04.04.2021

Best of 2020 ° Platz 1 ° Night Sea - Still



NIGHT SEA - STILL

I'm looking California
And feeling Minnesota
(Soundgarden)

Das Album des Jahres kommt aus den tiefen Urwäldern British Columbias, von meinem neben A Strangely Isolated Place anderen, meinem also zweiten Lieblingslabel Silent Season. Labelchef Jamie sagt selbst, Silent Season hätte 2020 mit lediglich zwei physischen und drei digitalen Veröffentlichungen ein ziemliches "low-key"-Jahr gehabt (neben "Still" kam nur noch Tomas Jirkus "Touching The Sublime" auf Schallplatte heraus, ebenfalls ein sehr gutes Album), aber wenn solch ein Meisterwerk wie "Still" auf dem Radar ist, kann ich mit einem heruntergefahrenen Ausstoß an neuer Musik bestens leben. 

Nach spätestens 2 Minuten und 53 Sekunden mit "Still" ist klar: das ist eine besondere Platte und das wird in den folgenden 48 Minuten ein besonderer Trip. Wenn sich durch den langsam aufziehenden diesigen Ambientschleier plötzlich ein Energieblitz aus den Schallplattenrillen über den Tonabnehmer, Tonarm, die Innereien des Plattenspielers über die Kabel in den Lautsprechermembran seinen Weg bahnt, unaufhaltsam und mächtig und beinahe physisch spürbar direkt in dein Herz schießt - Treffer, versenkt. Was für ein Einstieg. Eigentlich eine eiskalte Dusche nach dem 180°C Saunagang - danach folgt totale Entspannung: sanft fließende Dub-Variationen, aquatische Motive, Levitation im freien Raum. 

Denn "Still" ist das beruhigendste und gleichzeitig betörendste Album des Jahres. Ich habe es im vergangenen Sommer tatsächlich in erster Linie in jenen Zeiten gehört, die nach aktiver Entspannung gerufen haben; wenn also Lohnarbeit, Leerdenker und Leben über das wucherten, was in normalen Zeiten noch geistige Gesundheit genannt wurde, war "Still" ein außerordentlich starkes Sedativum, das allerdings nicht die Sinne betäubte und dämpfte, sondern sie öffnete. In den vergangenen Texten über die Top 20 des vergangenen Jahres hatte ich mehrfach die Ambivalenz erwähnt, die ich in so mancher Musik entdeckt zu haben meinte - sei es aus Projektion und selektiver Wahrnehmung, 's is' eh schon alles egal - und die ich vermutlich deswegen so attraktiv finde, weil sie mich in der Notwendigkeit bestärkt, Grautöne wahrzunehmen, besser: wahrnehmen zu müssen, um die Welt und mich selbst zu verstehen. Denn das ist vielleicht immer noch der heilige Gral, den es im Leben zu finden gilt: Verständnis, Aufklärung, Bewusstheit. Alles, was mich diesem Kern näherbringt, hat Bedeutung und Wirkung. 

Das bemerkenswerte an "Still" ist: da ist keine Ambivalenz. Da ist keine Projektion und keine selektive Wahrnehmung, da sind keine bohrenden Zweifel, kein Grau, da ist kein Zaudern. Stattdessen: Klarheit. Tiefe. Wärme. Natur. Verbundenheit. Empathie. Ursprünglichkeit. Und die Erkenntnis, dass es keinen Antagonismus benötigt, um auf die andere Ebene, die andere Seite zu kommen. Ganz im Gegenteil: Es braucht Einigung. 

Viel näher kommt man an das Licht nicht heran.  


   

Erschienen auf Silent Season, 2020. 


03.04.2021

Best of 2020 ° Platz 2 ° War On Women - Wonderful Hell





WAR ON WOMEN - WONDERFUL HELL

"If you say you're not a feminist, it's kinda like admitting a lot of really weird shit about yourself." 
(Tim McIlrath)


Ich habe seit Jahren einen Narren an dieser Band gefressen, ich geb's zu. Seit der ersten Begegnung im Vorprogramm von Propagandhi bin ich fasziniert von dem damals noch sehr aufgerauten und nervösen, heute melodisch ausgefeilteren Hardcore-Punk-Gemisch, den völlig kompromisslosen und konfrontativen Texten, ihrem rigorosen Auftreten. Wo sie es einem anfangs noch etwas schwer machten, die von naiver Ungestümtheit und der zügellosen Stimme von Sängerin Shawna Potter geprägten Punkeruptionen der EP "Improvised Weapons" vorbehaltlos zu umarmen, machen sie es einem spätestens ab dem ersten selbstbetitelten Album praktisch unmöglich, ihnen die kalte Schulter zu zeigen. Sie wurden immer besser, sowohl auf Platte als auch live: zwischen der ersten Show im Jahr 2013 bis zum letzten Auftritt im sommerlichen Wiesbaden liegt eine kleine Welt. Apropos, das Konzert zusammen mit den ebenfalls so tollen wie wichtigen Petrol Girls - ein Traum-Billing, sowieso - war vielleicht das beste des Jahres 2019. Überall gute und entspannte Menschen und zwei herausragende Punkbands mit einer so bedeutsamen Message, dass es mir bei den intensiven Ansagen von Petrol Girls-Sängerin Ren Aldridge nicht nur einmal um ein Haar die Tränen kamen. Diesen Abend werde ich so schnell nicht vergessen.

"Wonderful Hell" ist nun auf jeder Ebene ein einziger Triumphzug für War On Women und der vorläufige Höhepunkt ihrer Karriere. Wenn ich beim letzten Album "Capture The Flag" darüber schrieb, die Band aus Baltimore könne es sich sogar erlauben, den besten Song "Anarcha" im hinteren Drittel zu verstecken, dann haben sie es sich jetzt erlaubt, gleich die ganze Platte bis unters Dach mit derlei Brechern vollzupacken. Hits. Hits, Hits, Hits. Überall Hits. Durchgängig. I'm not fucking kidding.

