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07.12.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #171: L.S.G. - Into Deep




L.S.G. - INTO DEEP


"You have 62 people worth the amount the bottom three and a half billion people are worth. Sixty-two people! You could put them all in one bloody bus… then crash it!” (Brian Eno)


Mein Weg in die Tiefe war erstens spektakulär verspätet und zweitens eine Mischung aus Zufall und Schicksal, je nach Glaubenssystem meiner verehrten Leserinnen und Leser, denn so opportunistisch bin ich schon lange. Die Geschichte geht so: vor einigen Jahren machte ich es mir zur zwar sinnlosen, aber immerhin Aufgabe, die Punk- und Hardcoreszene meiner Heimatstadt Frankfurt am Main in den 1980er und frühen 1990er Jahren zu recherchieren - nicht zuletzt, weil ich ab Ende der Neunziger selbst Teil davon wurde und damit Proberäume bewohnte und Bühnen betrat, die bereits von Generationen vor mir für lauten Krach und Agitation besetzt wurden. Und selbstverständlich ist auch dieses Nachforschen in außerordentlich dick angerührtem Nostalgiekleister getaucht - und das Bild ist mit Bedacht gewählt, weil ich an sowas einfach immer kleben bleibe. Die Lust, der damaligen Atmosphäre in der Stadt nachzuspüren, die von ehemaligen Bandkumpels erzählten Geschichten aufzugreifen, Bands neu zu entdecken und auch persönliche Entwicklungen von beteiligten Musikern auch über Genregrenzen hinaus zu verfolgen, wird niemals keine große Anziehungskraft auf mich ausüben. Jedenfalls: wer sich mit Thrash, Punk und Hardcore zu jener Zeit in Frankfurt beschäftigen möchte, stößt früher oder später auf den mit "Frankfurt Hit Collection" etwas irritierend betitelten Sampler vom Label Alm Räcords aus dem Jahr 1989 und damit auf Bands wie Bück Dich Und Die Gichtkröten, Mähthrasher (völliger Oberkult!) und Persecuted Pharisees. Der entsprechende Kaninchenbau hierzu ist nicht so irre tief, aber ein paar Verästelungen hinsichtlich Alben, Singles, Bandmitglieder und ihren anhängenden späteren Lebenswegen lassen sich durchaus finden. Die Frankfurter Band Pullermann beispielsweise hatte mit Cybéle De Silveira eine Sängerin in ihren Reihen, zu welcher eine kleine Netzrecherche ergab, dass sie im Jahr 1999 auf dem Album "Into Deep" von Oliver Liebs langjährigem Trance-Projekt L.S.G. Vocals beisteuerte, und ganz ehrlich: was wären wir ohne Discogs?! Nun ist einerseits "Into Deep" vom Schrot-und-Korn-Punkrock Pullermanns ungefähr 3,4 Millionen Galaxien entfernt und andererseits ein hoch gehandelter Klassiker im Trance und Chill-Out Gewerbe der 90er Jahre - und darüber hinaus. Musste ich das also hören? Natürlich musste ich das hören. 

Denn wie nicht zum ersten Mal auf diesem Blog sehe ich mich zu der Einlassung provoziert, von Musik, die sich in den neunziger Jahren außerhalb des minimal erweiteren Rockzirkels abspielte, nicht mal entfernt eine ähnliche Detailtiefe im Gedächtnis herumzutragen. Und auch wenn sehr wahrscheinlich das Volumen von vor dreißig Jahren produzierter Musik nicht mit heutigen Zahlen vergleichbar ist, wurde auch schon zwischen 1990 und 1999 unfassbar viel Musik veröffentlicht. Ohne ein soziales Umfeld, das einem für eine Rückschau ein bisschen Hand und Herz führt, ist ein Abtauchen in diesen Ozean voller Klang komplett überwältigend. Und wo wir schon bei Oliver Lieb sind: der Frankfurter Produzent bespielt seit 1988 das weite Feld elektronischer Musik und hat alleine schon weit über 250 Singles und Alben unter unzähligen Band- und/oder Projektnamen im Lebenswerk verewigt. Overkill. 

