tausendfach, millionenfach. Eine Reizüberflutung aus Reflexen, Bewegungen, Intuitionen, Fluchtpunkten. Zur gleichen Zeit findet man in diesem tosenden Wirbel zur eigenen Mitte, spürt die Atmung, den Puls, den Herzschlag. Spürt den Boden unter den Füßen. Setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen, und entwickelt mit jedem Schritt diese fremde, mystische Welt von Neuem. Das Erleben ist unmittelbar. 

Der Kalifornier Sean Hellfritsch hat mit "Big Earth Energy" die vergegenwärtigendste Musik der letzten Jahre erfunden. Zwischen New Age und progressiver elektronischer Musik der 1980er Jahre tänzeln warme, perlende Synthie-Arpeggios wie Glühwürmchen durch die Nacht und setzen mit den lebhaften perkussiven Elementen kristalline Akzente voller Verve und Seligkeit. Darüber breitet sich ein Vibe aus, der mit melancholisch nur unzureichend beschrieben ist - es ist eher ein Innehalten, die Wahrnehmung von Zwischentönen, ein Aufsaugen, eine Verdichtung der Existenz. Eine Art universeller "What a time to be alive!"-Moment zwischen Euphorie, Demut, Empathie und Pathos. 

Das Universum sind wir. 



Vinyl: Obwohl bei der Pressung offenbar GZ Media die Griffel im Spiel hatte, ist meine grüne Vinylversion tadellos. Das Cover-Artwork, ganz besonders in Verknüpfung mit der grünen Schallplatte gehört zum Schönsten, was ich seit "A State Of Becoming" von Lav und Purl gesehen habe. Bekommt einen Ehrenplatz in der Sammlung. Gebe ich nie wieder her. (+++++)


 


Erschienen auf Western Vinyl, 2022.

08.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 11: Felix Laband - The Soft White Hand




FELIX LABAND - THE SOFT WHITE HAND


Ich habe gelernt, dass "cringe" Jugendsprache ist, und da sich sowohl Körper als auch Geist von Yours Truly nicht nach Jugend, sondern eher nach einem seit 100 Jahren in der schimmligen Ecke eines feuchten Kellers in Rodgau-Jügesheim vergessenen Sacks alter Wäsche anfühlen, erlaube ich mir die Verwendung des guten deutschen Schrebergartenworts "PEINLICH", um das zu beschreiben, was gleich kommt: ein Pamphlet! Ein Pamphlet gegen...weiß ich noch nicht. Keine Ahnung. Aber wir machen das jetzt wie alle anderen Vollidioten auch: wir entwickeln das jetzt gemeinsam

Ich habe erwiesenermaßen von praktisch Nichts eine Ahnung. Ich könnte den Kanisterkopp Joe Rogan und seine Selbsteinschätzung zitieren und sagen "I'm just an idiot who occasionally remembers things." und läge damit auch für meinereiner nicht so irre falsch, wenn ich nicht mittlerweile auch immer häufiger alles vergäße...das Alter, das Leben, die Menschen, es ist einfach zum Heulen. Ich habe im Prinzip auch keine Ahnung von elektronischer Musik. Ich mag sie und ich höre sie, aber ich bin ganze Universen von irgendeiner "Szene" entfernt, habe von Geschichte und Entstehungsprozess fast keinen sitzen, bei "Clubkultur" denke ich an den bevorzugten, äh, FKK-Saunaclub oder irgendein Mate-Gesöff, das sich gegeelte Marketingfuzzis ausgedacht haben und, und das Schicksal teilt sie sich mit der guten alten Rockmusik, ich habe ganz oft keinerlei Interesse am alten Kanon, diesem Gewese von "Das MUSS man kennen!!!einself" und "Ohne diese Platte gäbe es keine [hier bitte Band, Genre, Unterhosenmarke einfügen]!". Ich lebe beispielsweise in einem Haushalt, der, und das sage ich durchaus mit einem kleinen Anflug von Stolz, frei von Beatles-, Hendrix-, Dylan- und Beach Boys-Platten ist. Ich kenne auch keine einzige Kraftwerk-LP. Es ist sicherlich nicht über Gebühr originell, den alten Hildebrandt-Spruch über die Fliegen und die Exkremente aus der Mottenkiste zu zerren, auch und vor allem dann nicht, wenn die Nirvana-Sammlung beinahe den kompletten Westflügel meines Anwesens einnimmt, aber ich finde, es ist speziell in solchen Fällen globaler Unterwürfigkeit gegenüber den heiligen Kühen immer vorteilhaft, einen angemessenen Sicherheitsabstand einzuhalten. Lassen Sie es mich auf den einzig gültigen, echten, wahren Punkt bringen: im Prinzip ist alles, was in den Top 50 Listen des Rolling Stone auftaucht, vollumfänglich und aus tiefstem Herzen abzulehnen. 