Shawnas erneut verbesserter Gesang (die Frau hat fucking pipes!), ein überragendes Melodieverständnis, ohne auch nur einen Hauch Durchschlagskraft und Drive zu verlieren, ein angenehm weites stilistisches Spektrum mit einigen herausragenden Ideen und Experimenten wie im rhythmisch vertrackten und abwechslungsreichen "Big Words" oder das zynische "Her?" mit großartigem Riffing und zornigem Text, der den allgegenwärtigen Frauenhass und die Doppelmoral einer von Männern konstruierten Welt offenlegt. Apropos Texte: auch auf "Wonderful Hell" stehen glasklare Kante zeigende und -einfordernde Texte, die in ihrer Geradlinigkeit so kraftvoll sind und damit selbst einem wie mir, der sich über den eigenen Status als Profiteur des patriacharlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems sehr genau im Klaren ist und über all die so sorgfältig aufgebauten protektiven Strukturen und ihre desaströsen Folgen besser Bescheid weiß als mir lieb sein kann, immer noch den Holzhammer auf die gleichfalls immer noch erschütternd leere Birne bommeln lassen und mich jedes Mal aufs Neue dazu zwingen, meine eigene Realität und Wahrnehmung zu hinterfragen. 

Und dennoch haben sie es auch jetzt wieder geschafft, die beiden alles überstrahlenden Tracks ans Ende des Albums zu setzen. Zunächst entwickelt sich "The Ash Is Not The End" von einem recht unspektakulärem Beginn innerhalb von Sekunden zu einer mitreißenden Hymne mit bebendem Text:

So you wanna burn it all to the ground
Like there's no coming back from this?
You fucking quitter
The fire, the embers, the ash are not the end
If you want it, then you're gonna have to build it yourself

bevor "Demon", in guter Tradition als längstes und ungewöhnlichstes Stück am Ende des Albums platziert, dann mit bislang ungeahnter Intensität tatsächlich alles zu Staub zerbröseln lässt. Bedrohlich und düster - und so kraftvoll und mächtig. 

Ein beeindruckender Abschluss für ein beeindruckendes Album einer beeindruckenden Band. 

Wo soll das alles noch hinführen? 

 

Erschienen auf Bridge Nine Records, 2020. 


02.04.2021

Best of 2020 ° Platz 3 ° Soela - Genuine Silk


SOELA - GENUINE SILK

One more cosmic watergate
Psychic war, deletion zone
Future destiny unknown
(Voivod)

"Genuine Silk" hat mich noch kurz vor Jahresende blutig abgegrätscht, weil mein Bauchgefühl bereits bei Erstkontakt im Spätsommer des vergangenen Jahres sämtliche 10000 Watt Glühwürmchen in die "für die Jahreszeit zu warme" (Jens "Granate" Riewa) Winternacht Sossenheims schicken sollte. Der Ausgangspunkt, weil same procedure as last month, dear Girokonto: einfach mal ein Wochenende lang auf den bevorzugten Webstores rumhängen und mit geradezu ungesunden Mengen an Kaffee und Proteinriegeln in neue Musik reinhören, recherchieren, vergleichen und am frühen Montagmorgen um halb drei mit nervösen Ausfallerscheinungen und 57 Platten in 6 Warenkörben versuchen, Schiffe Versenken für behämmerte Giganerds zu spielen, um das Supermarkt-Budget am Monatsende nicht auf "rohe Kartoffeln, rohe Zwiebeln, frische Knorpel"-Niveau runterfahren zu müssen. Im Falle des Albumdebuts der in Berlin lebenden Produzentin Elina Shorokhova war die Sache eigentlich nach wenigen Augenblicken klar. Das markant-unwirkliche und anziehend wirkende Cover-Artwork, das Label (Dial) und eine Minute des Quasi-Openers "Shadows On The Wall" reichen aus, *klick*, gekauft, Hurra!

Eines meiner liebsten Labels, das in Los Angeles operierende A Strangely Isolated Place, bedruckte vor Jahren mal einige Merchandise-Shirts mit dem Motto "Ambient In The Sheets - Techno In The Streets" und wenn man mich früge (sic!), kam bislang kein anderes Album der Vereinigung der beiden vermeintlichen Gegensätze so nah wie "Genuine Silk". Für jemanden, dessen Leben sich zumindest mental ohne Weiteres zu 97% im Bett abspielen könnte, die restlichen drei Prozent gehen für den (fast) unvermeidlichen Toilettengang und Plattenpakete vom Briefträger an der Haustür abholen drauf, ist diese Platte ein Paradies: wachsweiche Synthieschwaden fließen sirupartig von der Decke herab, ein melancholischer Blick aus dem Fenster zeigt einen diesigen Horizont avec Nieselregen, die Nebelmaschine zischt mit der Kaffeemaschine um die Wette, das elegant getupfte Piano lässt zusammen mit dem verhuschten Stimmengefetze Erinnerungen an die verstörend leeren Schlafzimmerblicke der ersten Tri Angle-Veröffentlichungen wach werden - und in der zweiten Hälfte houst es sich mit hellerem, klarerem Beat in Richtung Kuschelsex und der Zigarette danach. Es. Ist. So. Fucking. Smooth. 

Ich habe mit "Genuine Silk" weite Teile des Lockdown-Winters verbracht. Das hat wegen der idyllischen Melancholie seiner Songs schon gut funktioniert. Ich kann es andererseits auch kaum erwarten, das Album in der Frühlingssonne und an lauen Sommerabenden auf der Terrasse in meinem Frankfurter Kiez zu hören. Denn diesen Spagat bekommt Soela hin: lebensfrohe und sommerliche Urbanität mit schwermütigem Grauschleier zu verbinden ist ein Klacks für dieses Wunderwerk. 

Wir treffen uns bitte in der Mitte, auf ewig.


 


Erschienen auf Dial, 2020.



01.04.2021

Best of 2020 ° Platz 4 ° Aril Brikha - Dance Of A Trillion Stars




ARIL BRIKHA - DANCE OF A TRILLION STARS

Broken, bruised, forgotten, sore
Too fucked up to care anymore
(Nine Inch Nails)


Über die ersten sechs Monate des Jahres saß "Dance Of A Trillion Stars" auf dem Thron der Jahresbestenliste und wurde erst in der zweiten Jahreshälfte ein ganz kleines bisschen verdrängt. Eine Platte, die ich in einer Zeit, in der vieles auseinanderzufallen drohte, als gesundes Regulativ wahrnahm, als Normal Null. "Dance Of A Trillion Stars" ist bei aller Introvertiertheit und Ruhe keine elegische Operette der Besinnung, es bietet keinen Pfad in die Untiefen des eigenen Geistes, es zeigt keinen übertriebenen Gestus der Dramatik. Es ist eher ein Glas frisches, kaltes Wasser: Ein Lebensspender, wenn die eigene Realität vor der geistigen Dürre kapituliert. 