Mit den in den letzten 20 Jahren gemachten Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit elektronischer Musik indes habe ich heute einen völlig anderen Zugang zu "Into Deep", als ich ihn im Veröffentlichungsjahr 1999 gehabt hätte. Zumal auch eine stilistische Einordnung in den Zeitgeist der neunziger Jahre lohnenswert erscheint, als Chill Out-Rooms nicht nur zum festen Interieur der damaligen Clubkultur gehörten, sondern sich gleich ganze Genres aus diesem Ökosystem entwickelten. Trance, Chill Out, Ambient, Downbeat und alles mitten- und zwischendrin, amalgamiert in einem Lebensgefühl aus Freiheit, Hedonismus, Pioniergeist, Aufbruch und Outsider-Rebellion. Ein Mikrokosmos im Mikrokosmos. Ich wünschte heute, ich wäre dabei gewesen, mittendrin im Schweiß durchtanzter Nächte in den Frankfurter Club-Legenden Dorian Gray oder Omen, im Rausch und Flausch einer außer Rand und Band gedeihenden neuen Subkultur. Wer eine Idee davon erspüren wollte, welche Bedeutung diese Zeit für die Zeitzeugen hatte, konnte sich im mittlerweile leider gelöschten Kondolenzbuch für den im Jahr 2006 verstorbenen DJ Mark Löffel aka Mark Spoon ein eigenes Bild machen. Ich selbst war von den damals hinterlassenen Kommentaren so tief beeindruckt, dass ich nicht nur einige der dort niedergeschriebenen Passagen für den Text eines Songs meiner Band Blank When Zero verwendete, sondern mit dem Satz "Es ist so fucking leise, alles!" auch noch gleich seinen Titel fand. Weil einerseits klar war, dass es hier nicht nur um die polierte Oberfläche der Nostalgie ging, sondern andererseits um die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, den Lebenslinien, den Träumen, den Hoffnungen und unweigerlich auch mit den Enttäuschungen und Verletzungen. All das ergibt Kontext - und nichts existiert wirklich außerhalb davon. Nirgends. Für Niemanden. 

Und all das führt uns hier und heute ins Jahr 2025, führt uns zu "Into Deep" und zu einer Musik, die von Beobachtern und Zeitzeugen bis heute als Meilenstein elektronischer Musik verstanden wird; in einem Genre, das zunächst von wegweisenden und stilprägenden Compilations wie Café Del Mar und Buddha Bar nicht nur erfolgreich, sondern auch künstlerisch relevant wurde bevor später - wie es systemisch eben immer, immer, immer und immer wieder passiert - von Marketing und Werbung bis zur Selbstparodie entbeint und ausgehöhlt in den großen Ramsch-Grabbelkisten endete. "Into Deep" war kein Mainstreamhit, denn dazu war es - pun intended - zu deep. Sein Aufbau und Storytelling ungewöhnlich, überraschend und versatil, seine im Untergrund über mehrere Ebenen aufgefächerten Kompositionen verschwenderisch und komplex. Wer immer noch dem so alten wie arroganten Narrativ der Rockszene folgt, elektronische Musik sei grundlegend emotional unterfordernd, flach, oberflächlich und struktuell fürs zugekokste Partyvolk auf der Love Parade gebaut und für sonst nichts, hat niemals zugehört. Ist vom derart hohen Ross aber auch schwierig. Zugegeben. 


Vinyl und so: Nix. Ich bezweifle auch, dass sich daran jemals etwas ändern wird, aber die CD gibt's für einen Zehner.


 


Erschienen auf Superstition, 1999.