"Shush! Shush! Listen, I don't care." (Ricky Gervais)

So, und jetzt kommt's: dass da draußen immer noch dieser unsägliche, alte Scheiß gehört wird, aber einer wie Felix Laband, einer der originellsten und kreativsten Durchgeknallten, nur einer überschaubaren Gruppe bekannt zu sein scheint, ist doch ein Treppenwitz?! Und andererseits ist's eben komplett und total glasklar: wer aus der Reihe tanzt, hat keine Chance. "Das war doch schon immer so?!" (Friedrich "Fotzenfritz" Merz)

Laband veröffentlicht seit fast 25 Jahren Musik, seit 2004 gar exklusiv auf dem Münchner Label Compost, und nicht nur ist seine Kunst sehr partikular, auch nimmt er sich immer viel Zeit für ein neues Abum. Seit dem mittlerweile als kleinen Klassiker gehandelten "Dark Days Exit" aus dem Jahr 2004 erschienen bis 2022 gerade mal zwei weitere Werke des Südafrikaners. 

Ich bin hocherfreut zu berichten, dass seine Musik selbst 2022 noch immer so ambivalent, herausfordernd, träumerisch, brütend und von strahlender Ästhetik durchzogen ist wie eh und je. Möglicherweise hat er nach dem manchmal krawalligen und oftmals bedrückenden "Deaf Safari" ein paar Gänge heruntergeschaltet, was sowohl die Verwendung als auch die Inhalte von obskuren und verwirrenden Sprachsamples betrifft (auch wenn sie nach wie vor integraler Bestandteil seines Sounds sind), aber auch "The Soft White Hand" ist so erzählerisch wie visionär wie seine Vorgänger. Laband verbindet Einflüsse aus dem House, Jazz, Ambient, Downtempo und IDM mit der melodischen Aura klassischer Musik und strickt daraus etwas völlig Einzigartiges, eine spleenige Melange aus futuristischer Clubmusik und nostalgischer Poesie, zwischen naiver, unberührter Schönheit und eskalierenden Momenten großer Verletzlichkeit. Sehnsuchtsvolle Spieluhrensounds, die Kindheitserinnerungen wecken und wie ein Wundpflaster für die Verletzungen der Adoleszenz wirken, staubige Beats und jazzige Vibes für die gegenwärtige Introspektion, Reminiszenzen an verdrogte, durchgetanzte Sommernächte, an Abstürze, Momente großer Erregung, Momente des Rausches. Über all dem schweben Labands Werte, seine Gedanken, seine Politik, unausgesprochen und doch stets präsent:

“I have sampled a lot from documentaries from the 80s crack epidemic in impoverished African American communities and believe my work speaks unapologetically for the lost and marginalised, for those who are the forgotten casualties of the war on drugs. In the past, I have had my issues with substance abuse, and I know first-hand about the nightmares and fears, what it feels like to be isolated and abandoned.”


"The Soft White Hand" ist ein Gefühlswesen. 