Sein erstes Album seit 13 Jahren zeigt den schwedischen Produzenten in den Zwischenwelten der Schwerelosigkeit, des Fantastischen, der Bewegung und man fragt sich: waren das einmal Skizzen seiner sonst üblichen Techno und House-Tracks, bevor damit anfing, diese Kompositionen auseinanderzubauen und zu belüften? Einen Beat hat man den pulsierenden Grooves nämlich fast durchgängig entzogen; sie entstehen im Grunde lediglich aus ihrer Dynamik, die sich aus den übereinandergelegten, im Tempo immer wieder variierenden Schichten und dem Spiel unterschiedlicher Perspektiven und Fluchtpunkte einstellt. Das macht "Dance Of A Trillion Stars" einerseits abstrakt, weil die Verschiebungen so subtil inszeniert sind, dass man sich ihnen zunächst nur über das Flackern ihrer Aura nähern kann - andererseits entwickelt sich aus ihnen bisweilen eine fast expressive Klarheit. Wenn Brikha hingegen wie im Stück "Everything Was Here First" einen sehr rudimentären und nur für wenige Minuten sehr sparsam eingesetzten Beat zulässt, vergrößert sich diese Klarheit noch zusätzlich, sie wird lebhafter und direkter. Etwas diesig wird es eigentlich nur im Abschlusstrack "She's My Everything", der sich am weitesten ins Grenzgebiet zwischen Ambient und Techno vorwagt und die perlenden Synthieblitze mit einem gedämpft pochenden Unterwasserbeat und rollendem Basslauf begleitet. Und selbst hier ist es eher kaltweißes Licht, das die Dämmerung bricht als der vorgewärmte Sepiafilter im Wohlfühlpulli.

"Dance Of A Trillion Stars" ist Raumfahrer-Techno für den Spaziergang im unendlich weiten, kalten Kosmos. Eine Streckübung des Science Fiction Ambients, gebaut für den so benötigten Perspektiv- und Paradigmenwechsel: aus 3,40 Millionen Lichtjahren Entfernung ist auch der größte Scheißhaufen eben nur ein Maulwurfhügel. Ein Trost, immerhin.


 



Erschienen auf Mule Musiq, 2020.



28.03.2021

Best of 2020 ° Platz 5 ° Shuta Yasukochi & Carlos Ferreira - Quiet Reminders



SHUTA YASUKOCHI & CARLOS FERREIRA - QUIET REMINDERS


The blood drop signifies a rise in the stock
(Thievery Corporation)


Ich adelte "Quiet Reminders" in einer meiner sehr seltenen Reviews auf Bandcamp als das "most soothing and consoling album of 2020" und wenn ich mich außerhalb dieses Blogs zu solchen öffentlich vorgetragenen Meinungsäußerungen hinreißen lassen, handelt es sich um eine durchaus bemerkenswerte Ausnahme. 

Ich schreibe oft davon, dass die ersten Sekunden einer Ambient-Produktion oft den Unterschied für mich machen. Stephane Mathieu ist beispielsweise ein solcher Meister des unmittelbaren Klangs, der mich sofort einnimmt und in die Tiefe abtauchen lässt. Die Arbeiten von Shuta Yasukochi sind in dieser Hinsicht exotisch, weil sie mich zwar zum gleichen Ergebnis bringen, dafür aber ein paar Umlaufbahnen um mein Herz in Kauf nehmen müssen, an denen ich mich zunächst nur schwer entzünden kann. Wie bereits bei seinem Album "Short Stories" aus dem Jahr 2017 hat es auch bei seiner Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Musiker Carlos Ferreira für "Quiet Reminders" etwas gedauert, bis ich den sorgfältig versteckten Eingang in dieses Labyrinth fand. 

Einmal durch diese Tür gegangen und die Schwelle zur Klangwelt auf der anderen Seite passiert, gibt es aber kein zurück mehr. Wie konnte das passieren? 

Ich glaube, die Antwort besteht aus zwei Teilen. Erstens: ich empfinde Yasukochis und Ferreiras musikalische Sprache als sehr bildhaft und assoziativ, sie gibt einen Schaltplan vor, der mögliche Verknüpfungen, Möglichkeiten, Wege und Linien aufzeigt und dem Hörer damit sämtliche Freiheiten in das eigene Zutrauen überlässt. Es folgt ein hochgradig komplexer und spezialisierter Prozess, der Muskeln trainieren, Reflexe anerkennen muss; ganz so, als müssten nach einer Gehirn-Operation bestimmte Körperbereiche und -funktionen wieder neu programmiert, oder besser: rebootet werden. Daran muss ich mich immer wieder zuerst gewöhnen, eine Mischung aus Phantomschmerz und Nachtblindheit. Zweitens: ihre Musik ist in ihrem Schwebezustand auffallend expansiv und wird geflutet von kaum wahrnehmbaren Mikrobewegungen. Die entstehenden Bilder entwickeln mit der Zeit ein Eigenleben, sie bewegen sich mit der Musik, verändern sich, tauchen ab, steigen wieder empor, stellen scharf und verschwimmen. Damit wird der zu beobachtende Raum übergroß und frei, obwohl er doch unter ständiger Kontrolle der beiden Musiker bleibt. Diese Ambivalenz, beinahe eine Chimäre, ist nicht leicht zu verarbeiten, weil sie einerseits überfordert und andererseits komprimiert. 

"Quiet Reminders" lebt von der Auseinandersetzung, von dem Spiel mit diesen Gegensätzen. Und eines Tages wachst du auf und stehst wie selbstverständlich mitten auf dem Spielfeld, angezogen von der Tiefe, belohnt mit der Weite.


         


Erschienen auf Archives, 2020.

