Vor elf Jahren habe ich meine Leserinnen und Leser mit einem Thrash Metal-Countdown gelangweilt, und weil mir seitdem auffiel, dass ich in der damaligen Auflistung mindestens drei schwere Fehler begangen hatte, die nach einer Klarstellung und Korrektur schreien, gibt's die jetzt einfach. Als Video, damit's auch richtig cringe wird. Immer Alles geben. Meine Devise.
Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her?
Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!
Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden.
Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein.
Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)
Uff, das wird nicht leicht. Den scharf denkenden Scharfdenker*innen mag aufgefallen sein, dass im letztjährigen Bestengetümmel ausgerechnet jene Band fehlte, die ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit als die beste Metalband aller Zeiten bezeichne. Und das, obwohl das kanadische Ensemble im Jahr 2022 sogar ein neues Album herausbrachte - nicht, dass der Umstand zwingend notwendig ist, um in die Bestenliste zu rutschen - für Voivod würde ich immer einen Weg finden; notfalls erfinde ich einfach eine Platte, mir doch egal.
Lösen wir hiermit also wenigstens dieses Rätsel (des süßen Nichts), dass uns alle (niemanden) schon so lange (noch nie) so beschäftigt (langweilt).
Nun erschien "Synchro Anarchy" also im Februar 2022 und ich hörte und hörte und hörte und hörte und hörte - und es bewegte sich absolut gar nichts. Nada. Rien. "Nassing!"(Olaf "ohne Deutschland darf nie wieder ein Krieg ausgehen" Scholz). Das war schockierend. Noch ein kleines bisschen schockierender war es, dass sich daran auch im weiteren Verlauf des Jahres nichts änderte. Die Band klingt auf "Synchro Anarchy" zum allerersten Mal in ihrer Karriere blutleer und bräsig. Ich kann beinahe nicht glauben, dass ich das wirklich öffentlich schreibe, aber sogar das Schlusslicht ihrer Diskografie "Infini" hatte noch eine Handvoll mehr Lebensgeister in den Plattenrillen stecken. In erster Linie muss ich das wohl der Produktion von "Synchro Anarchy" ankreiden, der wirklich jeder Esprit, jede Energie, jedes Leben abgeht. Das Album klingt, als wäre es in einem sterilen 4x4 Meter großen und komplett gedämmten Raum aufgenommen worden, in dem der Band vor dem Drücken der Aufnahmetaste all das operativ entfernt wurde, was sie für gewöhnlich ausmacht: Spielfreude, Spritzigkeit, Luft, Raum, Heaviness, die Lust am Wahnsinn. Vor allem Chewys Gitarre klingt so verdammt clean und gedrungen wie ein Gitarrenvideo von Peter Bursch aus dem Jahr 1986.
Vor dem Hintergrund meiner früher getätigten Einlassungen, die Band in den aktuelleren Mark VI/Mark VII-Besetzungen immer dann am besten zu finden, wenn sie die Haudraufundschluss-Ästhetik für psychedelischere und insgesamt leicht zurückgenommene, luftigere Momente ausfranst und nicht auf Teufel-komm-raus den Kuttenheinzies mit der x-ten Neueinspielungen ihres "Killing Technology"-Albums gefallen möchte, könnte man jetzt mit leicht schnippischem Unterton darauf hinweisen, dass "Synchro Anarchy" doch jetzt genau solche heruntergedimmten Elemente vorweisen würde - und jetzt wär's mir also auch wieder nicht recht? Ich bin kognitiv in der Lage, den imaginären Einwand nachzuvollziehen und vielleicht verstehe ich das ja alles auch nicht mehr, zu alt, zu doof, lebendig begraben unter der Last der Erwartungshaltung, aber: mit "zurückgenommen" meine ich nicht "ausgeblutet".
"Synchro Anarchy" ist mir ein Rätsel. Es macht überhaupt keinen Spaß, diese Platte zu hören.
Vinyl: Meine Version auf silberfarbenem Vinyl ist flach (no pun intended) und hat keine gröberen Hintergrundgeräusche. Die Schallplatte rettet den plattgequetschten Sound der Aufnahme aber leider auch nicht. Außerdem: bedrucktes Inlay mit Texten und ein beiliegendes A2-Poster. (++++)
Astral Industries-Gründer Arlo Faharano und Rod Modell begeben sich auf "Cardamom & Laudanum" auf eine nächtliche Reise durch den Orient, nisten sich in unseren Köpfen ein, schalten die Kameras an und das Licht aus - und lassen Geschichte passieren. Außerkörperliche Erfahrungen in der Wüste, nächtliches Treiben auf den Basaren, kostbare Seide, feine Gewürze, opulente Parfums. Der Puls der Nacht, die Anspannung vor dem Unbekannten in schwüler, stickiger Luft. Ein Unbehagen auslösendes, obskures Geflüster in einem Meer aus Stimmen, aus der Tiefe der Dunkelheit dringt schamanisches Getrommel, am Horizont lodern die Feuer von den Stämmen in den Bergen, Rauch schleicht sich in den klaren Sternenhimmel. Und du bist mittendrin, saugst alles auf, beobachtest. Wo bist Du? Wer bist Du? Und warum bist Du hier? Und - was bedeutet das denn überhaupt..."hier"?
Ein berauschender, mystischer, aufregender, spektakulärer Fiebertraum.
Vinyl: Astral Industries lässt traditionell bei Optimal pressen und dort kann normalerweise nicht so irre viel schief gehen. Es gibt Gegenbeispiele, aber das Presswerk in Brandenburg gehört sicherlich zu den qualitativ zuverlässigeren Herstellern. So ist es auch hier: ich habe keine Beanstandungen. Die klassischen AI-Coverartworks von Theo Ellsworth sind von den Hüllen des britischen Labels nicht mehr wegzudenken. Gatefold-Cover. Kein Download. (+++++)
Kleine Geschichtsstunde mit Florian: Toxik ist keine neue Band. Die Truppe aus dem Umland New Yorks erschien Mitte der 1980er auf der Bildfläche und veröffentlichte mit "World Circus" (1987) und "Think This" (1989) zwei Studioalben über Roadrunner beziehungsweise Roadracer, die beide mittlerweile zu den Kultalben der zweiten Speed/Thrash Welle zählen. Vor allem das im Vergleich zum eher progressiven Zweitwerk leichtfüßigere und speedigere Debut ist zurecht gefeiertes Material für die Ruhmeshallen des Heavy Metal. Toxik wurden zunächst wegen der enttäuschenden Verkaufszahlen von "Think This" angezählt und dann final vom Alternative-Boom der neunziger Jahre ausgeknockt. Seit 2013 ist die Band im veränderten Lineup wieder aktiv. Von der Originalbesetzung ist lediglich Gitarrist Josh Christian noch mit von der Partie. "Dis Morta" ist somit erst das dritte Album von Toxik - und das erste seit 33 Jahren.