Vinyl: Die Doppel-LP auf schwarzem Vinyl (hier gibt's keine Extravaganzen) im Gatefold-Cover kommt mit Labands Signature-Collagen Artwork mit Downloadcode, und die Pressung ist vollkommen fehlerfrei. Uneingeschränkte Empfehlung. (+++++) 


 


Erschienen auf Compost Records, 2022. 

01.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 12: Strië & Scanner - Struktura Revisited




STRIE & SCANNER - STRUKTURA REVISITED


Alles auf Anfang. Wir lassen den Plüsch hinter uns, das Seifige, den Weichzeichner. Es wird kalt. Denn Kälte macht wach, sagt man. Wir sind aufmerksam und hochkonzentriert. 

Eintauchen.

Es ist karg und unwirtlich hier. Was sich im Weitwinkel als diffus zerklüftete Struktur darstellt, in großer Ferne und damit beinahe unerreichbar, entwickelt sich beim Blick durch das Elektronenmikroskop plötzlich zu einem komplexen Muster mit diffiziler Mechanik. Selbst der Weg dorthin, also jeder Schritt der Verdichtung und Fokussierung, verändert das Gebilde. Es lebt. Es lebt in den tieferen Schichten, auf molekularer Ebene. Im Land der Riesen ist es gleichbedeutend mit dem Zwielicht, dem Verborgenen und Unbekannten - aber welche Arroganz ist es, dieser usprünglichsten und klarsten Form der Existenz den Zweifel des Obskuren zu verleihen? 

Es ist kathartisch, Teil dieses Nanokosmos zu werden, weil die Vertiefung jeden Raum, jede Zeit und jedes Leben zum Erlischen zwingt. Man spürt, das ist die Stunde Null. Der Autor Roger Willemsen schrieb in seinem Buch "Die Enden der Welt" über ebenjene, dass sie sich anfühlten, als betrachte man die Landschaft nicht frontal, sondern eher über die Rückseite einer Landschaftsstickerei. "Struktura Revisited" vermittelt ein ähnliches Empfinden, nur dass der Blick auf einen winzigen Partikel eines einzelnen Fadens dieser Stickerei fokussiert ist. Das Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, ist allerhöchstens noch zu einer Ahnung geschrumpft - und doch ist die Erfahrung existenziell. Als höre man dem Urknall in Zeitlupe zu.

Olga Wojciechowska veröffentlichte "Struktura" im Jahr 2015 unter ihrem Alias Strië auf dem Label Serein in kleiner Auflage exklusiv auf CD. "Struktura" wurde inspiriert von moderner Malerei des 20.Jahrhunderts; so teilt jeder Track seinen Namen mit einem abstrakten Kunstwerk aus jener Epoche. Strië möchte es dem Hörer erlauben, die Musik frei von jedem begleitenden Narrativ zu erfahren, selbstständig zu entdecken und zu interpretieren. 

"There is pleasure to be found in viewing or hearing something without a definite narrative, allowing the mind to wander and find its own meaning."

Ryan von A Strangely Isolated Place hat für "Stuktura Revisited" nun Strië und Scanner an einen Tisch gebracht. Scanner ist der Alias von Robin Rimbaud, einem Londoner Produzenten und Multimediakünstler, der seit den 1990er Jahren für einige Meilensteine der elektronischen Musik gesorgt hat. Scanner interpretiert "Struktura" für dieses Projekt an einem Stück im Rahmen eines Live-Settings ohne nachträglich hinzugefügte Overdubs. Der Ansatz verleiht seiner Aufnahme einen unmittelbaren Charakter. Nicht nur erlaubt er neue Perspektiven auf "Struktura", in dem er dessen endlos erscheinende Tiefe auffächert und kinematographisch verbreitert - er fügt der ohnehin bereits beträchtlichen Abstraktion des Originals klandestine, bisweilen dystopische Ebenen hinzu. "Struktura Revisited" flechtet mit seiner Exegese damit ein unheilvolleres, zu gleichen Teilen morbideres wie nervöseres Bild. 