25.03.2021

Best of 2020 ° Platz 6 ° Recondite - Dwell


RECONDITE - DWELL


Here's Tom with the weather.
(Bill Hicks)


Corona-Lockdown-Soundtrack, Teil 2: Es gibt Musik in meiner Welt, die für immer mit einer bestimmten Zeit in meinem Leben verbunden sein wird; Alben und Songs, die Bilder, Situationen, Lebensgefühle in emotionale Frischhaltefolie gepackt haben und deren auch nur kurz aufzuckende Erinnerungsblitze sofort die Tür zur Herzkammer aufreißen und "Film ab!" rufen. In der Retrospektive sind das jene Platten, die bleiben werden, für immer. Und wenn ich mich endlich mal zu einer Entscheidung durchringen könnte, wäre das ganz eventuell die Antwort auf die sich seit Jahren in meinem Kopf windende Frage, wie der Auswahlprozess bei einer radikalen Verkleinerung der Tonträgersammlung wohl aussehen mag. Es klingt so einfach, aber ich würde mir lieber den kleinen Zeh mit einer rostigen Nagelschere entfernen oder ein Metalcore-Album bei vollem Bewusstsein anhören, als es wirklich durchzuziehen. Noch. 

"Dwell" von Recondite aka Lorenz Brunner ist mein Soundtrack des ersten deutschen Corona-Lockdowns. Ich hörte im März und April des Jahres 2020 keine andere Platte so häufig - und keine andere Platte war in der Lage, mir dieses Gefühl der Geborgenheit und des Trosts zu spenden wie "Dwell" - und das ist deswegen bemerkenswert, weil "Dwell" weder Kuschelambient noch ein "Feel Good Hit Of The Summer" ist. Gehen wir also auf Entdeckungsreise. 

Dämmerung. Fahles, gelbes Licht. Unschärfe. Zeitlupe. An der Oberfläche ist das kein ungemütlicher Ort. Es funkelt schwach unter der matten, glatten Fassade; ein paar fiebrige Erinnerungen, ein rauschhaftes Verlangen, ein sedierter Morgen danach. Es lässt sich sehr tief sinken mit dieser Platte, und vermutlich gilt das für exotherme wie auch für endotherme Lebensrealitäten, für die Extase wie für den Knacks. In beidem steckt Melancholie, sie unterscheiden sich nur in der Art der Lichtbrechung: das senkrecht auftreffende Licht ändert seine Richtung nicht, es erfährt weder einen Erkenntnisgewinn noch Varianz. "Ich will so bleiben wie ich bin", der ganze Wahnsinn einer Margarinewerbung in Schwermut gebadet. Anders das schräg einfallende Licht, das schon aus einer Quelle entspringt, die Zweifel, Kritik und Geistesgegenwart auf die Stirn küsste - und beim ersten Hindernis vom Weg abkam. "Dwell" hat all das mit seinem elegischen Ambient-House verinnerlicht; es spielt sein Blatt mit all dem Drama, all der Schwere - und verzieht dabei doch keine Miene. Bleibt nüchtern, hält sogar etwas Abstand ein, beschreibt und dokumentiert mehr, als dass es sich in das Schauspiel direkt hineinbegibt. Als hätte Lorenz "Dwell" auf eine Leinwand gemalt: da ist eine Verbindung zum Bild, aber fast keine zum Motiv. 

Aber da ist noch mehr. Die dunklen, minimalistischen Melodiebögen, dessen Arrangements manchmal wie eine obskure Mischung aus spätromantischen Dead Can Dance und torkelnden Boards Of Canada klingen und die Weite in den großen, kargen Flächen dieser Songs bis hin zur Klaustrophobie verengen können. Darunter der stoische Beat, der ab und zu ins Stolpern gerät und mit überraschenden Trap-Elementen spielt, dazu die nervöse, zitternde HiHat. Bei aller Elegie - hier brodelt auch etwas Unheilvolles unter der Oberfäche vor sich hin. Vielleicht hat sich mein Gefühl der Unsicherheit und der Furcht im vergangenen Jahr in dieser Musik gespiegelt und vielleicht kam darüber die enge emotionale Bindung zu "Dwell". 

"Dwell" kann all das. Die Endorphin-Rumba im Hedonismusmantel, Leidenschaft bis zur Selbstaufgabe - und zum Sun-Downer ein Diazepam-Flip mit Kirschwasser. Der süße Nektar des Scheiterns. Endlich daheim.


   


Erschienen auf Ghostly International, 2020.


21.03.2021

Best of 2020 ° Platz 7 ° D.K. - Live At The Edge




D.K. - LIVE AT THE EDGE

There's no such thing
As owning something
It's all borrowed for a time
It's all borrowed for a time
(Marillion)


Ich habe bis zur Mitte der 00er Jahre keine elektronische Musik gehört, ich war Rock with a capital R, Rrraaaawwwwwwk; nicht unbedingt in Person, weil ich schon immer ein Sensibelchen war, nett, lieb, brav und emotional mit so manch heikler Situation, zwischenmenschlicher zumal, schlicht überfordert, aber beides war eben auch meine Sozialisation: gut behütet und beschützt im ruhigen Frankfurter Westen aufgewachsen, Elternhaus weitgehend intakt, der Tag hatte Struktur wenn ich morgens in Panik in die Schule und am Nachmittag mit Tüll-Tü-Tü auf die Rollschuhbahn zum Eislaufen (o.s.ä.) musste, es darf sich einfach niemand mehr über irgendwas wundern  - aber ich hatte auch einen Bruder im Nebenzimmer, der mich in den 1980er Jahren mit Hardrock, Heavy, Thrash und Speed Metal anfixte. Oder besser: seine Poster-, Picture Disc- und Konzertkartensammlung an der Wand seines Zimmers fixten mich an. Erst als Rock im Allgemeinen und Metal im Besonderen so frisch und spritzig wie eine drei Tage alte Urinprobe von Jürgen Fliege waren und ich außer königlicher Langeweile nichts mehr spürte, streckte ich die Hände zur Rettung aus - und wurde von den üblichen Verdächtigen aus dem trüben Sumpf der gespielten Rebellion und egaler Gleichförmigkeit gezogen: es waren zunächst die Downtempo und Future Jazz Vibes von Jazzanova und der Thievery Corporation, der Glücklich-Samplerreihe von Rainer Trüby, die Latin Jazz-Exkursionen eines Gilles Peterson, später kamen dann die abstrakteren Vertreter wie Autechre oder Boards Of Canada hinzu. Diese, nennen wir sie zeitgemäß einmal "zweite Welle" erlebte im vergangenen Jahr ein Comeback im Hause Dreikommaviernull und es waren Platten wie "Live At The Edge", die dafür mitverantwortlich waren.

