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08.03.2025

Best Of 2024 ° Platz 3: Blood Incantation - Absolute Elsewhere




BLOOD INCANTATION - ABSOLUTE ELSEWHERE


"That's a challenging wank." (Sean Locke)



Wenn etwas aussieht wie eine Deppenfrage, es sich liest wie eine Deppenfrage und es außerdem nach Deppenfrage schmeckt (Überbacken, 200°C in Backofen), dann ist es eine Deppenfrage mit dem Markus Lanz-Qualitätssiegel: 

Sind "wir" eigentlich "noch" in der "Lage", einen "Klassiker" zu "erkennen"? 

Der Musik-Kanon im Allgemeinen und der Metal-Kanon im Besonderen sind selbst in den abseitigen Nischen vollgestopft mit Alben, auf die sich die Mehrheit der Szenegänger über die letzten fünf Jahrzehnte in Hinblick auf Parameter wie außergewöhnliche Qualität, dem Willen und Mut zur Innovation und dem wegweisenden Einfluss auf die künftige musikalische Entwicklung einigen konnten, oder weniger hoheitlich formuliert: Alben, die von der Musikjournaille so lange nach oben gejazzt wurden, bis es auch den letzten Neil Dylan-Harrison-Überlebenden, James Hetfield-Yeeeaaah-Yeaaaah-Kuttenjürgens und Eddie Vedders Surflehrern ins kollektive Gedächtnis eingehämmert wurde, was dIe_SzEnE gefälligst für die nächsten Dekaden für einen "Klassiker" halten soll. Seit dem Auftauchen des Bermuda-Dreiecks aus "Musik ist überverfügbar", "Kein Mensch unter 40 liest Musikmagazine" und "Social Media - Der Todesstoß" hat sich DiE_sZeNe allerdings längst in Luft aufgelöst, sieht man von den üblichen ein, zwei gallischen Subkultur-Dörfern ab, in denen aber auch schon länger nicht mehr jeden Abend gemeinsam ums Feuer sitzend Wildschweine gefressen werden, sondern jede*r Wurzelsepp*in mit W-LAN und Shitify-Abo alleine in der frisch geklinkerten Höhle hockt und sich via TikTok das anhört, was man mit einigem Hang zum Absurden als die letzten noch dampfenden Ruinen dessen bezeichnen könnte, was in der Eisenzeit mal unter "Musik" verstanden wurde. Die Gemeinschaft ist am Arsch, liebe Freunde! Und wo die Gemeinschaft am Arsch ist, wird sich auch auf nix mehr geeinigt. Vereinzelung olé! Als ob wir heute noch ein zweites "Reign In Blood" oder "The Number Of The Beast" entdecken könnten, oder auch nur entdecken wollten. Ich beantworte mir die eingangs gestellte Quatschfrage mal flott selbst, sonst gibt's Hirnverknotung mit Sahne: Nein, "wir" "erkennen" keine "Klassiker" mehr. 

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Plot-Twit: außer diesem hier, natürlich. Auf "Absolute Elsewhere" konnten sich im letzten Jahr eigentlich alle einigen. Ein Umstand, dem ich üblicherweise mit ausgeprägter Skepsis begegne; man sieht's mir bittschön nach, nicht schon wieder das olle Hildebrandt-Zitat zu bringen. Und wenn dann auch noch die Feuilletons plötzlich aufwachen und ausgerechnet in jenem Genre große Kunst wittern, das traditionell im besten Fall allerhöchstens belächelt wird - und ich füge hinzu: Zurecht! Wenn vor allem der heutige Heavy Metal eines verdient hat, dann dass man sich 24/7 über ihn lustig macht, for fuck's sake - jedenfalls: es wird dann sehr ernst. 