Nach der Struktur kommt die Unordnung. 


Vinyl: Neben der Musik von Strie und Scanner ist das atemberaubende Coverartwork des niederländischen Künstlers Rep Ringel eine  fundamentale Komponente des Gesamtwerks. Rep kreierte seine Kunst zunächst auf sehr großen Leinwänden. Im Laufe der Zeit begann er damit, die Bilder für ein Artbook zu fotografieren, das er exklusiv an seine Kunden verteilte, die eines seiner Werke kauften. In diesem Prozess fiel ihm auf, wie viele neue Perspektiven sich eröffnen, wenn er sehr weit in seine Bilder hineinfokussiert. Eines der Ergebnisse sehen wir auf dem Cover von "Struktura Revisited" und ich hoffe inständig, die Parallelen zwischen der Musik und dem Artwork im obigen Text wenigstens in Ansätzen erfolgreich herausgearbeitet zu haben. Die Platten selbst sind in ihrer grau-schwarzen "Halb und Halb"-Optik ein wichtiger Teil des konzeptionellen Designs. Die Pressung meines Exemplars ist trotz der etwas anfälligen Gestaltung einwandfrei. Darüber hinaus, und wie immer bei ASIP: gefütterte Inlays, Bandcamp-Downloadcode, Album-Flyer. (+++++)


 


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022.

11.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 21: Viul & Benoit Pioulard – Konec



VIUL & BENOIT PIOULARD - KONEC

Vor etwa sechs Jahren habe ich mich darauf geeinigt, ab sofort Schallplatten von A Strangely Isolated Place zu sammeln. Möglicherweise war "A State Of Becoming" von Lav und Purl der Auslöser für jene Entscheidung. Nicht nur die Musik erschien außerweltlich, auch das hinreißende Coverartwork und die darauf farblich abgestimmten Schallplatten in blassrosa lassen mich noch heute Jubelschreie ausstoßen. Seitdem wird jede Veröffentlichung blind gekauft - komme, was wolle. Und es kam so einiges, vor allem im letzten Jahr. Denn so wunderschön und mit solcher Liebe zum Detail, zur Musik und zur Vision des Labels die Platten auch gestaltet sind, so teuer sind sie leider auch. In Europa sind Preise von über 40 Euro für eine Doppel-LP des Labels mittlerweile der Standard und da muss ich bei aller Liebe zugeben: dann wird die Luft selbst für einen Sammel-Kasper schon ziemlich dünn. 

Das wurde sie auch für "Konec", die erste Zusammenarbeit von Luke Entelis (Viul) und Thomas Meluch (Benoît Pioulard), aber spätestens als die Post aus England eintraf und man diese Schönheit mit dem künstlerischen Artwork von Liz Harris in den Händen hält, ist alles vergessen. Gibt's eben am Monatsende die verbrannten Krümel aus dem Toaster und bestes Aqua Hahna. Mir doch egal. 

Liegt die Platte auf dem Plattenspieler, wird's wenig überraschend sogar noch besser. Die beiden Musiker haben "Konec" in der Isolation des New Yorker Covid-Lockdowns im Jahr 2020 geschrieben und mit dick verhangenen, nebligen Loops, grobkörnigen Texturen und zerschossenen Melodien voller Tristesse und Melancholie die Stimmung in der Stadt eingefangen. Vor allem das melodische Element Pioulards, in seinem Fundament sicher nicht weit von den sonoren Orcas-Klassikern entfernt, die er mit Rafael Anton Irisarri produzierte, verleiht den verzerrten und auf Raufaser entworfenen Beobachtungen von Viul eine zusätzliche Ebene der Emotionalität. Nachzuhören bei dem überraschenden Gitarrenoutro von "Flaxen" oder dem vergleichsweise offensiv-harmonischem "Catalune" - neben dem elegischen "Returning Clear Voice" so oder so einem der Herzstücke des Album. 