Das ist weniger als direkte Reminiszenz an die Musik der eben erwähnten großen Namen gemeint, denn wo Autechre so lange dekonstruierten bis außer geisterhafter, im Nebel herumstehender Grundmauern einer Ahnung von Musik nicht mehr viel blieb und Boards Of Canada es sich mit einer Überdosis in Ketamin getränktem Weichmacher auf dem Jupiter gemütlich machten, gerät die im Club The Edge in Seoul aufgenommene Livesession des französischen Produzenten Dang-Khoa Chau im Vergleich weder über Gebühr experimentell noch entrückt. Was "Live At The Edge" aber zwischen Schwebeteilchenambient, Unterwasserelectronica und betäubtem Sci-Fi-Deep-Bass channelt, sind die Vibes jener avantgardistischen Aufbruchstimmung der 90er Jahre, die diffuse Nostalgie, Befreiung und Beklemmung gleichermaßen im Subtext mitlieferte. 

Melancholie, Nostalgie, Kellog's Frosties - die drei wichtigsten Götter der Generation X. "Live At The Edge" erinnert mich daran, an uns nämlich, und außerdem daran, das Proseminar "Soziale Strukturen II: Gesellschaft und Konsum" nicht abgeschlossen zu haben, sei's drum: Man sagt uns nach, dass wir uns um nichts kümmern, dass wir zynisch sind, oberflächlich. Schlau und gebildet, gewiss - aber doch an nichts interessiert. In Wahrheit waren wir verloren und isoliert - und umarmten daher Musik, die unsere Orientierungslosigkeit reflektierte, uns auffing und verstand. Die uns eine Perspektive gab, obwohl sie genau so wenig wusste woher wir kommen und wohin wir gehen. Das gilt genreübergreifend für die aufkommende Technoszene wie für den Grunge und Alternative Rock. Und das gilt auch für das, was früher unter dem umstrittenen Begriff des IDM, also der Intelligent Dance Music einsortiert wurde. "Live At The Edge" ist aus diesem Stoff gestrickt. So aufgeweckt wie trist, so indifferent wie klar. Endlose Weite im Kosmos und gleichzeitig Klaustrophobie im unterirdischen Labyrinth der Werjowkina-Höhle. This beat is Ambivalenz. Man kann es uns nicht recht machen.


   



Erschienen auf 12th Isle, 2020.


17.03.2021

Best of 2020 ° Platz 8 ° Hum - Inlet



HUM - INLET

All the dreamers have gone to the side of the road which we will lay on
Inundated by media, virtual mind fucks in streams
(D'Angelo And The Vanguards)


"The Summoning". Grundgütiger, "The Summoning". 

Diese sich wie zähflüssige Lava den Weg freiwalzenden Gitarren. Ich habe schon lange keine mehr so gut klingenden Gitarren gehört. Diese Melodie, die so lange nachhallt, bis die Venus acht Mal umrundet wurde und man sich wieder auf dem Rückweg zur Erde befindet. Das Break im letzten Viertel, das sich gegen Ende auftürmt wie ein Gebirgsmassiv vor Millionen Jahren. Die stoische Stimme, die kaum mehr braucht als Begleitung und Erinnerung. Ein Jahrhundertsong. Aber eben auch nur einer von insgesamt gleich vieren: es sind vor allem die jeweils über acht Minuten langen, episch inszenierten Songs, die mich komplett plattmachen, auseinanderreißen, zerschmettern und dann wieder zusammenkleben, mit Spucke und einer Riesenpackung Hubba Bubba: "Desert Rambler", "Folding", "Shapeshifter" und eben "The Summoning", allesamt Giganten aus dem Stoff, aus dem 90er-Shoegaze und Alternative Rock-Herrlichkeiten gestrickt waren, bis unters Dach vollgepackt mit Understatement, Emotionalität, Tiefgründigkeit und Weite - und mit mit einer ganz eigentümlichen, nach innen gerichteten Intensität. 

Das Quartett aus Illinois, spätestens ab Mitte der 1990er Jahre und dem zaghaft ins US-Mainstreamradio einbrechenden Hit "Stars" eine Untergundsensation, war zu jener Zeit sehr knapp vor dem Sprung in die erste Liga, bevor die Band Ende des Jahrzehnts zunächst vom Label gedroppt und anschließend intern auseinanderbrach. Jetzt kommen sie im unheiligen Jahr des Clusterfucks 2020 praktisch aus dem Nichts mit neuer Musik zurück - 23 Jahre nach dem letzten Album "Downward Is Heavenward". Und auch wenn ich die Band erst Mitte der nuller Jahre von Freund Andreas ans Herz geschweißt bekam und also wie so oft ein totaler Spätzünder war, fühlt sich "Inlet" so vertraut an wie jede Gedanken- und Gefühlsreise in meine Adoleszenz in den 1990er Jahren, zwischen Teenage Angst, Flanellhemd, Benson & Hedges und dem süßen Duft der Freiheit (Wunderbaum Vanille; Opel Corsa I), der mindestens soviel Hoffnung machte, wie er mir bis in jede Faser meines Hirns Panikattacken schickte. Es gibt einen gar nicht so kleinen Teil in mir, der sich wünscht, bis ans Ende meiner Zeit in diesem emotionalen Schwebezustand der eigenen Vergangenheit zu verbleiben, mit all der Verklärung, der Ignoranz, dem Gilb und Kitsch des Vertrauten, Eingefahrenen, Sicheren. Das Getöse des Unmittelbaren ersetzen mit der damals  so geliebten wie gehassten und doch so verinnerlichten Stille. Auszeit. 

Insofern ist "Inlet" die perfekte Spiegelung dieser Ambivalenz, auf jeder Ebene. Laut und leise, rustikal und subtil. Erinnerung und Gegenwart. Hoffnung und Enttäuschung. Verwegenheit und Furcht. 

