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08.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (3): Jonathan Jeremiah - Horsepower For The Streets

 




JONATHAN JEREMIAH - HORSEPOWER FOR THE STREETS


Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her? 

Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!

Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden. 

Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger  ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein. 



Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)






Erschienen auf Pias, 2022.

26.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


In den letzten zehn Jahren erschienen gerade mal zwei Alben von The Sea And Cake, und wer sich nicht erst seit gestern auf diesem Blog herumtreibt oder mich gar, Himmel hilf!, persönlich kennt, ahnt, dass frei nach Vicco von Bülow eine Bestenliste ohne The Sea And Cake zwar möglich, aber komplett sinnlos gewesen wäre. Seit 15 Jahre trage ich meine Liebe zu diesem Quartett auf, neben, unter, vor und hinter dem Herzen spazieren und es gibt nur wenige Bands, die mich mit links zu einem furiosen, mit leuchtenden Augen und bebender Stimme vorgetragenen Monolog über Schönheit, Raffinesse, Subtilität, Virtuosität von Musik schubsen können. 

Vielleicht erfuhr meine Wertschätzung mit "Any Day" einen neuen Höhepunkt, denn das ist das Schöne am Älterwerden: man lernt Außergewöhnliches eben doch noch mehr zu schätzen, als wenn Testosteron, Samenstau und generelle juvenile Quadratblödheit im Weg stehen. Fünf Jahre nach dem ebenfalls hervorragenden "Runner" haben sich die dreieinhalb stillen Helden tatsächlich nochmal aufgerafft und ihren unnachahmlichen Sound weiter verfeinern können. Jede noch so diffizile Akzentuierung gelingt mühelos, jedes Break wird sicher und souverän durch alle Stromschnellen hindurch geführt, jede Melodie als Kokon sorgfältig verschnürt und mit großer Selbstverständlichkeit und einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit geschickt. Wer ihnen genau auf die Finger und auf die funkelnden Hochenergiesynapsen in den vernetzt arbeitenden Gehirnen und Herzen schaut, wird im Verlauf von "Any Day" kaum ohne spitze Freudenschreie auskommen. 

Nie war dieses Urteil wertvoller und wahrer als heute: Was für ein Erlebnis, diesen absoluten Könnern zuzuhören. Ich lebe für solche Momente. 

The Sea And Cake ist Leben. 




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018. 


14.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Lav & Purl - A State Of Becoming


























LAV & PURL - A STATE OF BECOMING


The Gesamtkunstwerk of the Jahrzehnt. Idee, Ansatz, Musik, Ästhetik, Klang, Design aus einem Guss.

Das ist die Trumpfkarte von "A State Of Becoming". Wehrt Angriffe ab, macht unverletzbar, nimmt sich in jedem Bonuslevel die Kiste Gold am Ende des Regenbogens und verliert sich mit dem ehemals darüber wachenden Kobold Arm in Arm in den reflektierenden Traumwelten aus Wasser und Licht. Um sie herum: singende Vögel, raschelndes Laub, brausendes Meer, mächtige Mammutbäume, wie von Frau Jesus persönlich kunstvoll hingetupfte Nebelbänke, Regentropfen auf nasser Haut, Sonnenstrahlen, warmer Sand, kühles blau und umarmendes sepia.

Denn dass sowohl Christopher Landin (Lav), als auch Ludvig Cimbrelius (Purl) und Ryan Griffin (A Strangely Isolated Place) in den vergangenen zehn Jahren mehr als nur ein Mal ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Kreativität und Kunstfertigkeit abgelegt haben, steht außer Frage. Gerade Purl war auf diesem virtuellen Audio-Tagebuch schon mehrfach zu Gast, nicht selten im Rahmen meiner Jahreslisten - und ebenfalls nicht selten unter den ersten drei Plätzen. Nicht zu vergessen, das inspirierende Abum "Awareness" von Lav. Und das in Kalifornien ansässige Label hat es mir ebenfalls nicht erst seit gestern angetan - falls es einen Beweis dafür braucht, here we go:





Und so war es dann auch auf den ersten Blick keine leichte Entscheidung, "A State Of Becoming" auszuwählen. Was ist mit Purls "Stillpoint"? Was ist mit all den tollen Alben, die via ASIP erschienen? Markus Guentners "Theia" oder dem visionären "Never Forget Us" von Earth House Hold? Und dann legten die drei Herren Landin, Cimbrelius und Griffin ihren Trumpf auf den Tisch: Dieses Artwork (von Noah MacDonald)! Das Innere des Gatefolds, an dem man sich gar nicht satt sehen kann! Die in altrosa gehaltenen Vinylscheiben. Die haargenau darauf abgestimmte und so subtil und feingliedrig inszenierte Musik, ihre Bilder, ihre Geschichten.





