Wer die Entwicklung Blood Incantations besonders angesichts des 2019er Albums "Hidden History Of The Human Race" und dem reinen Ambientprojekt "Timewave Zero" begleitet hat, wird von der stilistischen Bandbreite, die "Absolute Elsewhere" abdeckt, eventuell nicht mehr ganz so vehement aus den Schuhen gesprengt werden. Die Band hatte seit jeher ein Faible für Science Fiction in ihren Texten und kosmische Nuancen in ihrer Musik, und präsentierte jene Einflüsse sehr anschaulich in der überaus empfehlenswerten "What's In My Bag"-Folge des in Los Angeles ansässigen Plattenladens Amoeba Music. "We don't play games, man!" sagte Sänger und Gitarrist Paul Riedl zur Veröffentlichung des kontrovers diskutierten "Timewave Zero" Werks - und um das Zitat im Jahr 2024 weiterzuführen, könnte man im Zuge von "Absolute Elsewhere" ein "Now it's getting serious." hinzufügen. 

Die Band hat für das in der Berliner Hansa Studios aufgenommene aktuelle Album in jeder Hinsicht alles aus sich herausgeholt. In knapp 44 Minuten und zwei Songs, die in jeweils drei sogenannte Tablets unterteilt sind, sprengen Blood Incantation im Prinzip ein ganzes Genre in die Luft. Wir sitzen auf den Trümmern und fliegen mit diesen vier Irren ins Weltall - man verzeiht mir bitte die abgeschmackte Metapher, aber sorry: sie haben's ja auch irgendwie provoziert. "Absolute Elsewhere" ist ein fremder, weit entfernter Ort. Death Metal der etwas älteren Schule, von der ehemals Bands wie Morbid Angel, Gorguts und Death in den 1990er Jahren abgingen (ich habe möglicherweise relativ exklusiv die Wahrnehmung, dass insbesondere letztgenannte in jenen Momenten, deren Farbauftrag den klassischen Heavy Metal etwas deutlicher durchscheinen lässt, häufiger als Referenz auftauchen), amalgamiert sich mit den Haschkrümeln, die aus den Zottelbärten Pink Floyds, Tangerine Dreams und King Crimsons herausgepurzelt sind, also kosmischer Musik und Progressive Rock der 1970 Jahre, tippt den Hut in Richtung der wegweisenden Science Fiction Metal-Legende Voivod (The Stargate Tablet III, ab Minute 3:42) und lässt obendrein Tangerine Dreams Thorsten Quaesching auf "The Star „The Stargate [Tablet II]“ sich über ein paar Minuten an der Synthiebatterie austoben. Das Songwriting ist dabei derart raffiniert, dass der Band trotz der beiden überlangen Kompositionen zu keiner Sekunde weder der Spannungsbogen abhanden kommt, noch die eigentlich unmöglich zu meisternden Übergänge zwischen dem Death- und Grind-Gehacke und den außerweltlichen, psychedelischen Klangsphären aus der Pilzpfanne des Druiden Deines Vertrauens misslingen. Ich mag mir kaum vorstellen, wie viel Arbeit in diese 44 Minuten geflossen sein muss, um das so punktgenau in unsere Realität zu bugsieren. Ein Wahnsinn. 

Ich darf abschließend anmerken:

Erstens: das Break und dessen Aufbau in "The Stargate [Tablet II]" bei Minute 4:11 gehören zum besten, was ich in 40 Jahren Rockmusik gehört habe. 

Zweitens: das Abschlussriff von "The Stargate [Tablet III]" ab Minute 4:59 dampfwalzt mich jedes fucking Mal in Richtung Erdkern. Möchte ich auf Lautsprechern hören, die so groß sind wie die Cheops-Pyramide. 

Drittens: was für ein Sound! Was für eine Produktion! Achtung, sprechen Sie mir jetzt laut nach: "WAS FÜR EIN SOUND! WAS FÜR EINE PRODUKTION!" 

Viertens: Der Übergang von "The Message [Tablet II]" in das einleitende klassische Speed Metal Riff von "The Message [Tablet III] verursacht schwere Schweißausbrüche. Darf man eigentlich nur unter Aufsicht und nach der Starkstromtherapie hören.