Heavy Music for introverts. Für immer die Liebe.


   


Erschienen auf Earth Analog Records, 2020.


13.03.2021

Best of 2020 ° Platz 9 ° Purl - Renovatio



PURL - RENOVATIO

So tired of being nothing
When, when we should be everything
(The International Noise Conspiracy)


Im vergangenen Jahr beendete ich mein Review zu Purl's "Violante (Lost In A Dream)" mit der an den Erschaffer gerichteten und explizit anerkennenden Botschaft, er, Ludvig Cimbrelius (nebst seiner neun Aliasse, sind wir heute mal verschwenderisch), sei ein "fucking wizard". Seit 2015 kenne ich nun seine Musik, wenn auch nicht allumfassend, dafür ist das Volumen seines Oevres meinen Hör-Realitäten schlicht nicht angepasst, aber sie gehört mittlerweile sicherlich zu jener Musik, die aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken ist. 

Niemand klingt so wie Purl. Niemand malt solche Bilder aus Klang. Niemand sonst kann mit Tönen Deine Haut streicheln; so als wehe eine warme Brise über den Körper hinweg und verstrubbelt Haare, Herz und Seele. Niemand sonst kann so viele Türen öffnen, so viele lichtdurchflutete Räume schaffen. 

"Renovatio" schwebt wie eine weiße Feder in Richtung Sonne und man weiß nie so recht, ob sie angetrieben oder angezogen wird, von Licht, von Liebe, von Freiheit, einer Art Entgrenzung? Oder gar - vom Mangel von all dem? Wenn es ganz besonders dunkel wird, ist schließlich selbst der kleinste Funken, das kaum wahrnehmbare Flackern einer Reflektion, wortwörtlich jetzt: ein Hoffnungsschimmer. Das mag nun selbst für einen wie mich erschütternd trivial sein, aber die bloße Anerkennung eines Mangels, einer Lücke, setzt Mechanismen in Gang, damit diese Lücke geschlossen werden kann. Dafür (und daraus) ist "Renovatio" gemacht: für Einkehr, Entdeckung, Offenbarung, Nacktheit, Fülle, Schönheit, Schutzlosigkeit, Offenheit. Wer sich nicht nur mit dieser Platte, sondern im Grunde mit Ludvigs Gesamtwerk auseinandersetzt, findet all das im transzendentalen Bewusstsein seiner Musik, das so expansiv und verschwenderisch wie demütig und unschuldig ist. 

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Dunkelheit ist einfach. Zynismus ist einfach. Profanität ist einfach. Sich aus diesem Kokon des Untergangs zu befreien und seinen stets so verlockenden Rufen zu widerstehen, die Fläche zu verlassen und stattdessen tiefer, in die Vertikalität zu gehen, zu suchen, die Introspektion umzukehren und sie expressiv ins Draußen zu tragen, ist eine Herkulesaufgabe. Ich kann nur erahnen, wie viel Kraft notwendig ist, um diesen süßen Duft dieser ultimativen Freiheit in Tönen zu manifestieren - die Glücksgefühle beim Hören sind dagegen äußerst gegenwärtig.


   


Erschienen auf Archives, 2020.

09.03.2021

Best of 2020 ° Platz 10 ° Bob Mould - Blue Hearts



BOB MOULD - BLUE HEARTS

Goodbye my friends
Goodbye to the money
Adieu to the fuckers that think that it's funny
I just want to turn the lights on
In these volatile times
(IAMX)


Ich darf vorstellen, Bob Mould, Weltkulturerbe. Seit 40 Jahren schreibt niemand sonst solche Songs. Keine andere Gitarre, keine andere Stimme klingt wie seine. Wer würde es angesichts dieser Karriere wagen, nicht alle Hüte zu ziehen?

Ich war zu jung, um Hüsker Dü mitzuerleben, aber ich kam gerade richtig für Sugars "Copper Blue": diese seltsame Mischung aus Melodie und Monotonie, Pop und Punk wurde für mich zu einem der einflussreichsten Alben der 1990er Jahre. Ich lernte viel von dieser Platte. Vielleicht war es für einen, der sich lange im Heavy Metal herumtrieb und seit ein paar Monaten im völlig besinnungslosen Grunge-Fieber war, auch eine der ersten Platten, die sich "Indie" anfühlte. Ich verlor danach Mould für sehr lange Zeit aus den Augen. Erst 2016 mit dem Album "Patch The Sky" stieg ich wieder ein und es gehört zu den eher unverzeihlichen Fehlern dieses Blogs, bislang noch kein Wort darüber verloren zu haben, denn "Patch The Sky" war Türöffner und Auferstehung zugleich: nicht nur verpasse ich seitdem kein neues Album mehr, ich habe auch die Sammlung mit früheren Werken aufgefüllt. Ab dem 2012 erschienenen und sowohl von Fans als auch Kritik gleichermaßen gefeierten "Silver Age" nagelt mir der Mann im Prinzip ausschließlich Hochklassiges auf den Plattenspieler. Für meine Begriffe liegt das nicht zuletzt an seiner Band: Jason Narducy am Bass und Monstertrommler John Wurster am Schlagzeug haben genügend Drive und Punch, um auch manchmal Schaumgebremstes mit Wucht und Spielfreude über die Ziellinie zu kicken, wenn es notwendig ist.

"Blue Hearts" ist Moulds 13.Soloalbum und es ist eines seiner Zornigsten. Trump, Umweltverschmutzung, Rassismus, Republikaner, Scheinheiligkeit, Fanatismus - Mould hat die Schnauze voll, er schreit, er bebt, er tobt. Mit zitternder Stimme singt er in der Einleitung "I wear my heart on my sleeve, don't know who to believe any more". Alles muss raus. Und es geht wortwörtlich Schlag auf Schlag: die Band macht zwischen den Songs praktisch keine Pause. Ein brillanter Pop-Indie-Alternative-Punk-Smash-Hit nach dem anderen batscht mir auf die heruntergeklappte Kinnlade, dazu gibt's die so heiß geliebten Momente der Tiefe wie in "Forecast Of Rain" oder "Password To My Soul", die in dieser Form wirklich nur Bob Mould und seine Band spielen können. Alleine in einem Gitarrenanschlag stecken mindestens dreikommaviernull Millionen Universen an Farben, Tönen, Perspektiven und Emotionen. 