Wer sich noch an meine Einschätzungen zu so manchem Comeback meiner alten Thrash Metal-Helden der letzten 15 Jahre erinnert, wird eine Ahnung haben, dass ich nicht gerade mit dem Laden der Konfettikanone zu tun hatte, als "Dis Morta" angekündigt wurde. Zerfledderte Besetzungen, kein Feuer, keine Leidenschaft, Dienst nach Vorschrift, grauenhafte und künstlich aufgepumpte Produktionen, Marketing über Substanz - die Liste großer Enttäuschungen ist lang und reicht von Heathen über Forbidden und Testament bis hin zu Sacred Reich. Von kompletten Knallchargen wie Agent Steel oder Onslaught will ich erst gar nicht reden. Aber meine alte Metal-Loyalität verpflichtet eben. Also, Toxik! Make my day!
Und, FUCK ME - wie arg sie meinen Day machten! Von der ersten Sekunde des Openers und Titelsongs bis zum Rausschmeißer "Judas" gibt es auf dieser Platte KEINE! EINZIGE! LANGWEILIGE! SEKUNDE!
Ich hatte in den letzten Monaten versucht, ein angemessenes sprachliches Bild für dieses gnadenlose Gehacke zu finden, und als ich eines gefunden hatte, schrieb ich es in meiner Begeisterung gleich an zwei Stellen in dieses Internet hinein. Weil mir seitdem nichts Besseres eingefallen ist und mir außerdem sowieso gar nichts mehr peinlich zu sein scheint, schreibe ich es hier zum dritten Mal:
"Maximaler Stress. Permanentes Gefühl der Überforderung. Als würde man bei 300 Sachen auf der Autobahn den Kopf aus dem Fenster halten und das Grünzeug vom Mittelstreifen ins Gesicht geballert bekommen."
Und um alles noch viel schlimmer zu machen, klopfe ich mir jetzt auch nochmal auf die Schulter und sage: "Dis Morta" klingt genau so! Das Intensitätslevel kurz vor der Kernschmelze. Ein bisweilen völlig außer Kontrolle geratener Speed, den Lord Helmchen sehr akkurat mit "wahnsinnige Geschwindigkeit" beschreiben würde; vor allem "Sharp Razor" überdreht sich sogar manchmal über die Grenze zur Parodie hinaus. Die Songs schlagen Haken wie Mike Tyson in voller Blüte, sind kompliziert und progressiv - es geht rauf und runter, hin und her. In einem der Höhepunkte "Creating The Abyss" (uargh, diese Riffs!) channeln die Verrückten die Mitt- bis Spätneunziger-Phase von Nevermore in nie dagewesener Perfektion. Mit Ron Iglesias hat die Band zudem einen Sänger in ihren Reihen, der mit extrem hoher Stimme und maximaler Kontrolle durch die waghalsigsten musikalischen Stromschnellen marschiert, die ihm die Instrumentalabteilung im Hintergrund zwischen die Stimmbänder wirbelt, und der dabei noch die abgepfiffensten Gesangslinien wie in "Hyper Reality" aus dem Hut zaubert. Er ist jederzeit der absolute König jeder noch so verzwickten Situation. Und scheißrein: Josh Christian hat sich solche gleich säckeweise ausgedacht. Die ganze Band bewegt sich technisch auf allerhöchstem Niveau.
Werfen wir einen Blick auf die bisherigen Teilnehmer in meinem kleinen Jahres-Countdown, stellen wir eine gewisse stilistische Diskrepanz zu "Dis Morta" fest. Von meiner Lebensrealität im Hier und Jetzt ist so eine Platte ganze Universen entfernt, und ich habe mich hier in meinem virtuellen Musikzimmer nicht erst einmal darüber ausgelassen, wie sehr ich Ruhe und Einkehr als Gegenpol zu all dem Getöse um mich herum schätze, und wie sehr vor allem das Hören introvertierter elektronischer Musik mein Leben verbessert. Und doch gibt es nun hier diese besinnungslose Lobhudelei über "Dis Morta" zu lesen? Dazu zwei Einlassungen. Erstens: ich kann nicht aus meiner Haut. Ich liebe progressiven und abgedrehten Metal, ich liebe Thrash Metal, ich liebe geile Sänger über alles, ich liebe die Intensität, die Wucht, den Wahnsinn. "Dis Morta" drückt sämtliche Knöpfe bei mir - und dass es das im Jahr 2022 noch schafft, ist eine Grenzerfahrung in sich. Das bringt uns zu zweitens: "Dis Morta" ist im aktuellen musikalischen Klima des Metal ein geplatztes Furunkel am Arsch der Gleichmacherei und des stromlinienförmigen Formatmetals, den die ganzen Angsthasen und Nixkönner einer im tiefsten Koma liegenden Szene unentwegt ins Gesicht kotzen. Würde es heutzutage mehr Metalbands geben, die so mutig, so tollkühn, so virtuos und so kraftvoll klingen wie Toxik auf "Dis Morta", ich wäre mit einem Wimpernschlag wieder in der allerersten Reihe.
Vinyl: Sorry, aber bei dem erbarmungslosen Geschrote ist alles scheißegal, sogar die ungefütterte Innenhülle und die sehr schmale Aufmachung. Immerhin gibt's einen Einleger mit Texten. Sieht gut aus, klingt gut. Fertig. Bitte einfach nur kaufen, lieben, umarmen und bitte keine weiteren Fragen stellen. (+++++)
Ich hatte es im letzten Videoreview zu Voivods "Forgotten In Space"-Boxset bereits mehrfach angedroht, hier ist es nun: der zweite Beweis dafür, dass ich es mit vollmundigen Einlassungen wie "Ich mag keine Boxsets" oder despiktierlichen Fragen wie "Wer soll denn den ganzen Scheiß kaufen?" besser sein lassen sollte.
Ich habe mir also Overkills "The Atlantic Years 1986 - 1994"-Rückschau vorgenommen und dabei versucht, es wenigstens ein kleines bisschen weniger zäh werden zu lassen als mein Review-Debut, und was immerhin den Blick auf die Uhr betrifft, ist mir das auch ausnahmsweise gelungen. Inhaltlich gibt es immer noch konfus abschweifendes Gelalle - aber das sind meine werten Leser über die letzten 15 Jahre schließlich auch gewohnt. Und ein wenig Kontinuität erlaube ich mir durchaus in diesen so chaotischen Zeiten. Weil ihr es mir wert seid.
Beinahe fünf Monate Blog-Pause sind selbst für meine Wenigkeit ein starkes Stück. Es gibt Gründe - aber um offen zu sein: ich bin zu müde, um sie zunächst in Gedanken und anschließend Schrift nochmal Revue passieren zu lassen. Kommt Zeit, kommt irgendwas. Vielleicht aber auch nicht.
Ich habe indes nach reiflicher Überlegung, und wer mich kennt, weiß, dass "reiflich" die Untertreibung des Jahrhunderts ist, ein Video aufgenommen, in dem ich über das neue Vinyl-Boxset meiner allerliebsten Metalband VOIVOD referiere. Alles, was ich dazu benötigte, waren zwei Liter schwarzen Kaffees, drei frische Unterhosen und ein kleiner Spritzer LSD.
Ja, es ist viel zu lang. Niemand, wirklich niemand wird diese 32 Minuten durchhalten, ohne vorher sanft und friedlich wegzudämmern. Aber im Prinzip ist das nicht mein Problem.