Fünftens: das wird womöglich niemand so recht nachvollziehen können, aber das Ende von "The Stargate" klingt für mich, als wäre eine eben noch heißlaufende und kurz vor der Explosion stehende Höllenmaschine (schlimmer Verdacht: das Stargate?) im allerletzten Moment vor der Vernichtung des Universums mittels Plastik-Kippschalter (Hornbach, 99 cent) ausgeschaltet worden und wäre nun allmählich dabei, zunächst herunterzufahren und anschließend abzukühlen. Die Videosequenzen (siehe unten) verstärken den Eindruck noch und ich kann mich daran weder satthören noch sattdenken. Es gibt keinen Zweifel: ich bin wieder 13 Jahre alt. 

Sechstens: Die (Death) Metal-Passagen sind bei weitem nicht so abgedreht, technisch und verkopft, wie in so mancher Besprechung zu lesen ist, und wer mit den früh- bis mittneunziger Alben von Death und Morbid Angel sozialisiert wurde, wird hier sehr sanft gebettet. Fans von beispielsweise Nile oder Beneath The Massacre könnten hingegen wegschnarchen.

Siebtens: Der Eros des Überlegenen, umgehend alles in Schubladen einzusortieren und Vergleiche zu finden, ist erstens laaaaangweilig und zweitens vor allem im vorliegenden Fall auch obsolet - mit was willst Du so eine Platte bitte vergleichen? Ich habe aus meiner Hirnverletzung indes nie einen Hehl gemacht, weshalb ich zum großen ABER ansetze: in einem Musikforum stolperte ich letzthin über einen Ansatz, der für mich bis heute so viel Sinn ergibt, dass ich mir nicht zu schade bin, ihn hier zu erwähnen. Obliveons "From This Day Forward" (1990, Active Recrds) klingt in Sachen Vision und Vibe wie ein Prototyp dessen, was 35 Jahre später als das große Universums-Upgrade von Blood Incantation eingespielt wurde. Sowohl Band als auch Album sollten die Zielgruppe so oder so kennen, ganz besonders im Kontext mit "Absolute Elsewhere" könnten vielleicht ein paar Lampen angehen. Hopp-Hopp!

Ich hab's nun schon ein paar Mal ins Internet reingeschrieben und fuck it, ich mach's nochmal: Mutige und visionäre Bands wie Blood Incantation sind Weltkulturerbe. Es scheint, als hätten wir endlich die geistigen Nachfolger Voivods gefunden.


 



Erschienen auf Century Media, 2024.

01.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 17: North Sea Echoes - Really Good Terrible Things





NORTH SEA ECHOES - REALLY GOOD TERRIBLE THINGS


"Integration? Ich bin so frei, von dieser Scheißkultur nichts wissen zu wollen. Deutschlands Werte gehen mir allesamt am Arsch vorbei, ich singe keine Hymne, folge keiner Flagge, werde einen Teufel tun, auf das Grundgesetz, diesen Waffenstillstandspakt im Klassenkampf (Rosa Luxemburg), einen Eid abzulegen, und wünschte mir, jeder Mensch, der hierher geflohen ist, seine Haut vor unseren Exportwaffen zu retten, wäre so frei, es zu halten wie ich." (Hermann L. Gremliza)



Wenn mich jemand nach den zwei besten Metalplatten der letzten 20 Jahre fragen täteräte, müsste ich ohne Zögern "Winter Ethereal" und "Theories Of Flight" nennen, verbunden mit der Einlassung, dass danach für eine VERDAMMT lange Zeit erstmal nichts mehr kommt, weil Heavy Metal und - scheißrein, machen wir es gleich ein bisschen universeller - Rockmusik mittlerweile ein traurig vor sich hindampfender Misthaufen ist; und wer jetzt mit den Augen rollt, weil Florian wieder was "Schlimmes" (Heidi Kabel) gesagt hat, hört sich einfach eine beliebige 2024er Metal-Playlist an und dann sprechen wir uns nochmal. Wie viele Offenbarungseide kann ein Genre aushalten, das den Erfolg von Ghost und Babymetal ermöglicht? Na?! Antworten bitte an die bekannte Adresse, irgendwas mit ZDF und Mainz oder was weiß ich. 