Es sind Miniaturen der Einsamkeit und des Zerfalls, die sich in ihren besonderen Momenten aus der beengenden und furchteinflößenden Isolation befreien und die Seelenstimmung einer ganzen Stadt aufsaugen können. Und vielleicht ist "Konec" am Ende weniger Beobachtung und Zeitdokument, als Transformation und Gemeinschaft. Dass es dazu immerzu Momente der Agonie und der Verwüstung braucht, um Empathie und Verständnis zu finden, sagt Wesentlicheres über uns aus als uns allen lieb sein kann.


   


Vinyl: Das Gesamtkonzept, der Dreiklang aus Musik, Cover-Artwork und Vinylfarbe, ist nahe an der Perfektion. Die Pressung ist ordentlich, gefütterte Inners, Bandcamp-Download. Dazu legt das Label seinen Vinylausgaben seit einiger Zeit einen gedruckten Flyer bei, der Auskunft über das Konzept, den Aufnahmeprozess, die Artworkgestaltung und die Pressung gibt. Ich möchte Labelchef Ryan hiermit offiziell dazu ermutigen, mit der Arbeit an einem Artbook über alle bislang erschienenen ASIP-Releases, mit großen Coverabbildungen und Hintergrundgeschichten zu beginnen. Die Legende lebt. (+++++)


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022. 


04.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 23: Carlos Ferreira - Before Memories Fade



CARLOS FERREIRA - BEFORE MEMORIES FADE

Meine erste Begegnung mit dem brasilianischen Musiker Carlos Ferreira fand im Rahmen der Auseinandersetzung mit "Quiet Reminders" statt, einer gemeinsamen Arbeit mit Shuta Yasukochi, die 2020 auf dem spanischen Archives Label erschien. Ich halte das Album bis heute für einen echten Ambient-Meilenstein und meine damalige Jubelarie über die weitläufige und bildhafte Sprache der beiden Musiker flüstere ich immer noch in jedes offene Ohr. Ich fand Carlos wenig später auf Instagram und wir stellten nach einiger Zeit fest, dass unsere Biografien sowohl hinsichtlich unserer musikalischen Vergangenheit als auch Gegenwart und unsere politischen Ansichten in erstaunlich parallel verlaufenden Bahnen durchs Leben flitzen. 

Sein im Februar 2022 auf dem texanischen Label Aural Canyon veröffentlichtes "Before Memories Fade" triggerte mich aus zweierlei Gründen. Zum einen sprach mich sowohl der Albumtitel, als auch das dahinter stehende Konzept sofort an. Carlos schreibt dazu:

“One of my strongest creative vectors is about meditating on “memory”. It fascinates me to imagine that every memory corresponds to a fragment that is not static - it changes throughout life, due to our maturation and recent experiences. “Before Memories Fade” is a reflection on this fundamental element of our existence. About eternalizing moments in an organic, live and unpredictable way.”

Ich hatte in den ersten sieben Monaten des abgelaufenen Jahres erneut ein größeres Thema mit meiner Gesundheit. Mir fehlt ehrlicherweise etwas die Kraft, um weiter ins Detail zu gehen, aber ich musste leider wieder die existenziellen Fragen aus dem Koffer holen, der eigentlich seit ein paar Jahren luftdicht verschlossen hinter gleich vierzehn Schrankwänden steht. All die Ängste, Brüche, Konflikte, die Erinnerungen und Enttäuschungen, die Zuversicht, die Hoffnung und die Liebe - es tobte alles für volle sieben Monate durchs Nervengestrüpp wie ein tollwütiges Eichhörnchen auf Crack. "Before Memories Fade" als Konzept, als Ansprache, war ein Resonanzraum für derlei Gedanken. Ich hörte das Album bevorzugt in der heißen Badewanne, wo es die gewünschte Wirkung eines auralen Sedativums am besten entfalten konnte. 