Für mich war und ist "A State Of Becoming" aus zwei Gründen lebensverändernd. Erstens erkannte ich so klar wie wohl nie zuvor, was möglich ist, wenn jeder Bestandteil einer Produktion durchdacht und aufeinander abgestimmt ist und bis in tiefste Sphären den Kern eines Werks aufspürt und ihn an der Oberfläche in allen Facetten spiegeln kann. Formvollendet! Zweitens verändert sich die Wahrnehmung meiner Realität, wann immer die Musik auf mein Herz trifft. Der Tag verändert sich. Das Licht verändert sich, es wird weicher, milchiger. Und es scheint, als entfalten sich die Wahrheiten dieser Welt langsam im Sonnenaufgang.

Schicht für Schicht mehr Erkenntnis, mehr Hoffnung, mehr Verständnis, mehr Liebe.





Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2017. 

10.04.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Qluster - Antworten




QLUSTER - ANTWORTEN


Ein Album für gewisse Stunden. Für Zeit und Raum. Für Dunkelheit. Für Stille. Für Liebe. Für Einkehr. Für Inspiration. Für Kraft. Für Trauer. Für Trost. Für Selbstgestricktes. Für Gebäck. 

Was in dieser Nacht auf der Bühne der Berliner Philharmonie zwischen Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock geschah, das spirituelle Fluten von Synapsen mit Energie, Verständnis und Vertrauen, wird wohl auf ewig ohne eine angemessene Erklärung auskommen müssen. Dass wir diesem gewaltigen Naturschauspiel trotzdem beiwohnen dürfen, und zwar immer wieder aufs Neue, dass wir uns immer wieder in der Tiefe jener Nacht verlieren dürfen, ist ein großes Geschenk. Kein berühmter Name, kein Marketinggekröse und aus der Ferne betrachtet eigentlich ein eher kleines, unscheinbares Werk - bis zu jenem Moment, in dem sich die Nadel auf diese Platte herabsenkt, die erste Musikrille erreicht und mit jeder weiteren Sekunde die Kinnlade ein Stückchen weiter nach unten kracht. 

Aktives Zuhören scheint in Zeiten  von Dschingdarassabumm-Streaming und dem ubiquitären Profit-Geflacker von Weltkonzernen nicht mehr über Gebühr en vogue zu sein, und ich möchte auch nicht der hinterletzte pretentious prick sein, der fürs Ressort des Kulturpessimismus' den wöchentlichen Leitartikel schreibt, aber for fuck's sake: hört dieser Platte zu! 




Erschienen auf Bureau B, 2012.


28.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Brock Van Wey - Home





BROCK VAN WEY - HOME


Hier hätte zunächst das Album stehen sollen, das meinen Einstieg in die Welt Brock van Weys markierte und die Stimmung des vergangenen Jahrzehnts im Erleben meiner Realität, der musikalischen zumal, so stark prägen sollte, wie sonst nichts anderes. "The Art Of Dying Alone", unter seinem hauptsächlich verwendeten Alias bvdub erschienen, verdrehte mir Herz und Kopf gleichermaßen und war dafür verantwortlich, in den kommenden knapp neun Jahren nicht weniger als 30 (!) Titel des Kaliforniers käuflich zu erwerben. 

Die Wahl auf das 2011 erschienene Album wäre also eine leichte gewesen. Weil leicht aber auch ziemlich langweilig ist, entschied ich mich für das unter seinem bürgerlichen Namen erschienene Mammutwerk "Home" und zitiere den Mann, der die Ehre hatte, diesen über 150 Minuten andauernden, mich förmlich gegen die Wand drückenden Emotionsorkan zu mastern. 

Liebe Freunde, Stephen Hitchell (Echospace): 

"The best work I've ever heard from Brock. This was the hardest mastering job I've ever done, it took months and months, I had tears in my eyes through the entire process, the emotion felt here is unlike anything I've heard before. If this doesn't capture the heart and souls of people, well, I don't know what will." 

Und was Hitchell hier angestellt hat, ist in der Bewertung von Home nicht zu vernachlässigen; "Home" als ausufernd zu bezeichnen, wäre eine oder hundert Nummern zu klein, und das liegt nicht nur an der Epik und Dramatik, die einem Brock van Wey sowieso schon aus jeder Pore kommen. Hitchell hat vor allem in den monumental inszenierten und manchmal über 15 Minuten durch Seele und Geist stürmenden Höhepunkten der Tracks wirklich alles aufgedreht, was es aufzudrehen gab. 

Mehr Weite und Drang war nie. 

Mehr Katharsis, Reinigung, Bewusstheit und Heilung war nie. 




Erschienen auf Echospace, 2014.

06.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 2 ° Purl - Violante (Lost In a Dream)




PURL - VIOLANTE (LOST IN A DREAM)


Es ist mittlerweile nahezu unmöglich, den musikalischen Spuren Ludvig Cimbrelius' zu folgen. Alleine die Supernerds von Discogs listen neun Aliasse des Schweden auf - und alle haben zig Veröffentlichungen über das vergangene Jahrzehnt auf unterschiedlichen Labels vorzuweisen. Wer soll da noch durchblicken? Und wer soll das alles hören?