Was die beiden eingangs erwähnten Alben indes eint: sie wurden federführend von Jim Matheos ausgedacht, dem Kopf und Herz von Fates Warning. Für "Really Good Terrible Things" haben die zwei hauptsächlichen Protagonisten der Progressive Metal-Legende, also Gitarrist Matheos und Sänger Ray Alder ein neues Projekt gestartet, das ein klein wenig so klingt, als sei es ihr Ziel gewesen, die introvertiertesten Momente ihrer Hauptband seit deren 1994er Album "Inside Out" auszuwählen und sie in zehn neuen Songs miteinander zu verschmelzen. Es ist nicht schwierig, dieses äußerst ruhige und melancholische Album darüber hinaus mit eher unerfreulichen Attributen zu bedenken; "anachronistischer Kitsch" ist vielleicht noch die aufgeräumteste Beleidigung, die mir einfiele. Denn so visionär Matheos für Fates Warning bisweilen agierte, so prähistorisch fällt sein Umgang mit Sounds und Arrangements in anderen Projekten aus, wie beispielsweise auch bei seinen Alben unter dem Namen Tuesday The Sky.

Ich kann all diese vermeintlichen Defizite anerkennen und gleichzeitig sind sie mir völlig egal. "Really Good Terrible Things" hat mir ab der ersten Begegenung den Schlüpper weggedroschen, und selbst wenn es da noch einen Hauch von Gegenwehr gab, war spätestens beim zweiten Song "Flowers In Decay" alles vorbei. Und nur, damit ich es gesagt habe: was das für mich, meinen Hang zum anachronistischen Kitsch und für meine obigen Einlassungen zum aktuellen Zustand des Metals bedeutet, ist mir auch wurscht. "Really Good Terrible Things" ist dunkel und warm, zurückgezogen und introspektiv, melodisch herausragend und außerdem, stating the obvious, sensationell gesungen. Wenn mir Kälte und Dunkelheit unter die Haut kriechen, wenn die zermürbenden Zweifel wie ein wütender Mob vor der Tür stehen, wenn die Angst naht, sind Alder und Matheos die Retter in der Not. Ein Album wie ein heißes Bad in veganer Eselsmilch. Ich will hier nie wieder raus.


 


Erschienen auf Metal Blade, 2024.

01.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (2): Voivod - Synchro Anarchy

 




VOIVOD - SYNCHRO ANARCHY


Uff, das wird nicht leicht. Den scharf denkenden Scharfdenker*innen mag aufgefallen sein, dass im letztjährigen Bestengetümmel ausgerechnet jene Band fehlte, die ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit als die beste Metalband aller Zeiten bezeichne. Und das, obwohl das kanadische Ensemble im Jahr 2022 sogar ein neues Album herausbrachte - nicht, dass der Umstand zwingend notwendig ist, um in die Bestenliste zu rutschen - für Voivod würde ich immer einen Weg finden; notfalls erfinde ich einfach eine Platte, mir doch egal. 

Lösen wir hiermit also wenigstens dieses Rätsel (des süßen Nichts), dass uns alle (niemanden) schon so lange (noch nie) so beschäftigt (langweilt). 

Nun erschien "Synchro Anarchy" also im Februar 2022 und ich hörte und hörte und hörte und hörte und hörte - und es bewegte sich absolut gar nichts. Nada. Rien. "Nassing!"(Olaf "ohne Deutschland darf nie wieder ein Krieg ausgehen" Scholz). Das war schockierend. Noch ein kleines bisschen schockierender war es, dass sich daran auch im weiteren Verlauf des Jahres nichts änderte. Die Band klingt auf "Synchro Anarchy" zum allerersten Mal in ihrer Karriere blutleer und bräsig. Ich kann beinahe nicht glauben, dass ich das wirklich öffentlich schreibe, aber sogar das Schlusslicht ihrer Diskografie "Infini" hatte noch eine Handvoll mehr Lebensgeister in den Plattenrillen stecken. In erster Linie muss ich das wohl der Produktion von "Synchro Anarchy" ankreiden, der wirklich jeder Esprit, jede Energie, jedes Leben abgeht. Das Album klingt, als wäre es in einem sterilen 4x4 Meter großen und komplett gedämmten Raum aufgenommen worden, in dem der Band vor dem Drücken der Aufnahmetaste all das operativ entfernt wurde, was sie für gewöhnlich ausmacht: Spielfreude, Spritzigkeit, Luft, Raum, Heaviness, die Lust am Wahnsinn. Vor allem Chewys Gitarre klingt so verdammt clean und gedrungen wie ein Gitarrenvideo von Peter Bursch aus dem Jahr 1986. 