19.05.2024

Best of 2023 ° Platz 1: Mikkel Rev - The Art Of Levitation




MIKKEL REV - THE ART OF LEVITATION


“I’m sorry to put ‘Ambient’ in quotation marks all the time, but for me in ‘Ambient’ music, everything is possible, and the word ‘Ambient’ does not match all the musical possibilities we have within the music we do nowadays.” (Pete Namlook)


Es gibt Alben, die hinterlassen schon beim Erstkontakt den Eindruck, als würde ich sie schon mein ganzes Leben lang kennen. Was genau in solchen Moment passiert, ist mir bis heute verborgen geblieben, aber irgendeine Tangente zum Erlebten, Erträumten, Erhofften baut sich auf, eine Verbindung ins tiefere, vielleicht unbewusste Ich. Solche Platten weichen mir fortan nur noch selten von der Seite. Sie müssen nicht "erarbeitet", nicht mehr dechiffriert werden. Ihre Wirkung ist klar und unmittelbar. 

Es gibt Alben, die schon nach kurzer Zeit auf den Olymp klettern. So früh jedenfalls stand die Nummer Eins des Jahres selten fest. Schon als "The Art Of Leviation" vom norwegischen Produzenten Mikkel Rev im Frühjahr des vergangenen Jahres seine ersten Kreise durch mein Leben zog und sich die ersten Nervenbahnen miteinander verschweißten, wusste ich, dass hier wohl nicht mehr viel dran vorbeikommt. Und heute, ein gutes Jahr später, zeigt sich: es kam nichts mehr dran vorbei. 

Und dann gibt es Alben, die mich so tief in die Emotionskammer treffen, die solch überschwängliche, beinahe schon rauschhafte Zustände erschaffen und irrationale Momente der Euphorie entwickeln. Manchmal führen diese sehr eindrücklichen Erlebnisse dazu, jenen Alben mit einer merkwürdigen Form der Ehrfurcht zu begegnen. In den letzten zwanzig Jahren erlebte ich ähnliche Situationen beispielsweise mit "Frances The Mute" von The Mars Volta. Oder mit "Geisterfaust" von Bohren Und Der Club Of Gore. Das Gefühl totaler Euphorie, solche Musik hören zu dürfen und dabei eine solch tiefe Verbundenheit zu spüren; so als hätte man just den Code für ewiges Leben geknackt, den Pfad zu den aufgestiegenen Meistern entdeckt, das dritte Auge geöffnet. Es wird zur raison d'etre, zum neuen Fixpunkt. Ich klammere mich an solche Augenblicke mit allem, was ich habe. Ich möchte das nicht nur spüren können, vollständig und bis in alle Ewigkeit, ich möchte das auch nie wieder verlieren. Die beiden oben genannten Alben würden von mir auch heute noch als absolute Sternstunden meiner Laufbahn als Musikbesessener bezeichnet werden, selbst wenn ich sie praktisch nicht mehr auflege. Die Furcht davor, bei jeder neuen Auseinandersetzung dieses frühere Hochgefühl aus den Händen gerissen zu bekommen, sei es vielleicht weil es der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt ist, irgendeine Laus, die mir über die Leber gelaufen ist oder der Mond falsch steht, ist real - und zugegeben, es ist schon einigermaßen balla-balla. 

Ähnlich erging es mir mit "The Art Of Levitation": nachdem mich diese Musik an jene so weit entfernt liegenden Orte trug, mich so gefangen nahm, ja geradezu erschütterte, ließ ich sie einfach mit diesen Eindrücken stehen, so wie sie war. Das war meine Nummer 1 des Jahres 2023. Case closed. Ich lasse mir das nicht mehr nehmen.

Nun ging es aber daran, wie immer "pünktich" im Mai 2024, all das in Worte zu kleiden. Dieser Faszination Ausdruck zu verleihen, im besten Fall so formvollendet ausformuliert, dass meine werten Leserinnen und Leser keine körperlichen Schäden davontragen, wenn die Netzhaut mit derlei Gedanken belichtet wird - und so fand "The Art Of Levitation" nach einigen Monaten der Stille erneut den Weg auf den Plattenteller. Tief durchatmen. Allen Mut zusammennehmen. Es geht hier ja nicht um Leben und Tod, vielleicht nur ein kleines bisschen. Aber was passiert, wenn mir jetzt all das schön zurechtgelegte "Album Of The Year"-Getrommel wegbröckelt? Wenn ich's einfach nicht mehr spüre? Mich nicht mehr erinnere? Wenn sich die Zweifel mit einem Schneidbrenner an der versiegelten Bunkertür zu Schaffen machen? 