Das bringt uns um zweiten Trigger: der Musik. Vom ätherischen und illuminierenden Beginn mit "Liminal" über das sternenfunkelnde "Dandelion", das aufwühlende "Nostalgia" und dem ausgegrauten Vintagehappen "Cloudy Morning" bis zum meinem persönlichen Highlight "Accepting Transience" - so durchlässig, friedlich, tröstend; es mag makaber sein, aber vielleicht möchte ich genau das als letztes Musikstück hören, bevor das Licht final ausgeknipst wird - es ist deutlich, wie sehr das Konzept über Erinnerungen und die Sicht auf das eigene Erleben jede Minute dieses Albums trägt. Introspektiv, melancholisch, nostalgisch - und mit jedem weiteren Gedanken ein bisschen näher dran am wahren Selbst. 


Für Haptikfreunde gibt es zwar leider kein Vinyl, aber immerhin ein Tape, das über die Bandcamp-Seite des Labels bestellt werden kann. Ansonsten tut's der Bandcamp-Download:


 



Erschienen auf Aural Canyon, 2022.


28.01.2023

Best Of 2022 ° Platz 24: Mundos Sutis - Quintessence




MUNDOS SUTIS - QUINTESSENCE


Das an der Nordküste Spaniens, genauer gesagt in Kantabrien, beheimatete Label Seven Villas Music mausert sich immer mehr zu einem ernstzunehmenden Kandidaten für die Bandcamp-Subscription. Labelbetreiber und Produzent Pablo Bolivar veröffentlicht mindestens zwei EPs/Alben im Monat und für schlappe 6 Euro bekommt man sie über das Abo leicht und locker in die Download-Queue gespült. 

Für "Quintessence" des mexikanischen Produzenten-Duos von Mundos Sutis war kein Abo notwendig. Gute acht Monate nach dem digitalen Release war endlich die Vinylfassung fertig gebacken und das war ein echter No-Brainer, wie man heute eben so sagt, wenn der Schlaganfall nicht fern ist. Schon ihr Seven Villas-Debut mit der EP "Aquamarine" aus dem Jahr 2021 sorgte für aurale Kuschelorgien, was sollte also auf Albumdistanz schiefgehen?

Natürlich gar nichts. Quod erat demonstrandum. Und das liegt nicht nur daran, dass sich drei Tracks der exzellenten EP nochmal auf "Quintessence" finden lassen. 

Julia Arguello und Matias Delpiano haben im Prinzip ein nächtliches Dampfbad am Strand von Balandra vertont, nachdem man im Hotelzimmer von der als Potpourri getarnten Pilzmischung genascht hat; ein kleiner Gruß aus der Küche. Es ist feucht und heiß da draußen, das Kleinhirn so mellow durchgedampft, dass man's mit einem Strohhalm aus den Ohren rausschlürfen könnte. Die Palmen atmen in der Meeresbrise. Das Wasser weiß wie Schnee. Notbeleuchtung. Durch die Luft schweben Moleküle von buntem Gras, Endorphinen und getragenen Unterhosen. "Quintessence" läuft in Endlosschleife. 

Man möchte eintauchen und nie wieder zurück an die Oberfläche kommen. 


Vinyl: Die Doppel-LP (kein Gatefold) ist in der farblichen Gestaltung des Vinyls mit gold und blau etwas gewagt, die Pressung ist hingegen absolut fehlerlos, der Klang warm und füllig. Das Coversleeve wirkt ein bisschen labberig. Ein Bandcamp-Downloadcode ist beigelegt. Man muss froh sein, dass sich das Label sowas traut. Zeugt von Vertrauen. (++++)


 



Erschienen auf Seven Villas, 2022.