Manchmal, wenn die Herzallerliebste und ich uns früh morgens zum ersten gemeinsamen K&K (Kaffee & Kuscheln) trafen, bevor die Welt da draußen Fahrt aufnahm und die mich bisweilen an den Rand mentaler und emotionaler Robustheit bringende Lohnarbeit nach mir rief, wenn also alles friedlich, alles nur Liebe, Glück und Freude darüber war, gemeinsam durch dieses verrückte Leben gehen zu dürfen, und "Violante (Lost In A Dream)" sich auf dem Plattenteller drehte, während wir das stimmungsvolle Coverartwork anschauten, dann dachte ich oft: eigentlich muss ich nie wieder etwas anderes hören. Alles, was ich bin, was ich fühle, was ich will, woher ich komme und wohin ich gehe, finde ich in dieser Musik. 

Details, die für neun Leben reichen. 

Tiefe bis zum Kontrollverlust. 

Schönheit, die zu Tränen rührt. 


Ludvig, you're a fucking wizard. 



Erchienen auf Archives, 2019.

02.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 3 ° GOLD - Why Aren't You Laughing?




GOLD - WHY AREN'T YOU LAUGHING?


Es hat etwas Zeit benötigt, bis ich den Zugang zu GOLD fand. Vermutlich waren angesichts personeller Parallelen zur mittlerweile aufgelösten Quatschcombo The Devil's Blood (GOLD-Gitarrist und -Gründer Thomas Sciarone) meine anfänglichen Vorbehalte zu prominent im Stammhirn platziert, was eine frühere Annäherung nahezu unmöglich machte - manchmal bin ich so, ich kann's nicht wirklich ändern. Mittlerweile sieht die Welt anders aus. GOLD sind die vielleicht bemerkenswerteste Rockband dieser Tage und haben seit dem eher unspektakulären Schalala-Rock ihres Debuts "Interbellum" aus dem Jahr 2012 eine atemberaubende Entwicklung durchgemacht. "Why Aren't You Laughing?" ist zweifellos der bisherige Höhepunkt dieser Transformation: die mystische, dunkel schimmernde Mixtur mit Elementen des Gothic-, Post- und Indierocks mit der gleichermaßen entrückt wie glasklar durch die Songs schwebenden, endlich auch selbstbewussten Stimme Milena Evas und die aus dem Black Metal aufgefächerten Gitarrenfiguren ergeben einen Sound, wie ihn die Welt bislang noch nicht gehört hat. 

Und das ist vielleicht das Problem für das Erreichen der Weltherrschaft. Die Band spielte vor wenigen Tagen im Aschaffenburger Colos-Saal vor gerade mal 50 Zuschauern eines ihrer seltenen Solokonzerte (ansonsten werden sie auch 2020 in erster Linie auf Festivals zu sehen sein) und mir wurde plötzlich klar: die sind mit dieser musikalischen Mischung nebst der konzeptionellen Choreografie und den starken, feministischen, für Gleichberechtigung und eine offene, freie Gesellschaft einstehenden Texten vielleicht ein paar Jahre zu früh dran. Und überhaupt: fragt mal eine feministische Band wie beispielsweise War On Women, was sich an frauenfeindlicher Scheiße in den Kommentarspalten ihrer Youtube Videos abspielt. Man kommt nicht drum herum: was der rockende Bauer nicht kennt, frisst er eben nicht, und so mancher ist darüber hinaus auch einfach, pardon, klotzehohl. Ich kann das sagen, weil ich schließlich auch hin und wieder die Heugabel im Kopf stecken habe; wer einen Beweis braucht: er findet sich im einleitenden Satz dieses Beitrags. 

Ich kann nur hoffen, dass die Band weitermacht - eigentlich sollten sowohl von dieser Band im Allgemeinen, als auch von dieser ganz hervorragenden und tief bewegenden Platte wahrlich ein paar mehr Menschen Notiz nehmen. Denn wer weiß, wie eiskalt mich aktuelle Rockmusik für gewöhnlich lässt und für wie austauschbar, stumpf, oberflächlich und mutlos ich den beinahe ganzen übrigen Sauhaufen halte, darf sich nun die wildesten Träume über die Qualität von GOLD ausmalen. 

Sie sind alle wahr. 



Erschienen auf Artoffact Records, 2019.

31.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 4 ° Rhi - The Pale Queen




RHI - THE PALE QUEEN


Wer sich wie ich mit Vorliebe wie ein gelähmtes Faultier auf der Couch und im Bett herumräkelt, und sei's nur mental, um Wahnsinn sowie Getöse draußen in der großen, fiesen Welt die eiskalte Schulter, wo nicht gleich den ganzen nackten Arsch zu zeigen, der braucht dazu einen passenden Soundtrack, der mit völliger Leere im Blick gleichermaßen Wärme und Trost spenden kann. Wenn einem alles und jeder andere sowieso nur unangenehm auf die Pelle rückt, braucht man Abstand - und gleichzeitig eine Umarmung. 