Ja, es ist im Hochformat aufgenommen (was subbi dämlich ist). Das ist definitiv mein Problem.
Ja, ich bekomme Selbstschamattacken. Und es wäre furchtbar, wenn ich sie nicht bekäme.
Und dennoch: all das hält mich trotzdem nicht davon ab, derart full of myself zu sein, es hier zu posten.
Es wäre zu viel gesagt und gemeint, diese legendäre US Metal-Band zur "Banda non grata" im meinem Plattenschrank zu erklären, dafür sind mir ihre Alben nach dem 1991 erschienenen Klassiker "Symbol Of Salvation" alle zu sehr ans Herz gewachsen. Aber die Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten hatte auch im Fall von Armored Saint ein paar für mich kaum zu ignorierende negative Folgen: Schlagzeuger Gonzo Sandoval outete sich als beinharter Anhänger des orangeheaded fuckweasels und sorgte mit eindeutigen Posts auf seinen Social Media Kanälen für einige Irritationen Kotzkrämpfe im Hause Dreikommaviernull. Also schaltete ich folgerichtig und hinsichtlich aller Neuigkeiten aus ihrem Camp auf sturen "Ignore"-Modus, selbst nachdem Bassist Joey Vera mir auf Instagram tatsächlich schrieb, Gonzo spreche damit AUF GAR KEINEN FALL für den Rest der Band. Bon.
Steht aber ein neues Album auf dem Plan, kann ich im Prinzip kaum widerstehen, zumindest mal ein Test-Öhrchen zu riskieren. Die erste Single "End Of The Attention Span" war zwar gefällig, ließ sich aber dank des peinlichem Boomer-Texts und -Videos über die Abgründe dieser neumodischen Kommunikation über dieses "Internet" (o.s.ä.) noch schmerzfrei wegdrücken, bei der zweiten Auskopplung "Standing On The Shoulders Of Giants" brach jedoch die so sorgfältig hochgezogene Mauer im Schädel zusammen: eine geradewegs geniale Hookline, kraftvoll-frisches Songwriting "vom Fass" (Matthias Breusch), ein immergrüner John Bush, dessen Stimme einfach nicht altern will - eine Blaupause klassischen Heavy Metals mit implantiertem Jungbrunnen-Gen für die Ewigkeit. Ein Wahnsinn! "Punching The Sky" musste also trotz einiger moralischer Bedenken zunächst ins Warenkörbchen und anschließend auf den Plattenteller.
Rein taktisch ist die Songreihenfolge ein cleverer Schachzug: die beiden erwähnten und mit Abstand stärksten Tracks des Albums brennen gleich zu Beginn ein wahres Endorphin-Feuerwerk ab, danach reicht's jedoch allenfalls noch für ein paar LED-Lichterketten aus dem Sommerkatalog von Tchibo. Der Band gehen ab dem dritten Song hörbar das gute Songmaterial und die traditionell herausragenden Hooklines aus. Ausnahme ist das gute "Fly In The Ointment", für das aber auch Steve Harris angerufen hat und seine Akkordfolge zurückhaben will, er hätte da ein Copyright oder Patent oder dicke Backen oder was weiß ich. Was die Platte insgesamt rettet ist das nach wie vor umwerfende Energieniveau einerseits und die taufrische Inszenierung desselben andererseits - beides nicht zuletzt unterstützt von einer sensationellen Produktion, die perfekt zwischen modern-kraftvoll und klassisch-leger balanciert. "Punching The Sky" wirkt befreit und befreiend, sogar bisweilen hedonistisch. Muss man mit Mitte 50 auch mal hinbekommen.
Für eine Truppe, die so lange im Geschäft ist und wirklich so gar niemandem mehr etwas beweisen muss, ist das eine ziemlich große Leistung. Vermutlich ist "Punching The Sky" aus diesem Blickwinkel betrachtet insgesamt mehr als die Summe seiner einzelnen Teile - und darf daher zurecht in dieser Liste auftauchen.
DEADBEAT & PAUL ST. HILAIRE - FOUR QUARTERS OF LOVE AND MODERN LASH
Vier (grob) viertelstündige Dubtechno-Elegien auf dem zweiten Teamwork-Album von Deadbeat und Paul St.Hilaire massieren das Basis-Chakra und blasen beruhigenden Kräuterduft aufs dritte Auge.
Bei 35°C im nicht ganz optimal gedämmten Hinterhaus, frischer Wassermelone und einer Elefantendosis Novalgin (der Rücken, das Alter, es ist nicht schön) bummst einem der nach einigen Minuten einsetzende Bass im Opener "War Games" glatt aus der glorreich-glühenden Unnerbüx - ein Hoch auf die echten Könner, die sich für dieses Album um das Vinylmastering kümmerten.
Dunkel, hypnotisch, manchmal gar wie entfesselt groovend - ich möchte das auf einer pechschwarzen Tanzfläche in einem pechschwarzen Club hören. Mit meinem Kopf im Basshorn und einer 8 Hektar großen Grasplantage in den Bronchien.
Meine leider etwas holzig formulierte Lobeshymne auf eine der interessantesten, mutigsten, vielseitigsten, technisch versiertesten und scheißrein, ich sag's jetzt: besten Bands der 1990er Jahre ist schockierenderweise beinahe volle 12 Jahre alt, und es ist einer jener Texte, bei denen ich mir heute wünsche, ich hätte sie etwas später geschrieben. Es zeigt sich wiederholt, dass zwischen "gut gemeint" und "gut gemacht" zwei bis drei Enden der Welt liegen können; zumindestens gilt das für die frühen Texte des "Flohihaan" (Monaco Franze) - und manchmal sogar immer noch für das aktuell Erbrochene. Sad.
Inhaltlich gibt es indes nur wenig zu mäkeln, auch wenn meine Ergebenheit gegenüber ihrer Musik im Jahr 2021 sicherlich noch größer ist und im Falle eines heute geschriebenen Textes eine nochmal bedeutend euphorischere Wortwahl verwendet werden müsste. thOught industry stehen in meiner Realität in jener Reihe großer Bands, denen der "OK, Boomer!"-Sticker mit der Aufschrift "Solche Bands werden heute nicht mehr gebaut" bestens zu Gesicht stehen würden. Und verfickt nochmal, ich sag's jetzt nochmal, und zwar laut:
SOLCHE BANDS WERDEN HEUTE NICHT MEHR GEBAUT!!!1111eins1
Ich habe mich über die Jahre sehr oft gefragt, was die ehemaligen Mitglieder wohl heute so treiben mögen und auch wenn ich darauf immer noch keine Antwort habe, kam ich dem Mysterium dieser Irren kürzlich ein bisschen mehr auf die Schliche: Der Youtube-Kanal STAUNCH T.V. hat tatsächlich den früheren Gitarristen Christopher Lee Simmonds ausfindig gemacht und ihn eine knappe dreiviertel Stunde über die Geschichte der Band erzählen lassen. Es bieten sich so faszinierende wie abstoßende Einblicke in die Welt der thOught industry. Die wichtigsten Erkenntnisse, erstens: man muss nicht miteinander befreundet sein, um großartige Musik zu machen. Zweitens: Metal Blade waren (?) offenbar mal ein totaler Saftladen. Drittens: Suff und Drogen killen jede große Band, es ist schlicht erschütternd.