Vor dem Hintergrund meiner früher getätigten Einlassungen, die Band in den aktuelleren Mark VI/Mark VII-Besetzungen immer dann am besten zu finden, wenn sie die Haudraufundschluss-Ästhetik für psychedelischere und insgesamt leicht zurückgenommene, luftigere Momente ausfranst und nicht auf Teufel-komm-raus den Kuttenheinzies mit der x-ten Neueinspielungen ihres "Killing Technology"-Albums gefallen möchte, könnte man jetzt mit leicht schnippischem Unterton darauf hinweisen, dass "Synchro Anarchy" doch jetzt genau solche heruntergedimmten Elemente vorweisen würde - und jetzt wär's mir also auch wieder nicht recht? Ich bin kognitiv in der Lage, den imaginären Einwand nachzuvollziehen und vielleicht verstehe ich das ja alles auch nicht mehr, zu alt, zu doof, lebendig begraben unter der Last der Erwartungshaltung, aber: mit "zurückgenommen" meine ich nicht "ausgeblutet". 

"Synchro Anarchy" ist mir ein Rätsel. Es macht überhaupt keinen Spaß, diese Platte zu hören. 



Vinyl: Meine Version auf silberfarbenem Vinyl ist flach (no pun intended) und hat keine gröberen Hintergrundgeräusche. Die Schallplatte rettet den plattgequetschten Sound der Aufnahme aber leider auch nicht. Außerdem: bedrucktes Inlay mit Texten und ein beiliegendes A2-Poster. (++++)


 


Erschienen auf Century Media, 2022. 

07.01.2023

2021 Revisited: Cynic - Ascension Codes



CYNIC - ASCENSION CODES

Ein Blick auf meine Musiksammlungsdatenbank aus Giga-Nerdhausen, vulgo: Discogs, verrät, dass ich im Jahr 2021 tatsächlich nur drei Platten gekauft habe, für die der Stempel "Rockmusik" passt. Neben Cassius Kings "Field Trip" (prima) und Quicksands "Distant Populations" (naja), war insbesondere die Anschaffung von Cynics "Ascension Codes" eine echte Herzensangelegenheit. 

Zum einen bin ich seit fast dreißig Jahren Fan und finde ihre Musik selbst, oder besser: besonders nach den stilistischen Anpassungen über die letzten 15 Jahre einfach hoffnungslos attraktiv. Zum anderen bewundere ich Paul Masvidal, einen der kreativsten und eigenständigsten Musiker der Metal-Szene. Mutig und unerschrocken, offen, spirituell - und durch den unerwarteten Tod seiner beiden Freunde und ehemaligen Bandmitglieder Sean Reinert (Schlagzeug; Januar 2020) und Sean Malone (Bass, Dezember 2020) voller Trauer und Verzweiflung. Masvidals Beiträge auf seinem Instagram-Account geben Zeugnis von dem Schmerz, den er durch die kurz hintereinander erfolgten Verluste erleiden musste. Ebenfalls, und das soll nicht unerwähnt bleiben, ist Masvidal in meiner Wahrnehmung einer der verkanntesten Songschreiber des Heavy Metal. Warum ihm angesichts des Meisterwerks "Ascension Codes" nicht die halbe Metal-Welt die Tür einrennt, ist angesichts der sich zunächst zeigenden Sperrigkeit des Albums vielleicht nicht die allergrößte Überraschung - auch wenn sich die Komplexität mit ein bisschen Zeit und Eingewöhnung naturgemäß auflösen kann und wird. Aber ich habe durchaus Verständnisschwierigkeiten damit, warum nicht wenigstens die Anhänger des Progressive Rocks/Metals auf Knien angerutscht kommen, und zwar in Scharen. 