Das bekiffte Elektrogeblubber der in London lebenden kanadischen Produzentin Rhi machte mich schon auf dem Debut "Reverie" ganz wuschig und obwohl sie die Formel ihres Sounds auch für "The Pale Queen" weitgehend beibehalten hat, also lasziv gehauchte Texte, die über eine minimalistische, aber tief dröhnende TripHop Landschaft wabern, ziehen mir künftige Klassiker wie "Droned", "How Deep" oder "Plain Jane" ("I'm a grunger, grunger, grunger babe, I'm a natural, natural, natural lady") ganz "schön" (Klinsi) den Schlüpper aus: das ist die keinste radikale Minderheit Schnittmenge aus totaler Apathie und tief empfundener Hingabe. 

Der Großstadtpuls für depressive Millennials. 



Erschienen auf TruThoughts, 2019. 



28.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 5 ° Durand Jones & The Indications - American Love Call




DURAND JONES & THE INDICATIONS - AMERICAN LOVE CALL


Das selbstbetitelte Debut von Durand Jones & The Indications aus dem Jahr 2016 war bereits ein echter Hinhörer, für den die Musikpresse die große Schublade mit den Superlativen öffnete: das authentischste, oldschooligste, tiefgründigste Soulalbum seit Jahrzehnten sei geboren, der Heiland ist gekommen, usw. usf. - vielleicht hatte man aber auch einfach nur schon wieder das Debut von Charles Bradley vergessen. Natürlich hat es einen Grund, warum ich den 2017 verstorbenen Screaming Eagle Of Soul in diesem Zusammenhang erwähne, denn "American Love Call" ist tatsächlich die beste Soulplatte seit "No Time For Dreaming". 

Zweifellos war das Debut des Quartetts aus Indiana eine gute Platte, aber pardon: das hier ist next level shit. Die Band hatte im Gegensatz zum etwas gehudelt aufgenommenen Erstling für "American Love Call" mehr Zeit und Geld, um die Songideen detaillierter und sorgfältiger auszuarbeiten, und es lässt sich zu jeder Sekunde hören. Die vorab ausgekoppelte Single "Morning In America" ist in meinem Buch längst ein echter Klassiker, der mir immer und immer wieder einen Schauer über den Rücken jagt - aber auch die übrigens Songs stehen dem kaum nach: Hits, Hits, Hits. Deep, romantisch, wahnsinnig gut produziert und mit einem schlicht umwerfenden Schlagzeugsound ausgestattet ("Listen To Your Heart"!!!!11elf!), virtuos und zugleich lässig gespielt. Dazu ein zeitlos-elegantes Songwriting, das der Vergangenheit freundlich-anerkennend zunickt, aber gleichzeitig frisch und modern klingt. 

Es folgt ein Deppensatz, aber da "müssen" (Steinmeier) wir jetzt gemeinsam durch: Muss man gehört haben. 



Erschienen auf Dead Oceans/Colemine Records, 2019.





26.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 6 ° Illuvia - Milla




ILLUVIA - MILLA


Ludvig Cimbrelius ist mit seiner Musik schon seit langer Zeit ein Stammgast auf Dreikommaviernull und meinen Jahresbestenlisten. Egal unter welchem Namen der nimmermüde Schwede arbeitet und praktisch ohne Unterlass Alben, EPs und Einzelsongs veröffentlicht, ist sein Sound mittlerweile unverkennbar. 

Es gibt vielleicht keinen anderen Künstler im zeitgenössischen Ambient, der das Spiel mit Licht und Liebe, mit Spiritualität und der Lust am Leben und Erleben so in sein Werk einbringt wie Ludvig. "Milla" erschien im letzten Jahr unter seinem Alias Illuvia und wer das gleichnamige Album aus dem Jahr 2017 gehört hat, erkennt viele Merkmale dieses Projekts auch auf "Milla": tanzende Herzen, Seelentiefe, Bewusstseinswunder, der Fluss des Lebens zwischen Euphorie und Melancholie, die Berauschtheit an der Schönheit der Natur, Demut vor der Existenz. 

Alles ist hell. Alles strahlt. Alles in Ultra-HD mit Sonnenuntergangsfilter. Let the healing begin. 

P.S.: die Vinylversion bietet lediglich vier Songs (darunter ein Remix der genialen Primal Code), die Digitalversion hat dagegen alle Tracks im Sack. Zu haben auf Bandcamp.



Erschienen auf Hypnus Records, 2019.