Wer die Band bislang nicht auf dem Radar hatte und nun Lust auf ihre Musik bekommen haben sollte: es ist egal, welches ihrer Alben man anwählt - sie sind alle (!) großartig. Kein Witz. Isso.
Corona-Lockdown-Soundtrack, Teil 2: Es gibt Musik in meiner Welt, die für immer mit einer bestimmten Zeit in meinem Leben verbunden sein wird; Alben und Songs, die Bilder, Situationen, Lebensgefühle in emotionale Frischhaltefolie gepackt haben und deren auch nur kurz aufzuckende Erinnerungsblitze sofort die Tür zur Herzkammer aufreißen und "Film ab!" rufen. In der Retrospektive sind das jene Platten, die bleiben werden, für immer. Und wenn ich mich endlich mal zu einer Entscheidung durchringen könnte, wäre das ganz eventuell die Antwort auf die sich seit Jahren in meinem Kopf windende Frage, wie der Auswahlprozess bei einer radikalen Verkleinerung der Tonträgersammlung wohl aussehen mag. Es klingt so einfach, aber ich würde mir lieber den kleinen Zeh mit einer rostigen Nagelschere entfernen oder ein Metalcore-Album bei vollem Bewusstsein anhören, als es wirklich durchzuziehen. Noch.
"Dwell" von Recondite aka Lorenz Brunner ist mein Soundtrack des ersten deutschen Corona-Lockdowns. Ich hörte im März und April des Jahres 2020 keine andere Platte so häufig - und keine andere Platte war in der Lage, mir dieses Gefühl der Geborgenheit und des Trosts zu spenden wie "Dwell" - und das ist deswegen bemerkenswert, weil "Dwell" weder Kuschelambient noch ein "Feel Good Hit Of The Summer" ist. Gehen wir also auf Entdeckungsreise.
Dämmerung. Fahles, gelbes Licht. Unschärfe. Zeitlupe. An der Oberfläche ist das kein ungemütlicher Ort. Es funkelt schwach unter der matten, glatten Fassade; ein paar fiebrige Erinnerungen, ein rauschhaftes Verlangen, ein sedierter Morgen danach. Es lässt sich sehr tief sinken mit dieser Platte, und vermutlich gilt das für exotherme wie auch für endotherme Lebensrealitäten, für die Extase wie für den Knacks. In beidem steckt Melancholie, sie unterscheiden sich nur in der Art der Lichtbrechung: das senkrecht auftreffende Licht ändert seine Richtung nicht, es erfährt weder einen Erkenntnisgewinn noch Varianz. "Ich will so bleiben wie ich bin", der ganze Wahnsinn einer Margarinewerbung in Schwermut gebadet. Anders das schräg einfallende Licht, das schon aus einer Quelle entspringt, die Zweifel, Kritik und Geistesgegenwart auf die Stirn küsste - und beim ersten Hindernis vom Weg abkam. "Dwell" hat all das mit seinem elegischen Ambient-House verinnerlicht; es spielt sein Blatt mit all dem Drama, all der Schwere - und verzieht dabei doch keine Miene. Bleibt nüchtern, hält sogar etwas Abstand ein, beschreibt und dokumentiert mehr, als dass es sich in das Schauspiel direkt hineinbegibt. Als hätte Lorenz "Dwell" auf eine Leinwand gemalt: da ist eine Verbindung zum Bild, aber fast keine zum Motiv.
Aber da ist noch mehr. Die dunklen, minimalistischen Melodiebögen, dessen Arrangements manchmal wie eine obskure Mischung aus spätromantischen Dead Can Dance und torkelnden Boards Of Canada klingen und die Weite in den großen, kargen Flächen dieser Songs bis hin zur Klaustrophobie verengen können. Darunter der stoische Beat, der ab und zu ins Stolpern gerät und mit überraschenden Trap-Elementen spielt, dazu die nervöse, zitternde HiHat. Bei aller Elegie - hier brodelt auch etwas Unheilvolles unter der Oberfäche vor sich hin. Vielleicht hat sich mein Gefühl der Unsicherheit und der Furcht im vergangenen Jahr in dieser Musik gespiegelt und vielleicht kam darüber die enge emotionale Bindung zu "Dwell".
"Dwell" kann all das. Die Endorphin-Rumba im Hedonismusmantel, Leidenschaft bis zur Selbstaufgabe - und zum Sun-Downer ein Diazepam-Flip mit Kirschwasser. Der süße Nektar des Scheiterns. Endlich daheim.
Im vergangenen Jahr beendete ich mein Review zu Purl's "Violante (Lost In A Dream)" mit der an den Erschaffer gerichteten und explizit anerkennenden Botschaft, er, Ludvig Cimbrelius (nebst seiner neun Aliasse, sind wir heute mal verschwenderisch), sei ein "fucking wizard". Seit 2015 kenne ich nun seine Musik, wenn auch nicht allumfassend, dafür ist das Volumen seines Oevres meinen Hör-Realitäten schlicht nicht angepasst, aber sie gehört mittlerweile sicherlich zu jener Musik, die aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken ist.
Niemand klingt so wie Purl. Niemand malt solche Bilder aus Klang. Niemand sonst kann mit Tönen Deine Haut streicheln; so als wehe eine warme Brise über den Körper hinweg und verstrubbelt Haare, Herz und Seele. Niemand sonst kann so viele Türen öffnen, so viele lichtdurchflutete Räume schaffen.
"Renovatio" schwebt wie eine weiße Feder in Richtung Sonne und man weiß nie so recht, ob sie angetrieben oder angezogen wird, von Licht, von Liebe, von Freiheit, einer Art Entgrenzung? Oder gar - vom Mangel von all dem? Wenn es ganz besonders dunkel wird, ist schließlich selbst der kleinste Funken, das kaum wahrnehmbare Flackern einer Reflektion, wortwörtlich jetzt: ein Hoffnungsschimmer. Das mag nun selbst für einen wie mich erschütternd trivial sein, aber die bloße Anerkennung eines Mangels, einer Lücke, setzt Mechanismen in Gang, damit diese Lücke geschlossen werden kann. Dafür (und daraus) ist "Renovatio" gemacht: für Einkehr, Entdeckung, Offenbarung, Nacktheit, Fülle, Schönheit, Schutzlosigkeit, Offenheit. Wer sich nicht nur mit dieser Platte, sondern im Grunde mit Ludvigs Gesamtwerk auseinandersetzt, findet all das im transzendentalen Bewusstsein seiner Musik, das so expansiv und verschwenderisch wie demütig und unschuldig ist.