Wenn mir der Trump'sche Irre aus dem Weißen Haus oder die Nazis der AFD und ihre lobotomierten Sackgesichter auf Social Media zu nahe auf die Pelle rücken und mir das Hirn verklebten: "Blue Hearts" war ein hervorragend funktionierendes Antidot.


   



Erschienen auf Merge Records, 2020. 


06.03.2021

Best of 2020 ° Platz 11 ° Downscope - Nature's Canvas III




DOWNSCOPE - NATURE'S CANVAS III

Bring me the snowfall, bring me the cold wind, bring me the winter
(New Model Army)


Downscope macht es mir mit meiner Begeisterung über seine Musik nicht leicht. Der in Washington DC lebende Künstler hat seit Jahren einen Ausstoß an neuer Musik, der mich völlig überwältigt und selbst, wenn ich alles hören wollte, was er produziert und veröffentlicht, ginge es erstens meinem sowieso schon unterirdisch miesen Zeitmanagement und zweitens meinem Konto an den Kragen: seine Bandcamp-Diskografie listet bis Mitte Februar 2021 sage und schreibe 134 Releases, die man zum bereits um 40% reduzierten Preis von knapp 600 Euro in der Komplettsammlung kaufen kann. Hinzu kommen ausgewählte physische Varianten mit zwischen 5 und maximal 30 Exemplaren pendelnden sehr kleinen Auflagen aus vermutlich eigenhändig hergestellten Tapes und CDs. Maximum DIY. Engage. 

Meine erste Begegnung mit seiner Musik fand im vergangenen Sommer mit "Drifting Forward" statt, einer Art Minimal Dub Techno mit überlangen, an seidener Monotonie aufgehängten Tracks für stylisch-urbane Architekten mit Hang zum narkotisierendem Opiumrausch. Und weil ich das Album im Corona-Sommer nicht nur so ausgiebig hörte, sondern dessen beruhigende Qualitäten auch bis heute im Corona-Winter 2.0 sehr zu schätzen weiß, war die Nominierung für die Top 20 Liste im Grunde nur noch Formsache. Aber dann kam "Nature's Canvas III", Bestandteil einer kuratierten Edition von über 5 Stunden Musik: 

"Over five hours of softly rhythmic, ambient dub techno scores for your enjoyment. These pieces were composed as a tribute to mother nature’s lament, smothered by humanity." 

Ich kann mich der Faszination dieses 72-minütigen Herzschlags der Natur nicht entziehen. 

Wer noch nicht im Wachkoma vor sich hin- und also wegdämmert, erinnert sich möglicherweise an meine vor wenigen Wochen hier kurz niedergeschriebene Erzählung von dem gemeinsamen Urlaub mit der Herzallerliebsten und dem plüschigen Fellmonster im norddeutschen Niemandsland. Nach einem Tag am eisigkalten Strand mit Sturmböen und wie Bindfäden herunterfallenden Regens, war "Nature's Canvas III" der Soundtrack zur abendlichen Sauna-Sause, inklusive einer außerkörperlichen Erfahrung zwischen Wach und Schlaf, als dieser stoisch dahinschlurfende Puls das Steuer zu übernehmen schien und mich auf Händen durch Raum und Zeit trug. Er führte mich durch jene Zwischenwelt, die das Bewusste vom Unbewussten trennt, das Erleben vom Ertragen, die Hoffnung von der Aufgabe - und begann nach einiger Zeit damit, die Grenzen einzureißen: die im Inneren amalgamieren, die im Außen expandieren. Schnittstellen werden zu Verläufen, einstige Barrieren werden durchlässig, porös; sie werden zu Filtern, schwingen und vibrieren und adaptieren die neue Ordnung der Unordnung. Es sind diese kurzen und überaus raren Momente des Lebens, in denen Wahrheit und Bestimmung in einem Sekundenbruchteil zu Gestalt werden, sie sich zu einer Formation zusammenfinden, die das Chaos überwindet.

Es spielt keine Rolle, dass sich die Struktur umgehend verflüchtigt. Das Wissen von ihrer Existenz ist mir genug.


   



Self released, 2020.



27.02.2021

Best of 2020 ° Platz 12 ° Quiet Places - Volume 1




QUIET PLACES - VOLUME 1

Flossing gums, then licking bottoms
(Thought Industry)


Okay! Hör' zu! Du hast LSD genommen und stehst in einem Spiegel-Irrgarten. Die Hosen voll (literally!), der Kopf halbleer, die Pfanne mit den Rühreiern: in Flammen. Du bist seit 5 Tagen wach, tripping your fucking ass off. Eier wärn's jetzt, aber vegane, ohne Tierleid. This is your brain on drugs - gelungene und vor allem erfolgreiche Initiativen gegen Drogenkonsum, die dreihundertvierzigste. Schnitt, dann voller Zoom auf die virilen Schmalspurrocker von Placebo. Anruf beim Dealer. Hochdosis, bitteschön. 

Kein Mensch weiß, wo das alles anfing. Der junge Inuk, den ich heute Vormittag beim Rennrodelnachmittag in Oberkassel getroffen hatte, hat mir eben gerade noch sein Einfamilienhaus gezeigt, ein prachtvolles Etablissement aus getrockneten Fettaugen am Rande der Tundra, mit so kleinen Schaschlikspießchen und Zahnstochern, hihi, wie klein die waren! Dann hat er mir frisch gemolkenes Walfett angeboten (mit Maggi; der Kapitalismus schreckt einfach vor nichts zurück!) und im nächsten Augenblick sank ich hinab auf den Meeresboden. Ich glaube, mit dem Maggi war was nicht in Ordnung, seit wann ist die Brühe denn auch bitte grün? Jedenfalls: Wer immer noch behauptet es gäbe keine Außerirdischen, war noch nie vollverstrahlt 8000 Meter unter dem Meer. Manchmal blinkt es einfach nur. Alles. Das flackert alles. Von wegen Dunkelheit, "ist doch taghell" (B.Spencer) - man darf einfach keinen Meeresbiologen glauben, ich sag's seit Jahren, Jacques Sielmann, Heinz Cousteau, die wissen ja auch nichts. Und woher auch?! Haben sie schonmal einen Meeresbiologen gesehen, der sich auf LSD in die Hosen gekackt und mit zerfransten Schwebewürsten aus Alienhausen eine spirituelle Verbindung über eine Außenbeleuchtungs...äh...girlande von Tchibo (9,99€, "für ihren Post-Corona-Gangbang in ihrem wunderschönen Garten") etabliert hat? Blink, blink, blink. Blinkblinkblinkblink. Na?! Naaaa?! Glaubt denen bloß nicht. Hier tobt Captain Picards Unterhose mit sechs Milliarden Jahren altem Amöbenschleim durch die Warp-Spulen! 