25.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 7 ° New Model Army - From Here




NEW MODEL ARMY - FROM HERE


Ich fühle mich seltsamerweise immer noch nicht wirklich dazu berufen, umfassend über New Model Army zu schreiben. Meine erste echte Auseinandersetzung mit der Band begann schließlich erst mit dem letzten Studioalbum "Winter" aus dem Jahr 2016, davor nahm ich sie entweder über Coverversionen von Anacrusis und Sepultura wahr, oder sortierte sie angesichts der ersten fünf als Klassiker geltenden und von mir erst lange Zeit nach Veröffentlichung gehörten Alben in das Fach für jene Legenden ein, an die ich emotional nie so richtig herankommen sollte und mit denen daher die Bindung nie so bedeutsam eng wurde. "Winter" sollte das allerdings recht schnell ändern.

Angesichts meines Musikkonsums, der nicht immer zwingend vorsieht, mich in 30 Jahre alte Platten zu verlieben, liegt die Vermutung nahe, dass sowohl die direkte Beschäftigung mit "Winter", als auch das fleißige Baggern von Freund und Die Hard-Fan Jens dabei kräftig mithalfen. Auch Tobis Thekenumschau-Blog und sein NMA-Listensofa führten mich weiter in ihre Diskografie ein. So kamen der Vorgänger "Between Wolf And Man", sowie die eingeschobene Studio/Live-Mischmasch-LP "Between Wine And Blood" als nächstes ins Ohr und in die Sammlung. Es funkte also so allmählich zwischen New Model Army und mir. 

"From Here" hat nun sogar Brandbeschleuniger im Gepäck und ich verzichte demonstrativ auf einen Feuerlöscher. Und ganz möglicherweise kommt folgendes Statement bei dem ein oder anderen NMA-Jünger nicht so gut an wie Genschmans Balkonrede bei den Menschen in der deutschen Botschaft in Prag, aber sei's drum: das ist die beste New Model Army Platte, die ich kenne. Und damit wir uns richtig verstehen: ich kenne immerhin ein paar. Zugegeben, zwischen 1998 und 2013 klafft noch eine große Lücke, aber ICH KANN JA AUCH NICHT ALLES HÖREN! 

Jedenfalls: "From Here" ist hinsichtlich der Atmosphäre, der Instrumentierung, der Eindringlichkeit, der Songs, des Covers, der Stimme, der Texte, der Ernsthaftigkeit...Achtung, uffjepasst, jetzt kommt's nochmal: ihre beste Platte. 

Case closed. Get over it. 



Erschienen auf Attack Attack Records/Ear Music, 2019.



21.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 8 ° Alfa Mist - Structuralism




ALFA MIST - STRUCTURALISM


Gute Nachrichten: Im Gegensatz zum Vorgänger "Antiphon" gibt es das Vinyl von "Structuralism" noch zu normalen Preisen, ohne dafür allzu komplizierte Moves an Tagen mit ungerader Stundenzahl aufführen zu müssen. Der Release des Debuts, beziehungsweise dessen Vinylversionen, wurde vom britischen Pianisten seltsamerweise strikt limitiert, weshalb selbst Nachpressungen mittlerweile nur noch selten unter 50 Euro zu haben sind. Ein aktuellerer Discogs Kommentar spricht im Zuge der "Öffnung" (sic!) davon, dass der Alfa Mist ja auch schließlich "ein Mann des Volkes" sei und er daher den Release von "Structuralism" auf allen Streamingplattformen erlaubt habe. Da kann man mal sehen.

Abgesehen von all dem Business- und Hype-Remmidemmi unterscheidet sich "Structuralism" in der stilistischen Ausprägung nicht fundamental von seinem Vorgänger und was ich an anderer Stelle, et medium: bei anderen Platten, oft lautstark und enervierend wortreich beklage, dass nämlich more of the same in erster Linie eine Geschäfts- und seltener eine Kreativentscheidung und außerdem wie Norwegen (lang und weilig; Hape) und also supersackfuckingöde ist, stört es mich hier nicht die Bohne: ich verbrachte mal eine ganze Stunde mit dem Opener ".44" auf Endlosschleife in der 50°C heißen Badewanne und ließ mir Hirn, Herz und Hämmorhoiden dampfmangeln, bevor ich das Album anschließend für fünf weitere Stunden in ebenfalliger™️ Endlosschleife über die Anlage in die DNA purzeln ließ. Viel Atmosphäre, viel Groove, viel Virtuosität, viele leise Töne und ein bis drölf Säcke Kudos für die großartige Rythmusabteilung (allen voran an den Drums: Jamie Houghton und Peter Adam Hill, mein liebster Youtube-Kommentar: "Drummer is sick in the head."), die mit ihren punktgenauen Akzentuierungen für Freudenschreie sorgen.

Die Jazzpresse findet's derweil offenbar eher unterwältigend, eine halbe Million Plays alleine auf Youtube für einen Undergroundjazzer aus England sprechen hingegen eine deutliche Sprache.

Vielleicht ist Alfa Mist ja doch und tatsächlich ein "man of the people."




Erschienen auf Sekito, 2019.