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Dunkelheit ist einfach. Zynismus ist einfach. Profanität ist einfach. Sich aus diesem Kokon des Untergangs zu befreien und seinen stets so verlockenden Rufen zu widerstehen, die Fläche zu verlassen und stattdessen tiefer, in die Vertikalität zu gehen, zu suchen, die Introspektion umzukehren und sie expressiv ins Draußen zu tragen, ist eine Herkulesaufgabe. Ich kann nur erahnen, wie viel Kraft notwendig ist, um diesen süßen Duft dieser ultimativen Freiheit in Tönen zu manifestieren - die Glücksgefühle beim Hören sind dagegen äußerst gegenwärtig.
Ich darf vorstellen, Bob Mould, Weltkulturerbe. Seit 40 Jahren schreibt niemand sonst solche Songs. Keine andere Gitarre, keine andere Stimme klingt wie seine. Wer würde es angesichts dieser Karriere wagen, nicht alle Hüte zu ziehen?
Ich war zu jung, um Hüsker Dü mitzuerleben, aber ich kam gerade richtig für Sugars "Copper Blue": diese seltsame Mischung aus Melodie und Monotonie, Pop und Punk wurde für mich zu einem der einflussreichsten Alben der 1990er Jahre. Ich lernte viel von dieser Platte. Vielleicht war es für einen, der sich lange im Heavy Metal herumtrieb und seit ein paar Monaten im völlig besinnungslosen Grunge-Fieber war, auch eine der ersten Platten, die sich "Indie" anfühlte. Ich verlor danach Mould für sehr lange Zeit aus den Augen. Erst 2016 mit dem Album "Patch The Sky" stieg ich wieder ein und es gehört zu den eher unverzeihlichen Fehlern dieses Blogs, bislang noch kein Wort darüber verloren zu haben, denn "Patch The Sky" war Türöffner und Auferstehung zugleich: nicht nur verpasse ich seitdem kein neues Album mehr, ich habe auch die Sammlung mit früheren Werken aufgefüllt. Ab dem 2012 erschienenen und sowohl von Fans als auch Kritik gleichermaßen gefeierten "Silver Age" nagelt mir der Mann im Prinzip ausschließlich Hochklassiges auf den Plattenspieler. Für meine Begriffe liegt das nicht zuletzt an seiner Band: Jason Narducy am Bass und Monstertrommler John Wurster am Schlagzeug haben genügend Drive und Punch, um auch manchmal Schaumgebremstes mit Wucht und Spielfreude über die Ziellinie zu kicken, wenn es notwendig ist.
"Blue Hearts" ist Moulds 13.Soloalbum und es ist eines seiner Zornigsten. Trump, Umweltverschmutzung, Rassismus, Republikaner, Scheinheiligkeit, Fanatismus - Mould hat die Schnauze voll, er schreit, er bebt, er tobt. Mit zitternder Stimme singt er in der Einleitung "I wear my heart on my sleeve, don't know who to believe any more". Alles muss raus. Und es geht wortwörtlich Schlag auf Schlag: die Band macht zwischen den Songs praktisch keine Pause. Ein brillanter Pop-Indie-Alternative-Punk-Smash-Hit nach dem anderen batscht mir auf die heruntergeklappte Kinnlade, dazu gibt's die so heiß geliebten Momente der Tiefe wie in "Forecast Of Rain" oder "Password To My Soul", die in dieser Form wirklich nur Bob Mould und seine Band spielen können. Alleine in einem Gitarrenanschlag stecken mindestens dreikommaviernull Millionen Universen an Farben, Tönen, Perspektiven und Emotionen.
Wenn mir der Trump'sche Irre aus dem Weißen Haus oder die Nazis der AFD und ihre lobotomierten Sackgesichter auf Social Media zu nahe auf die Pelle rücken und mir das Hirn verklebten: "Blue Hearts" war ein hervorragend funktionierendes Antidot.
Okay! Hör' zu! Du hast LSD genommen und stehst in einem Spiegel-Irrgarten. Die Hosen voll (literally!), der Kopf halbleer, die Pfanne mit den Rühreiern: in Flammen. Du bist seit 5 Tagen wach, tripping your fucking ass off. Eier wärn's jetzt, aber vegane, ohne Tierleid. This is your brain on drugs - gelungene und vor allem erfolgreiche Initiativen gegen Drogenkonsum, die dreihundertvierzigste. Schnitt, dann voller Zoom auf die virilen Schmalspurrocker von Placebo. Anruf beim Dealer. Hochdosis, bitteschön.
Kein Mensch weiß, wo das alles anfing. Der junge Inuk, den ich heute Vormittag beim Rennrodelnachmittag in Oberkassel getroffen hatte, hat mir eben gerade noch sein Einfamilienhaus gezeigt, ein prachtvolles Etablissement aus getrockneten Fettaugen am Rande der Tundra, mit so kleinen Schaschlikspießchen und Zahnstochern, hihi, wie klein die waren! Dann hat er mir frisch gemolkenes Walfett angeboten (mit Maggi; der Kapitalismus schreckt einfach vor nichts zurück!) und im nächsten Augenblick sank ich hinab auf den Meeresboden. Ich glaube, mit dem Maggi war was nicht in Ordnung, seit wann ist die Brühe denn auch bitte grün? Jedenfalls: Wer immer noch behauptet es gäbe keine Außerirdischen, war noch nie vollverstrahlt 8000 Meter unter dem Meer. Manchmal blinkt es einfach nur. Alles. Das flackert alles. Von wegen Dunkelheit, "ist doch taghell" (B.Spencer) - man darf einfach keinen Meeresbiologen glauben, ich sag's seit Jahren, Jacques Sielmann, Heinz Cousteau, die wissen ja auch nichts. Und woher auch?! Haben sie schonmal einen Meeresbiologen gesehen, der sich auf LSD in die Hosen gekackt und mit zerfransten Schwebewürsten aus Alienhausen eine spirituelle Verbindung über eine Außenbeleuchtungs...äh...girlande von Tchibo (9,99€, "für ihren Post-Corona-Gangbang in ihrem wunderschönen Garten") etabliert hat? Blink, blink, blink. Blinkblinkblinkblink. Na?! Naaaa?! Glaubt denen bloß nicht. Hier tobt Captain Picards Unterhose mit sechs Milliarden Jahren altem Amöbenschleim durch die Warp-Spulen!
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Die Nase blutet, aber gut - ich bin jetzt schon stundenlang gegen diese verfickten Spiegelwände gelaufen. Sehe aus wie dieser Andrew W.K. damals. Ob der sich wohl wirklich auf die fiese Fresse gelegt hat? Oder wurde der etwa...GESCHMINKT?! Ist auch so scheiße hell hier. Ich hasse Helligkeit. Wenn's nach mir ginge, und es geht praktisch nie nach mir, verbringe ich mein Leben im Dämmerzustand, sowohl mental, als auch hinsichtlich meiner Rolladenwahl (schwarzes Blei, wattiert). Helle und kalte Wintertage sind die Höchststrafe. Wenn man mich foltern will, schickt man mich am besten an einem Sonntagmittag bei -5°C und Tschernobyl-Nachglüh-Gedächtnissonnenschein auf ein offenes Feld und lässt mich da einfach inmitten der sehr guten Pflanze Qungilik rumstehen. Arschkalt, scheißhell - aber geile Pflanzenproteine "zwischen die Kiemen" (Manfred Krug) schieben!