Denn das hier sollte eigentlich exakt ihr Sound sein: verspielt, komplex, ultrakomprimiert und dennoch leichtfüßig und mühelos - im Prinzip die musikalische Entsprechung zum Spruch meines Vaters über den ehemaligen Eintracht-Stürmer Anthony Yeboah: "Der spielt dich in einer Telefonzelle schwindelig!". Spektakuläre technische Fähigkeiten, ein atemberaubendes Coverartwork und eine spirituelle Story über das Leben, das Universum, das Unsichtbare, das Mystische, das Außerweltliche - "Ascension Codes" ist die beste Cynic-Platte aller Zeiten und in ihrer emotionalen Ausrichtung und ihrer offen dargestellten Zerbrechlichkeit das Progressive Metal-Album, das ich mir im Jahr 2020 von Fates Warnings "Long Day Good Night" erhoffte, aber nicht bekam. 

Ich möchte über Jahre in diesen Sounds versinken und mich verlieren. Masvidals Gitarre weist mir den Weg und mir ist im Grunde egal, wohin er mich führen wird. 

Chuck Schuldiner prägte den Satz "Let the metal flow!" - Paul Masvidal hat nun die passenden Songs dafür geschrieben. 


Vinyl: Das Mastering meiner Version auf türkisem Vinyl scheint die sowieso schon wahrnehmbare Kompression im Sounddesign noch weiter in den Vordergrund zu stellen; man merkt, dass es der Musik etwas schwer fällt, die Luft zum Atmen zu finden. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um eine aktive Entscheidung im Entstehungsprozess des Albums handelt. Cynic Platten klingen nicht zum ersten Mal so. Die Pressung ist komplett fehlerfrei. Das wirklich atemberaubende und wertige Triple-Gatefold auf mattem, sich seidig anfühlendem Karton in Verbindung mit dem grandiosen Cover-Design von Künstlerin Martina Hoffmann ist nichts weniger als imposant.


   


Erschienen auf Seasons Of Mist, 2021. 

08.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (1) - Fates Warning - Long Day Good Night

Für den Top 20-Jahresrückblick blieben ein paar Alben auf der Strecke, manchmal unerwartet, manchmal einfach nur, weil ich sie zu spät kennenlernte. Um nicht wie in den fucking 13 Jahren zuvor immer wieder den selben Fehler zu machen und solche Kandidaten irgendwann einfach zu vergessen, werden wir also über die nächsten Wochen Monate öfter mal ein Wort über das verlieren, was sich abseits der vermeintlich besten Platten des Jahres noch so getan hat. 

2020 wird uns also noch eine Weile beschäftigen - und das gilt vermutlich sogar über die Musik hinaus. 

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FATES WARNING - LONG DAY GOOD NIGHT

Ich liebe Fates Warning. Ich liebe ihre Unaufgeregtheit, ihre Melancholie, ihre Brillanz. Dass sie nach ihrem Comeback mit "Darkness In A Different Light" im Jahr 2013 nur drei Jahre später einen echten Meilenstein aus dem Hut zauberten, traf mich bei aller Verliebtheit wie ein Öltanker bei Nacht: "Theories Of Flight" ist ein überragendes progressives Metalalbum, über das ich bereits hier und hier ausgiebig referiert habe. Dass der im November 2020 erschienene Nachfolger "Long Day Good Night" in meine Top 20 gehört, war glasklar, eigentlich schon vor dem Hören. 

Aber es kam anders. 