18.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 9 ° Yagya - Stormur



YAGYA - STORMUR


Es sind nicht nur Metal-Fans, die ungemütlich werden können, wenn sich die Lieblingsband kreativ austobt und Schema F über den Haufen wirft - auch in elektronischen Gefilden tut man sich bei aller Offenheit und Liberalität offenbar schwer mit Veränderungen. Yagya ist vor allem für seine Dub- und Ambient-Techno Produktionen bekannt und mit seinem Debut für A Strangely Isolated Place schubst er die eben noch in Watte eingekuschelte Fanbase mit Verve auf die Techno-Tanzfläche. Grelles Licht, Lasergeflacker und Strobos bis das zentrale Nervensystem schlapp macht. 

Allerdings: er macht's behutsam im Flow des Albums und auch ein bisschen mit Ansage. Erst ab "Fjögur" fackelt's heißer im Meth-Lab  Unterleib und mit Ausnahme des noch etwas Luft zum Atmen gebenden "Sex" schlagen die Flammen im weiteren Verlauf und bis zum finalen "Rettungsschuss" (Manfred Kanter) "Tiu" immer höher. Die hypnotische Kick drückt unnachgiebig aufs Tempo, die Sounds sind kühl, die Stimmung vereist-nokturn und die partiell eingestreuten, verhuschten Vocals sorgen für zusätzliche Fluchtpunkte in dem Beat-Dickicht. Für viele seiner alten Fans ist "Stormur" vermutlich eine Ecke zu hart und zu "four on the floor", für mich war es für die Sommernächte im Sossenheimer Kiez genau das richtige. 

Und man kann es sich denken: die Vinylversion von "Stormur" war natürlich bei all meinen Anlaufstellen in Europa in nullkommanix ausverkauft. ASIP-Gründer und -Boss Ryan kontaktierte mich nach meinem unwürdigen Geflenne via Instagram und war dann sogar so freundlich, mir ein Exemplar von seinem kleinen Restefundus direkt aus Kalifornien zuzuschicken. Hier kümmert sich der Scheff noch selbst um die Kundschaft. Ich darf also auch vor diesem Hintergrund festhalten: geile Platte, geiles Label, geiler Typ!




Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2019.


14.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 10 ° John Coltrane - Blue World




JOHN COLTRANE - BLUE WORLD


Nach dem letztjährigen Wirbel und dem sich anschließenden sehr beachtlichen Erfolg um "Both Directions At Once" schiebt Impulse nur ein Jahr später eine weitere bislang unentdeckte Aufnahme des klassischen Coltrane-Quartetts nach. Bei "Blue World" handelt es sich um eine 1964 aufgenommene Auftragsarbeit für den kanadischen Filmemacher Gilles Groulx und dessen Film "Le Chat Dans Le Sac". Die Legende sagt, dass die Bänder der Session für 55 Jahre im Archiv des National Film Board of Canada lagerten und erst 2018 an Impulse übergeben wurden. 

"Blue World" gibt der Welt selbst bei heruntergedimmtem Licht betrachtet keine neuen Songs, sondern lediglich neu arrangierte Takes bekannter Stücke des Quartetts, aber weder dieser Umstand noch die Tatsache, dass sich im Grunde nur fünf Titel auf "Blue World" befinden ("Naima" ist mit zwei, "Village Blues" gar mit drei alternativen Takes vertreten), tun wenigstens meiner Freude und Begeisterung keinen Abbruch. Höhepunkt des Albums ist der Titelsong, der unter dem Namen "Out Of This World" bereits auf der 1962 erschienenen LP "Coltrane" zu finden war und schon dort zum Besten zählte, was ich je von der vielleicht besten Jazzband aller Zeiten hörte. Das 1944 von Harold Arlen komponierte Stück wurde für "Blue World" gestrafft und etwas verlangsamt, was die Eindringlichkeit nur noch weiter zu steigern vermag. Die atmosphärischen Parallelen zu "A Love Supreme" sind überdeutlich zu hören - und gleichzeitig gibt der Song bereits zu Beginn die Stimmung und Ausrichtung der gesamten Session vor: balladesk, dunkel, tief in sich versunken. Es sind sehr besondere Momente, die das Quartett hier verewigt hat und ich muss es ohne jede Übertreibung oder Ironie sagen: "Blue World" hat mein Leben im abgelaufenen Jahr sehr bereichert und ich empfinde es als großes Glück, diese Musik hören zu dürfen. Höre und staune. 



Erschienen auf Impulse Records, 2019.

12.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 11 ° Toki Fuko - Spring Ray




TOKI FUKO - SPRING RAY


Geheimnisvoll. Hypnotisch. Nokturn. "Spring Ray" ist ein auraler Spaziergang durch einen tropischen Regenwald bei Nacht. Aus der Tiefe des Waldes sind Trommeln zu hören, die langsam lauter und zum Puls der Nacht werden. Das Zirpen der Insekten verwandelt sich in ein diesiges Hintergrundrauschen, die Blätter in den Baumkronen werden vom Wind geküsst. 