"Dann wären wir wohl ganz schön angeschissen, was?!" (Hagen Rether)

Nun ist es Mai 2024, und Du liest gerade ebenjenes "Album Of The Year"-Getrommel. Nichts ist weggebröckelt, nichts ist vergessen, nichts ist abgedunkelt. "The Art Of Levitation" ist unkaputtbar. 

Wenn meine musikalische Libido nicht nach wie vor pausenlos die Konfettikanone zündete und ich mich also auf ein etwas rationaleres Niveau runterkühlen könnte, würde ich gegebenenfalls schreiben, dass die eigentliche Magie dieses Albums etwa ab Beginn der C-Seite startet und mit "Xistence" die Tür für das öffnet, was anschließend über "Regrets", "Sub Sea (Peace Mix) und "Insula" zum allerbesten zählt, was ich in den letzten zwanzig Jahren gehört habe, ein unnachahmlicher Ritt durch den Deepspace, der dich spiralförmig in die Höhe schießt und dabei aus allen Rohren Endorphine ins Wurzelchakra ballert, dich in den Seelennebel im Kassiopeia schickt, wo Dir Alf und Willy Tanner eine eiskalte Cola mit einem Schüsschen Ketamin servieren. It's THAT good.

Andererseits kühlt hier gar nichts auf irgendein Niveau runter und die Rationalität kann mir gerne einen Roberto Blanco-Text ins Ohr flüstern, wenn ich 2 Meter unter der Erde liege - bis dahin heißt es: die Magie beginnt freilich ab der ersten Sekunde. Labelchef Ryan führt in den Linernotes zum Album aus, dass er Mikkel darum bat, ihm doch ein paar Ideen für ein Demo zukommen zu lassen - und er anschließend unendlich viel atemberaubendes Material aus Norwegen erhielt, womit er für die Sequenzierung von "The Art Of Levitation" aus dem Vollen schöpfen konnte. Für Ryan keine Überraschung: Mikkels Beteiligung an dem Kollektiv Ute Records, deren Fokussierung auf Ambient und Trance, inklusive der Organisation von Trance Revival-Partys in den Wäldern Norwegens, ließ vermutlich schon an dieser Stelle Großes erwarten, verbinden sich doch hier die zwei großen musikalischen Vorlieben des Gründers von A Strangely Isolated Place. Vom ersten Vorantasten im Intro "Xpress 2 Planet Earth" mit seinem spannungsgeladenen Arrangement und futuristischen, außerweltlichen Sounds, die irgendwo zwischen Dystopie und Hoffnung hin und her schwingen, über den zwölfminütigen und lebhaft vibrierenden Titeltrack, der durch unzählige Sphären führt und stets ein neues musikalisches Backdrop in Deine Phantasiewelten tapeziert, oder das introspektive "Crater" bis hin zu den erwähnten, druckvollen Trance-Exkursionen, bei denen man sich wirklich wünscht, sie würden nie, nie, nie zu einem Ende kommen, ist die Story des Albums mit einem so feinen wie souveränen Händchen gestrickt. Es mag sich im Jahr 2024 abgeschmackt lesen, aber sei's drum: man ist wirklich auf einer Reise. 

"The Art Of Levitation" ist ein beeindruckendes, inspirierendes Zeugnis zeitgenössicher elektronischer Musik. Findet man in ein paar Jahren im "Muss man gehört haben!"-Kanon der ewigen Klassiker des Genres - und sogar darüber hinaus. Mark my words.


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.