07.01.2023

2021 Revisited: Cynic - Ascension Codes



CYNIC - ASCENSION CODES

Ein Blick auf meine Musiksammlungsdatenbank aus Giga-Nerdhausen, vulgo: Discogs, verrät, dass ich im Jahr 2021 tatsächlich nur drei Platten gekauft habe, für die der Stempel "Rockmusik" passt. Neben Cassius Kings "Field Trip" (prima) und Quicksands "Distant Populations" (naja), war insbesondere die Anschaffung von Cynics "Ascension Codes" eine echte Herzensangelegenheit. 

Zum einen bin ich seit fast dreißig Jahren Fan und finde ihre Musik selbst, oder besser: besonders nach den stilistischen Anpassungen über die letzten 15 Jahre einfach hoffnungslos attraktiv. Zum anderen bewundere ich Paul Masvidal, einen der kreativsten und eigenständigsten Musiker der Metal-Szene. Mutig und unerschrocken, offen, spirituell - und durch den unerwarteten Tod seiner beiden Freunde und ehemaligen Bandmitglieder Sean Reinert (Schlagzeug; Januar 2020) und Sean Malone (Bass, Dezember 2020) voller Trauer und Verzweiflung. Masvidals Beiträge auf seinem Instagram-Account geben Zeugnis von dem Schmerz, den er durch die kurz hintereinander erfolgten Verluste erleiden musste. Ebenfalls, und das soll nicht unerwähnt bleiben, ist Masvidal in meiner Wahrnehmung einer der verkanntesten Songschreiber des Heavy Metal. Warum ihm angesichts des Meisterwerks "Ascension Codes" nicht die halbe Metal-Welt die Tür einrennt, ist angesichts der sich zunächst zeigenden Sperrigkeit des Albums vielleicht nicht die allergrößte Überraschung - auch wenn sich die Komplexität mit ein bisschen Zeit und Eingewöhnung naturgemäß auflösen kann und wird. Aber ich habe durchaus Verständnisschwierigkeiten damit, warum nicht wenigstens die Anhänger des Progressive Rocks/Metals auf Knien angerutscht kommen, und zwar in Scharen. 

Denn das hier sollte eigentlich exakt ihr Sound sein: verspielt, komplex, ultrakomprimiert und dennoch leichtfüßig und mühelos - im Prinzip die musikalische Entsprechung zum Spruch meines Vaters über den ehemaligen Eintracht-Stürmer Anthony Yeboah: "Der spielt dich in einer Telefonzelle schwindelig!". Spektakuläre technische Fähigkeiten, ein atemberaubendes Coverartwork und eine spirituelle Story über das Leben, das Universum, das Unsichtbare, das Mystische, das Außerweltliche - "Ascension Codes" ist die beste Cynic-Platte aller Zeiten und in ihrer emotionalen Ausrichtung und ihrer offen dargestellten Zerbrechlichkeit das Progressive Metal-Album, das ich mir im Jahr 2020 von Fates Warnings "Long Day Good Night" erhoffte, aber nicht bekam. 

Ich möchte über Jahre in diesen Sounds versinken und mich verlieren. Masvidals Gitarre weist mir den Weg und mir ist im Grunde egal, wohin er mich führen wird. 

Chuck Schuldiner prägte den Satz "Let the metal flow!" - Paul Masvidal hat nun die passenden Songs dafür geschrieben. 


Vinyl: Das Mastering meiner Version auf türkisem Vinyl scheint die sowieso schon wahrnehmbare Kompression im Sounddesign noch weiter in den Vordergrund zu stellen; man merkt, dass es der Musik etwas schwer fällt, die Luft zum Atmen zu finden. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um eine aktive Entscheidung im Entstehungsprozess des Albums handelt. Cynic Platten klingen nicht zum ersten Mal so. Die Pressung ist komplett fehlerfrei. Das wirklich atemberaubende und wertige Triple-Gatefold auf mattem, sich seidig anfühlendem Karton in Verbindung mit dem grandiosen Cover-Design von Künstlerin Martina Hoffmann ist nichts weniger als imposant.


   


Erschienen auf Seasons Of Mist, 2021.