Es stimmt etwas nicht mit dieser Platte, und ich kann nicht mit Gewissheit sagen, was es ist. Es gibt aber Indizien. Erstens: das Album ist zu lang. Die Vierminüter aus dem letzten Drittel gehören streng genommen komplett gestrichen, weil der Band hier jede Spannung aus den Händen gleitet. In diesem Zusammenhang ist es zweitens mindestens genauso wichtig zu erwähnen, dass kein einziger Song der besagten Gruppe für sich genommen medioker oder gar Schlimmeres ist - dass sich trotzdem jener Eindruck verfestigt, deutet auf ein echtes Problem aus dem Regieraum hin. Drittens: wenigstens in der ersten Hälfte meint man hinsichtlich der Songstrukturen ein Abziehbild des Vorgängers zu hören. Ich nenne dieses Phänomen den Tool-Effekt: definitiv andere Songs, definitiv andere Vibes - und dennoch: "Das kenne ich doch genau so schon von der letzten Platte, dafuck?!" Viertens: die ohnehin nicht gerade üppig gesäten Experimente wollen nicht recht gelingen. Der ZDF-Fernsehgarten-Schunkler "Under The Sun" ist mindestens diskussionswürdig und sorgt spätestens im Refrain bei meiner der Band ebenfalls überaus zugeneigten Herzallerliebsten für den so berüchtigten wie wort-und verständnislosen Blick über den oberen Brillenrand. Und der Longtrack "The Longest Shadow Of The Day", angeblich bereits über mehrere Jahre in Arbeit, man fragt sich leise "Warum?", gerät mit einem - ich möchte offen sprechen: komplett ratlos machenden Instrumentalteil zu Beginn zu einem zwar ambitionierten aber gleichzeitig orientierungslosen Epos, das beim Versuch, dem Intensitätsmonster "The Light And Shade Of Things" ein Eckchen abzuknabbern, sich ordentlich verschluckt. Fünftens: sollten sich die Gerüchte bestätigen und "Long Day Good Night" ist tatsächlich das letzte Studioalbum dieser legendären Band, dann müsste ich mir angesichts des zwar (ein bisschen zu) programmatisch betitelten Abschlusssongs "The Last Song" und seiner auffallenden emotionalen Lethargie und Schlaffheit beinahe ein paar Sorgen machen. Vielleicht entgeht mir aber auch die Verbindung jener Lethargie zu einer wirklichen, echten Erschöpftheit der Protagonisten; ein so naheliegender wie profaner Gedanke, aber es gibt auch hier ein Problem: "Long Day Good Night" kann selbst diese vermeintliche Dramatik weder tragen noch klären, dafür fehlen Tiefe, Ausdruck, Engagement. Ich wiederhole mich: Es stimmt einfach etwas nicht mit dieser Platte. 

All das liest sich wie ein furchtbarer Verriss. Das ist jedoch nur das viertelchen Wahrheit. 

Ich liebe Fates Warning. Es gibt ganz wunderbare Momente auf "Long Day Good Night", es war alleine im Digitalformat eines meiner meistgehörten Platten des vergangenen Jahres (und in dieser Statistik sind die Schallplattendurchgänge freilich nicht mal aufgeführt.) Und ich liebe Ray Alder. Ich würde mir jede weitere Fates Warning Platte taubstummblind kaufen, und hätte ich letztes Jahr einen großen und damit auch irgendwie einmaligen Schluck aus der Schnapspulle genommen und mir gar eine Top 30 vorgenommen, wäre "Long Day Good Night" vermutlich dabei gewesen. Der Begleittext hätte indes nicht bedeutend anders ausgesehen als dieser hier. 

Möglicherweise saß das Problem aber wie so häufig mal wieder vor dem Plattenspieler. Ich kann nicht abstreiten, dass ich nach dem Höhenflug von "Theories Of Flight" (und auch der Arch/Matheos-Sternstunde "Winter Ethereal") auf eine Wiederholung dieser Erfahrung hoffte und jedes Bröckeln dieser Erwartung nichts weniger als einen kleinen Weltuntergang bedeutete. Die Logik weiß, dass die herausragende Qualität solcher Platten wie eben "Theories Of Flight" auch deswegen so herausragend ist, weil sie so selten passiert. Wunderwerke sind eben rar. 

Das Herz will das alles nicht verstehen. Das Herz will Überfluss, Euphorie, Drama - 24/7, auf allen Kanälen und aus allen Rohren gefeuert. Man nennt's Leben.


   



Erschienen auf Metal Blade, 2020.