"It's the quietest place." - und Muh macht die Kuh.
Apropos Kuh: Ich habe eben Bill Drummond und Jimmy Cauta gesehen. Tragen nun auch Vollbärte (untenrum), sagen, 1990 sei die beste Zeit für "Porn" (Mike Pence) gewesen; ich glaube, wegen Bush - hab's aber nicht genau verstanden, die beiden sakrilegen Sackgesichter haben Kühe umgeschubst und das dann irgendwie fotografiert, mit einer Schuhschachtel, oder so. Das war dann auch zu laut, die haben die ganze Zeit mit dem Dean Jones am Telefon rumgestritten und dabei rumgebrüllt, sorry, hab's einfach nicht gehört. War aber auch zu hell. Kennt das eigentlich sonst noch jemand, dass man die Musik leiser dreht, um besser zu sehen? Was ist da eigentlich genau kaputt, weiß man da schon mehr? Sollen ja einen launigen Humor gehabt haben, Drummond und Cauta. Eigentlich kam da ja schon lange nix mehr ran, an diese Platte mit den Kühen. Die hatten sich bestimmt auch früher Maggi reingechillt und danach in die Hosen geschissen. Ich hoffe, es geht ihnen gut.
Heute bleibt die Küche kalt
Gerutscht wird auf den Fliesen
Magnesia ist des Turners Kalk
hätt' ich jetzt gern frische Hosen (zum Genießen)
(Christian von der Morgenlatte, um 1776)
(Das trippigste Album des Jahres. Ich empfehle vehement, sich den einstündigen Album-Mix einzuflößen. Und weil ich auch einen launigen Humor habe, manchmal, stelle ich mir jetzt mal vor, wie jemand den ganzen Quatsch hier in den Google-Translator reinhaut. LOL!)
36 & zakè - STASIS SOUNDS FOR LONG-DISTANCE SPACE TRAVEL
"Just sitting around waiting for this world to end."
(JUD)
Covid-Lockdown-Soundtrack, Teil 1: als im März des letzten Jahres die Situation erstmals so richtig ungemütlich wurde, die Angst das Zepter in die Hand nahm und plötzlich alles aus den Fugen zu laufen schien, war ich emotional in keinem guten Zustand. An meiner eigenen, konkreten Lebensrealität gab es nur wenige wirklich spürbare Veränderungen, aber es machte den Eindruck, als würden die Ängste und Sorgen eines ganzen Landes sich mit den meinen verbinden - und alles wurde gleichzeitig größer und dunkler und unberechenbarer. Die Dynamik aus den Anfangstagen dessen, was gemeinhin unter dem Begriff "Lockdown" bezeichnet wurde, zusammen mit den minütlich auf allen Kanälen abgefeuerten Informationen, sowie die daraus stets wahrnehmbare Verunsicherung, empfand ich als äußerst unangenehm. Mich beeindruckte das sehr, seelisch wie körperlich.
"Stasis Sounds For Long-Distance Space Travel" war (und ist) Klang gewordener Balsam in jener Zeit und es hat den Anschein, als sei diese Musik für genau solche Situationen gemacht worden. Der ursprüngliche Gedanke des Albums, "intended for the listener to embrace moments of stillness, quietude and reflection", neben einem Sci-Fi-Plot mit der Idee der künstlichen Stase, einem Schlafzustand, in dem man sich durch Raum und Zeit bewegt, ohne Raum und Zeit wahrzunehmen, morphte mit der Angst, sich künftig mit den guten Gästehandtüchern den Hintern abzuwischen, denn die kapitalistische Entsolidarisierung macht eben auch vor Scheißhauspapier nicht Halt, in ein kosmisches Hintergrundrauschen, das beruhigte und die Reise ins Innere, "die Reise ans Ende des Verstandes - für viele von uns nur ein Kurzausflug" (Schmidt) tatsächlich mit Zuversicht und Trost untermalen konnte. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich das verstand - die kaum wahrnehmbare Schwingung, die minimalistische Dehnung in dieser Musik erscheinen zunächst blass, geglättet, sie fordern prima vista auch keine Emotionalität heraus. Erst über die Zeit erkannte ich die Tiefe in der Repetition, die Zuflucht in der Dürre, die Innigkeit des Nichts.
Es ist überaus bemerkenswert, wie viel Macht Musik haben kann.
Das letzte Konzert vor dem Virus. Ende Januar 2020 stand ich mit etwa 50 anderen Menschen im erschütternd leeren Colos-Saal in Aschaffenburg und ließ mir von GOLD Blutdruck und Herzfrequenz auf Stufe 11 drehen. Keine Ansagen, keine Zugaben - einfach nur auf die Bühne gehen, alles, aber auch wirklich alles supertight abreißen, und wieder gehen. Ich weiß noch, dass ich nach diesen 60 Minuten völlig euphorisiert und unangenehm laut "So macht man das! Genau so macht man das! NUR SO! EXAKT! GENAU! FUCKING! SO! MACHT! MAN! DAS!" rief und beim anschließenden Merch-Irrsinn sehr eindringlich auf Gitarrist Thomas Sciarone einredete, die Band möge sich bitte von der spärlichen Kulisse und dem fehlenden Zuspruch, dem quantitativen zumal, nicht beeindrucken lassen und für immer weitermachen - und dass, obwohl ich mich mit vermeintlich unangebrachten Reaktion gegenüber Musikern in der Regel sehr zurückhalte, weil ich diesen (und allen anderen) Menschen wirklich nicht auf den Sack gehen will.
GOLD hatten für 2020 einen gut gefüllten Tourkalender. Die Corona-Zwangspause wurde mit nicht weniger als drei Veröffentlichungen überbrückt, die zunächst digital über ihre Bandcamp-Seite, später im Herbst als Sammelband unter dem Titel "Recession" auf Dreifach-Vinyl erschienen: "The Isolation Sessions", ein Live-Mitschnitt aus dem April 2020 eröffnete den Reigen, gefolgt von den intimen, nur von Sängerin Milena Eva und Thomas Sciarone aufgeführten "The Bedroom Sessions" im Juni und einer Zusammenstellung bislang unveröffentlichter Songs und Demoversionen unter dem Titel "The Archive Sessions" einen Monat später.
Es war bereits bei dem immer noch aktuellen Studioalbum "Why Are You Not Laughing?" erkennbar, und ich muss es auch angesichts der Sammlung auf "Recession" wiederholen: das Aufregendste beim Eintauchen in den Kosmos von GOLD ist die Offenlegung der zu ihrem Selbstverständnis gehörenden bedingungslosen Verletzbarkeit und der gleichzeitig daraus erwachsenden Kraft - beides elementare Bestandteile ihrer Musik, ihrer Texte und ihres ganzen Auftretens. Es ist jene Ambivalenz, die diese Band so besonders macht und die sie mittlerweile so selbstbewusst und intensiv wirken lässt. Ihre Ideale und Überzeugungen zeigen sich dabei so tosend wie der sich entfesselt aufbauende Orkan aus den so dürr und nervös klirrenden Gitarren und den hypnotischen Schlagzeugfiguren mit Sängerin Milena Eva als Zeremonienmeisterin im Auge des Sturms: so karg und kühl ihr Vortrag an der Oberfläche erscheint, so unerschrocken kompromisslos und unmissverständlich ist ihre Botschaft von "individual empowerment", wenn sie von toxischer Maskulinität singt, von Unterdrückung, von ritualisierten und zementierten Geschlechterrollen, von Verlust, von Depression.