Je weiter wir in diesen Zauberwald eindringen, desto präsenter werden die tiefer liegenden Schichten dieser Musik: Einheit, Bewusstsein und Vertrauen. Und es zeigt sich, dass die Schatten der Dunkelheit nur in Deinem Kopf existieren. Wer sich darauf einlässt, wird zu einem besseren Menschen. 




Erschienen auf Silent Season, 2019.

11.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 12 ° Acid Reign - The Age Of Entitlement




ACID REIGN - THE AGE OF ENTITLEMENT


Ich adelte das Comeback dieser britischen Thrasher erst kürzlich und trotz einiger Konkurrenz mit großen Namen zum besten Thrash Metal Album des Jahres 2019 und viel mehr als das habe ich ein paar Wochen später auch nicht wirklich hinzuzufügen. "The Age Of Entitlement" platziert sich sehr hübsch zwischen Moderne und alter Haudegen-Herrlichkeit, legt zu gleichen Teilen Wert auf Groove und Gehacke, vermischt den gegossenen Stahlbeton mit einigen feinen und glücklicherweise nicht zu aufdringlichen Melodien und hat nicht zuletzt wegen der Stimme von Howard H Smith noch ein Quantum Punk-Vibe aus den späten 1980er Jahren retten können, der für den nötigen Elan sorgt. 

Vielleicht sind die Maßstäbe, die eigenen zumal, angesichts der eher unerfreulichen Entwicklungen im Heavy Metal ja mittlerweile auch so dermaßen auf den Hund gekommen, dass mir jeder Kompass abhanden gekommen ist, aber ich bleibe bei meiner früheren Einschätzung: im Grunde gibt es keinen einzigen faden Moment auf dieser Platte. Macht immer noch tierischen Spaß. 

Und es erscheint geradezu bizarr, dass es nicht ein paar mehr Menschen mitbekommen. Aber gut, wenn der eigene Kopf kilometerweit im Arsch des Spotify-Algorithmus steckt, ist's vielleicht auch kein Wunder. Ist wohl diese "Freedom!", von der Blaze Bailey, Joe Kaeser und  das Krümelmonster mal gesungen haben. 



Erschienen auf Dissonance Productions, 2019.

08.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 13 ° 36 - Fade To Grey




36 - FADE TO GREY


Alben von 36, die auf Vinyl via A Strangely Isolated Place erscheinen, sind meist in Windeseile ausverkauft, und wer verspätet zum Vorverkauf erscheint, darf nur wenige Tage später den Blutsaugern auf Discogs die Ehre (und ein schön leergeräumtes Konto) erweisen. So erging es mir mit "Fade To Grey", weshalb ich zur Strafe einen grotesk hohen Betrag in Richtung, na klar: Berlin überweisen sollte. Immerhin noch bevor sich die Bandscheibe unseres Hundes meldete und ganz alleine den Jahresbonus auffraß. No food, just wax and dogs. 

Dennis Huddleston ist einer der Stars der Ambientszene und in solchen Momenten zeigt es sich auch abseits des Sammel- und Exklusivitätswahns heutiger Schallplattensammler. "Fade To Grey" ist der Einsamkeit und der Isolation gewidmet, die aus unserem Social Media-Kladderadatsch entsteht, die uns von unserem Selbst entfernt, uns sowohl durchlässig und verletzlich, als auch hart wie Beton macht. Es ist ein elegisches Werk für eine Zeit ohne Empathie. Ein Werk, das den leeren, emotionslosen Blick gegen die weiße Wand vertont, gleich einer Embryonalstellung der Seele gegen den Weltschmerz. Interessanterweise klingt "Fade To Grey" dabei nicht dunkel oder abgründig, sondern leuchtet im Gegenteil hell und heiter - wie ein Abbild unserer Realität zwischen sinnbetäubender Euphorie und bodenloser Tristesse. 

Einer wird gewinnen.

"Considering the landscape of our own world right now, where a handful of companies control everything we consume, where convenience is more important than privacy, where personal choice is pre-determined by algorithms analyzing our behavior, and where the internet has become a battleground for influence and propaganda... It's not a stretch of the imagination to believe we're already witnessing our very own dystopia."




Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2019.

06.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 14 ° Segue - The Island




SEGUE - THE ISLAND


Und wieder mal passt alles zusammen. Das atmosphärische Cover-Artwork, das DIE_INSEL inmitten eines ruhig liegenden Meeres zeigt, inklusive leichter Diesigkeit und einem ja auch irgendwie kitschigen Sternenhimmel, Jordan Sauers immer noch von Sonne, Waldboden und "Aqua" (Lagerfeld) geküsste Musik und das Label Silent Season, das die musikalische Auseinandersetzung mit der Natur zur Voraussetzung für jede Veröffentlichung macht. 

Zu "The Island" heißt es: 

"Four thousand years ago, Western Canada's First Nations people migrated into the fjords and rainforests carved out by the retreating glaciation of the last Ice Age. The Island is a tribute to Canada's prehistory and the spiritual journey of a people entering a forever-altered landscape to call their home." 