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Die Nase blutet, aber gut - ich bin jetzt schon stundenlang gegen diese verfickten Spiegelwände gelaufen. Sehe aus wie dieser Andrew W.K. damals. Ob der sich wohl wirklich auf die fiese Fresse gelegt hat? Oder wurde der etwa...GESCHMINKT?! Ist auch so scheiße hell hier. Ich hasse Helligkeit. Wenn's nach mir ginge, und es geht praktisch nie nach mir, verbringe ich mein Leben im Dämmerzustand, sowohl mental, als auch hinsichtlich meiner Rolladenwahl (schwarzes Blei, wattiert). Helle und kalte Wintertage sind die Höchststrafe. Wenn man mich foltern will, schickt man mich am besten an einem Sonntagmittag bei -5°C und Tschernobyl-Nachglüh-Gedächtnissonnenschein auf ein offenes Feld und lässt mich da einfach inmitten der sehr guten Pflanze Qungilik rumstehen. Arschkalt, scheißhell - aber geile Pflanzenproteine "zwischen die Kiemen" (Manfred Krug) schieben! 

"It's the quietest place." - und Muh macht die Kuh. 

Apropos Kuh: Ich habe eben Bill Drummond und Jimmy Cauta gesehen. Tragen nun auch Vollbärte (untenrum), sagen, 1990 sei die beste Zeit für "Porn" (Mike Pence) gewesen; ich glaube, wegen Bush - hab's aber nicht genau verstanden, die beiden sakrilegen Sackgesichter haben Kühe umgeschubst und das dann irgendwie fotografiert, mit einer Schuhschachtel, oder so. Das war dann auch zu laut, die haben die ganze Zeit mit dem Dean Jones am Telefon rumgestritten und dabei rumgebrüllt, sorry, hab's einfach nicht gehört. War aber auch zu hell. Kennt das eigentlich sonst noch jemand, dass man die Musik leiser dreht, um besser zu sehen? Was ist da eigentlich genau kaputt, weiß man da schon mehr? Sollen ja einen launigen Humor gehabt haben, Drummond und Cauta. Eigentlich kam da ja schon lange nix mehr ran, an diese Platte mit den Kühen. Die hatten sich bestimmt auch früher Maggi reingechillt und danach in die Hosen geschissen. Ich hoffe, es geht ihnen gut.

Heute bleibt die Küche kalt
Gerutscht wird auf den Fliesen
Magnesia ist des Turners Kalk
hätt' ich jetzt gern frische Hosen (zum Genießen)
(Christian von der Morgenlatte, um 1776)


(Das trippigste Album des Jahres. Ich empfehle vehement, sich den einstündigen Album-Mix einzuflößen. Und weil ich auch einen launigen Humor habe, manchmal, stelle ich mir jetzt mal vor, wie jemand den ganzen Quatsch hier in den Google-Translator reinhaut. LOL!)


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2020 



25.02.2021

Best of 2020 ° Platz 13 ° 36 & zakè - Stasis Sounds For Long​-​Distance Space Travel




36 & zakè - STASIS SOUNDS FOR LONG-DISTANCE SPACE TRAVEL

"Just sitting around waiting for this world to end."
(JUD)


Covid-Lockdown-Soundtrack, Teil 1: als im März des letzten Jahres die Situation erstmals so richtig ungemütlich wurde, die Angst das Zepter in die Hand nahm und plötzlich alles aus den Fugen zu laufen schien, war ich emotional in keinem guten Zustand. An meiner eigenen, konkreten Lebensrealität gab es nur wenige wirklich spürbare Veränderungen, aber es machte den Eindruck, als würden die Ängste und Sorgen eines ganzen Landes sich mit den meinen verbinden - und alles wurde gleichzeitig größer und dunkler und unberechenbarer. Die Dynamik aus den Anfangstagen dessen, was gemeinhin unter dem Begriff  "Lockdown" bezeichnet wurde, zusammen mit den minütlich auf allen Kanälen abgefeuerten Informationen, sowie die daraus stets wahrnehmbare Verunsicherung, empfand ich als äußerst unangenehm. Mich beeindruckte das sehr, seelisch wie körperlich. 

"Stasis Sounds For Long​-​Distance Space Travel" war (und ist) Klang gewordener Balsam in jener Zeit und es hat den Anschein, als sei diese Musik für genau solche Situationen gemacht worden. Der ursprüngliche Gedanke des Albums, "intended for the listener to embrace moments of stillness, quietude and reflection", neben einem Sci-Fi-Plot mit der Idee der künstlichen Stase, einem Schlafzustand, in dem man sich durch Raum und Zeit bewegt, ohne Raum und Zeit wahrzunehmen, morphte mit der Angst, sich künftig mit den guten Gästehandtüchern den Hintern abzuwischen, denn die kapitalistische Entsolidarisierung macht eben auch vor Scheißhauspapier nicht Halt, in ein kosmisches Hintergrundrauschen, das beruhigte und die Reise ins Innere, "die Reise ans Ende des Verstandes - für viele von uns nur ein Kurzausflug" (Schmidt) tatsächlich mit Zuversicht und Trost untermalen konnte. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich das verstand - die kaum wahrnehmbare Schwingung, die minimalistische Dehnung in dieser Musik erscheinen zunächst blass, geglättet, sie fordern prima vista auch keine Emotionalität heraus. Erst über die Zeit erkannte ich die Tiefe in der Repetition, die Zuflucht in der Dürre, die Innigkeit des Nichts. 

Es ist überaus bemerkenswert, wie viel Macht Musik haben kann.


   


Erschienen auf Past Inside The Present, 2020.