Die Durchschlagskraft dieser Idee, diesem alles zusammenhaltenden Netz aus Worten und Tönen, dieser Aura von Klarheit und Mut, zeigt sich in jeder Sekunde der drei Eingangs erwähnten Alben, und dabei ist es egal, wie intim, spröde, fiebrig oder überspannt das Flackern ihrer Musik ist.
Vielleicht die faszinierendste Band, die Rockmusik gerade zu bieten hat.
Dieser aurale Zaubertrank führt Dich in ein unterirdisches Labyrinth mit 52°C Kerntemperatur und einer Luftfeuchtigkeit von 340%. Hypnose. Dunst. Freiheit. Sex. Der Bass schon beim ersten Schritt so tief, das Zwerchfell wird zum Trampolin. Die Orientierung ist außer Funktion. Roter Alarm.
"Shadow Dancer" ist ein geheimnisvoller Ort. Ebene um Ebene verschluckt es jeden in dieser kilometertief in die Erde gebauten Welt, saugt alles ein, lässt nichts mehr los. Freaks huschen durch schmale, nur von einzelnen Fackeln schwach illuminierten Gänge, es riecht nach verbranntem Holz. An den aufgerauten, porösen Steinwänden flackern tanzende Schatten. Vielleicht schanzen auch tackernde Flatten. Ihre Körper sind unsichtbar, nur ihre Silhouetten bewegen sich zu den tribal-artigen, nie enden wollenden Schlägen und Rhythmen. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich. Sie rufen Dich...
...die Welt ist weit weg. Tageslicht hat hier unten niemand gesehen. Schon seit Wochen nicht. Oder waren es Jahre?
2020 hätte viel verdient gehabt, zum Beispiel eine vorbehaltlose und uneingeschränkte Selbstauflösung ab sagen wir mal April. Darüber hinaus: eine eigene Digital-Best Of-Liste. Ich habe noch nie soviel digitale Musik gekauft und gehört wie 2020 auf Bandcamp, und die ab März regelmäßig durchgeführten sogenannten Bandcamp-Fridays zur Unterstützung der von Corona und der daraus resultierenden Komplettabschaltung jedes Kulturbetriebs ordentlich durchgeschüttelten Künstler und Labels, haben daran sicherlich einen sehr großen Anteil gehabt. "Eyes Open" von The Vision Reels (aka Adam O'Hara, u.a. Gründer von Groundwork Recordings) rutschte in letzter Minute in meine Top 20, und ist damit auch das einzige Album meines kleinen Countdowns, das nur im digitalen Format verfügbar ist. Das ist ungewöhnlich, weil ich eigentlich vorhatte, solche Formate künftig nicht mehr in Betracht zu ziehen; man sieht mir meine Quatschhaltung in dieser Sache bitte nach. Mein musikalisches Leben und die daran angebundenen Lebenslinien drehen sich nun mal in erster Linie um Schallplatten als künstlerisches Ausdrucksmittel, daher geht es in mir in erster Linie um die Abbildung ebenjener. Manchmal komme ich aber trotz solch prätentiöser Totalverbretterung nicht drum herum - wie eben bei und für "Eyes Open".
Ich weiß praktisch nichts über Adam O'Hara oder dieses Album. Es war ein ziemlicher Zufallstreffer auf Bandcamp, vermutlich stolperte stöberte ich durch eine Sammlung eines anderes Nutzers und wurde vom tollen, an Astral Industries-Artworks angelehnten Cover (Dima Rabik) angezogen. Und Anziehung ist das Schlüsselwort für "Eyes Open". Ganz egal, wie viel mir wegen Lohnarbeit, Haustier, Corona und geradezu Tonnen anderer Musik um die Ohren flog, kam ich immer wieder zurück zum sanften, nächtlichen Puls dieses Albums. Über den Lichtern der Stadt, leise und elegant fließend, und ein Timing mit beinahe sedierender Wirkung - wenn das Ketamin mal wieder mit (benutztem) Katzenstreu und Palmin gestreckt wurde, programmiert man den Player einfach auf 72 Stunden Endlosschleife und lässt die Nachbarn sich darüber wundern, warum seit Freitagabend die Rollläden nicht hochgezogen wurden.
O'Hara wählt für sein Debut unter dem Projekt The Vision Reels einen sehr aufgeschlossenen Ansatz, der glücklicherweise keine Gefühlsduselei benötigt. Ich empfinde "Eyes Open" als durchaus emotional, introspektiv, manchmal in der bildhaften Darstellung von objektiver Schönheit geradezu betörend, insbesondere zu hören beim funkelnden Titeltrack, bleibt dabei aber erstaunlich zurückgezogen, ja fast nüchtern. Nicht freudlos, nicht akademisch, aber distinguiert und abseitig genug, um selbst für die Momente einer stärker ausgeprägten Zugänglichkeit in den Tracks "Chrysanthemum", einem tief pochenden Unterwasser-Star-Ride und dem urban glitzernden "Sacred Architect" der Hood mitzuteilen, dass der Sepiafilter zum Sonnenuntergang auf Ibiza weder angebracht noch erwünscht ist.
Besser Rollläden runter und einsam im Licht der Lavalampe wegdämmern. Leben 2020 FTW.
Von Hippie-Eso-Rock der 90er Jahre über Broken Beat, Future Jazz, Noise-Goth zu Folk Metal - und Sie fragen mich ernsthaft, warum hier niemand mitliest?!
"Irrational Anthems" war das letzte fehlende Vinyl-Mitglied der Skyclad-Sammlung (was nicht ganz richtig ist, weil ich die Picture Disc vor genau 20 Jahren in einem Plattenladen in Lübeck entdeckte - aber...). Ich habe den Fund der Originalausgabe Freund Jens zu verdanken, der seine Augen und Ohren in den Social Media'schen Verkaufs- und Tauschgruppen für mich immer weit geöffnet hat.
Wie ich zu dieser ehemals so fantastischen Band aus Newcastle stehe, lässt sich für Interessierte HIER nochmal ausführlich nachlesen - wenn's ein bisschen mehr sein darf, klickt man am unteren Bildrand auf "Neuerer Post" und kommt darüber zu den Einzelreviews - und wo wir gerade hier sind, verlangt es der Anstand, auch auf meinen damaligen Text über "Irrational Anthems" hinzuweisen, in dem ich abschließend befand, das Album sei zwar im Prinzip absolut fehlerfrei, als möglicherweise einziges Skyclad-Werk indes nicht so irre gut gealtert. Und es stimmt: einige Songs dieser Platte habe ich in meiner Jugend auch schlicht bis zum Ohnmachtsanfall abgenudelt; der Eindruck also, Hits wie "Penny Dreadful", "No Deposit, No Return" oder "Inequality Street" seien in einer Zeitkapsel eines bestimmten Lebensabschnitts eingeschlossen und könnten nie wieder unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen jener Zeit gehört werden, ist sicherlich nachvollziehbar.