Dabei hat Segue ähnlich wie die Labelkollegen von Wanderwelle die exklusive Dub Techno Schublade längst hinter sich gelassen und verwendet bisweilen nur noch vage herumflirrende Erinnerungen aus seinem Instrumentenkoffer. Was Sauer in dieser Hinsicht vielleicht so gut kann wie kaum ein anderer: seine Sounds und Songs malen Bilder in deinen Kopf. Lassen dich Wärme und Kälte spüren, manchmal sogar die Luft von der Umgebung schmecken, in die er dich gerade hineingezogen hat. 

"The Island" schickt dich in Urlaub, in die unberührte, raue Natur. Soziale Isolation in der Verbundenheit mit Mutter Erde - ich finde das selbst 6 Jahre nach dem Klassiker "Pacifica" noch immer hoffnungslos attraktiv. 




Erschienen auf Silent Season, 2019.

05.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 15 ° Die Wände - Im Flausch




DIE WÄNDE - IM FLAUSCH


Ich erinnere mich daran, dass ich der Herzallerliebsten das phänomenale Cover-Artwork zeigte und dazu verlauten ließ, die Platte heiße "Im Flausch" und mir sei es nun völlig wurscht, wie das klingt, ich müsse das jetzt blind und taub kaufen. Als Antwort erhielt ich ein "Ich bitte darum!" und im Subtext eine neuerliche Erinnerung daran, dass wir verheiratet, vulgo: "ein Kopf und ein Arsch" (H.Schenk) sind. Jetzt sind wir hier, im Sinne von am Jahresende angekommen und wie zu sehen ist, habe ich die Entscheidung nach dem Anhören nicht nur nicht bereut, sondern ganz außerordentlich begrüßt: das Trio spielt im Postpunk-, Indie- und Noise-Sandkasten, hat nicht nur im Gestus den obersten Hemdknopf geschlossen und rasselt mir mit nonchalant vorgetragenen Texten wie "Ich finde nichts mehr gut. Ich lege mich nicht mehr fest. Ich schmeiße alles hin." nebst anschließendem Noise-Ausbruch direkt in die linke Herzkammer. Die angenehm dosierte Dissonanz, sowohl in der Musik als auch in den hintergründigen Texten, piekst mich genau dort, wo ich's gerne hab: kein breitbeiniger Rockzirkus, sondern eher distinguiertes Detachement. Und wenn es doch schmutzig, krachend und laut wird, räumt hinterher jemand schön auf und macht wieder alles sauber - allerdings mit dem Kommentar, dass das ja jetzt schon ziemlich unlocker sei. 

Unser Leben ist ein einziger, stets größer werdender Widerspruch - und das hier ist sein Soundtrack. 



Erschienen auf Späti Palace, 2019.

03.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 16 ° Flying Lotus - Flamagra



FLYING LOTUS - FLAMAGRA


Die gute Nachricht zuerst: "Flamagra" ist wieder deutlich inspirierter ausgefallen als der Vorgänger "You're Dead", das bis heute einzige FlyLo-Album, das den bitteren Gang zum Second Hand-Dealer antreten musste. Dennoch war auch das sechste Studioalbum zunächst ein Wackelkandidat für die Top 20. Vermutlich ist es meine Erwartungshaltung, die mir (und ihm) immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen will, vielleicht macht man ein Album wie "Cosmogramma" aber auch wirklich nur einmal im Leben. Denn auch wenn die Musikredaktionsstuben zwischen zwei Mariacron aus dem Rollcontainer immer noch derart vehement die seit vielen Jahren bekannten zentralen Aspekte des Sounds von Flying Lotus betonen, erkenne ich zumindest stilistisch nichts bahnbrechend Neues auf "Flamagra" - natürlich ist die Detaildichte seines Sounds immer noch hoch, natürlich sind das immer noch die bizarren, übergroß auf die Kinoleinwand projizierten Science Fiction-Drehbücher und natürlich lassen sich selbst in den etwas zurückgenommeneren Momenten noch mehr eingebaute Bells & Whistles in diesem wahnsinnig kuratierten Gedankenfluss finden, als bei jedem anderen Remmidemmi-Produzenten. Was Flying Lotus für mich indes so einzigartig macht, sind seine Interpretationen von Jazz und Hip Hop und deren Verschmelzung in postmoderne Lebensrealitäten.  

Jede der rund 6420 Sekunden von "Flamagra" scheint für einen klitzekleinen Moment ein Bewusstsein darüber zu haben, woher sie kommt und wohin sie geht  Und jede einzelne erzählt in atemberaubender Geschwindigkeit Mikro-Poesie vom Anfang und vom Ende ihrer Welt - und aus diesem virtuellen Netz von Gedanken, Ideen, Hoffnungen und Enttäuschungen speist sich der ganze gottverdammte Scheißkosmos. Blingbling. 



Erschienen auf WARP Records, 2019.