Das nimmt allerdings nichts von Glanz und Wichtigkeit von "Irrational Anthems", was mir bei der neuerlichen Auseinandersetzung, ganz besonders mit den Songs der vermeintlich zweiten Reihe, bewusst wurde: "Snake Charming", "The Sinful Ensemble"(!), "My Mother In Darkness"(!!), "I Dubious"(!!!) und "Science Never Sleeps" sind einfach unsterbliche Klassiker.
Und ich erneuere hiermit meine frühere Einschätzung: Diese Band hat in den 1990er Jahren keinen auch nur mittelmäßigen Ton aufgenommen. Alles aus Gold.
"I'm New Here" ist möglicherweise die wichtigste Platte des vergangenen Jahrzehnts. Mir wurde das in vollem Umfang erst in den letzten Tagen so richtig bewusst, als ich mich nochmal mit dem Werk beschäftigte, um die richtigen Worte für diesen Text zu finden (und im Anschluss des neuerlichen ersten Durchlaufs natürlich dann doch die kürzlich veröffentlichte Jubiläumsausgabe auf pinkem und grünem Vinyl bestellte - einfach, weil ich nie gesagt habe, ich sei nicht quadratverblödet).
Bis in den Februar des Jahres 2010 war mir der Name Gil Scott-Heron zwar durchaus geläufig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, seine Musik jemals bewusst gehört zu haben. In den 1980er und in weiten Teilen der 1990er Jahre wäre ich für seinen Sound sowieso noch komplett juvenil-vernagelt gewesen, und die erste Hälfte der nuller Jahre waren hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung noch zu sehr von den Irrungen und Wirrungen meiner Orientierungslosigkeit aus den späten neunziger Jahren geprägt, als ich mit den neuen Entwicklungen in der alten Komfortzone nicht mehr klar kam. Oder deutlicher: als Heavy Metal anfing, so richtig knalldoof zu werden. Erst mit der Entdeckung Coltranes in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wurde vieles wieder klarer. Und just, als ich knietief in Freejazz-Kakophonien von Clifford Thornton und William Parker stand und mich mit entsprechender Literatur immer tiefer in den Kaninchenbau hineinwühlte, holte Produzent und XL Recordings-Gründer Richard Russell den vom Leben gebeutelten Scott-Heron aus der Versenkung. Ich war bereit.
Russell hatte dieses Projekt schon lange geplant. Er kontaktierte Scott-Heron erstmals, als jener noch wegen Kokainbesitz auf Rikers Island einsaß und erzählte später, sie hätten schon in ihren ersten Briefwechseln auf einer Wellenlänge miteinander kommuniziert. Russells Begeisterung war offenbar ansteckend: der Godfather of Rap lehnte normalerweise die meisten Anfragen ab, für "I'm New Here" sagte er jedoch sofort zu - auch wenn er später davon sprach, das Album sei in erster Linie Russells Werk:
"This is Richard's CD. My only knowledge when I got to the studio was how he seemed to have wanted this for a long time. You're in a position to have somebody do something that they really want to do, and it was not something that would hurt me or damage me—why not? All the dreams you show up in are not your own."
Richard hatte von Beginn an eine Vision für "I'm New Here", die von Scott-Herons Debut "Small Talk at 125th and Lenox" beeinflusst war: minimalistisch, spartanisch, dürr. Auch die kurze Spieldauer von gerade mal 29 Minuten entspringt diesem Gedanken, denn auch, wenn die Sessions mehr aufgenommenes Material hergaben, sollte die Platte in einem hochkonzentrierten Durchgang alles sagen, was es zu sagen gibt. Das ist geglückt. "I'm New Here" ist ein tief grummelndes, nachdenkliches Stück Musik zwischen dystopisch pumpenden Beats und dunkel schimmerndem Blues, in dessen Kern Scott-Herons schlackernder Bariton-Sprechgesang das Leben reflektiert, Bilanz zieht. Und so hart er mit sich selbst ins Gericht geht, so weise sind seine Pointen.
Because I always feel like running
Not away, because there is no such place
Because if there was I would have found it by now
Because it's easier to run
Easier than staying and finding out you're the only one
Who didn't run
(aus "Running")
And I'm shedding plates like a snake
And it may be crazy, but I'm
The closest thing I have
To a voice of reason
(aus "I'm New Here")
Ich war von "I'm New Here" ab der ersten Sekunde fasziniert. Alles, was dieser Mann in diesen 29 Minuten sang und sprach klang wichtig. Fürs Leben. Fürs Anerkennen der eigenen Limitiertheit. Fürs Erforschen der Möglichkeiten - weil es hinterm Horizont eben weitergeht, dem eigenen zumal. Wusste schon Udo "Dichter Denker" Lindenberg. Und hinter meinem Horizont ging es tatsächlich weiter, denn "I'm New Here" war die Initialzündung für das Entdecken von Scott-Herons Musik. Die frühen Arbeiten aus den 1970er Jahren mit seinem kongenialen Mitstreiter Brian Jackson. Die drei Soloalben aus den Achtzigern, die bislang nicht neu aufgelegt wurden und kommerziell nie an die früheren Klassiker heranreichten. Das 1994er Album "Spirits", das seinen Ruf als "Godfather of Rap" nur weiter im Boden des zu jener Zeit in voller kommerzieller Blüte stehenden HipHops verwurzelte.
So wie Iron Maidens "Live After Death" mich zum Metal, "Nevermind" zum Alternative Rock, Bad Religions "Generator" zum Punk, bvdubs "The Art Of Dying Alone" zum Ambient und das SF Jazz Collective zum Jazz brachte, öffnete "I'm New Here" die Türen zum Soul und Funk. All diese Begegnungen mit Musik waren lebensverändernd, grenzenlos wichtig für das eigene Selbstverständnis, zur Selbstidentifikation. Ich sah die Welt jedes Mal mit anderen Augen, wenn sie mir von Steve Harris, Kurt Cobain, Greg Graffin, Brock van Wey, John Coltrane und Gil Scott Heron in neuem Licht gezeigt wurde.
Vielleicht ging es vielen Menschen mit "I'm New Here" ähnlich. Richard Russell sollte sein Ziel, Scott-Heron auch jungen Menschen näher zu bringen erreichen - was nicht zuletzt mit den aus den Sessions entstanden Remix- und Tributeplatten gelingen sollte, die Jamie XX mit "We're New Here" und kürzlich Schlagzeuger Makaya McCraven mit "We're New Again" produzierten.
I think, for whatever reason, I feel a bit of duty to introduce him to people because he was never that commercial, crossover figure. What Makaya [McCraven] did and what I asked Jamie [xx] to do earlier is all a part of that reintroducing. Historically, there’s a lot of great artists who get overlooked. It makes me happy that Gil is not one of them and that people are still discovering him.
Ich habe Gil Scott Heron wegen Richard Russell entdeckt. Der Einfluss auf mein Leben war und ist bis heute allgegenwärtig. Dankbarkeit.