28.03.2021

Best of 2020 ° Platz 5 ° Shuta Yasukochi & Carlos Ferreira - Quiet Reminders



SHUTA YASUKOCHI & CARLOS FERREIRA - QUIET REMINDERS


The blood drop signifies a rise in the stock
(Thievery Corporation)


Ich adelte "Quiet Reminders" in einer meiner sehr seltenen Reviews auf Bandcamp als das "most soothing and consoling album of 2020" und wenn ich mich außerhalb dieses Blogs zu solchen öffentlich vorgetragenen Meinungsäußerungen hinreißen lassen, handelt es sich um eine durchaus bemerkenswerte Ausnahme. 

Ich schreibe oft davon, dass die ersten Sekunden einer Ambient-Produktion oft den Unterschied für mich machen. Stephane Mathieu ist beispielsweise ein solcher Meister des unmittelbaren Klangs, der mich sofort einnimmt und in die Tiefe abtauchen lässt. Die Arbeiten von Shuta Yasukochi sind in dieser Hinsicht exotisch, weil sie mich zwar zum gleichen Ergebnis bringen, dafür aber ein paar Umlaufbahnen um mein Herz in Kauf nehmen müssen, an denen ich mich zunächst nur schwer entzünden kann. Wie bereits bei seinem Album "Short Stories" aus dem Jahr 2017 hat es auch bei seiner Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Musiker Carlos Ferreira für "Quiet Reminders" etwas gedauert, bis ich den sorgfältig versteckten Eingang in dieses Labyrinth fand. 

Einmal durch diese Tür gegangen und die Schwelle zur Klangwelt auf der anderen Seite passiert, gibt es aber kein zurück mehr. Wie konnte das passieren? 

Ich glaube, die Antwort besteht aus zwei Teilen. Erstens: ich empfinde Yasukochis und Ferreiras musikalische Sprache als sehr bildhaft und assoziativ, sie gibt einen Schaltplan vor, der mögliche Verknüpfungen, Möglichkeiten, Wege und Linien aufzeigt und dem Hörer damit sämtliche Freiheiten in das eigene Zutrauen überlässt. Es folgt ein hochgradig komplexer und spezialisierter Prozess, der Muskeln trainieren, Reflexe anerkennen muss; ganz so, als müssten nach einer Gehirn-Operation bestimmte Körperbereiche und -funktionen wieder neu programmiert, oder besser: rebootet werden. Daran muss ich mich immer wieder zuerst gewöhnen, eine Mischung aus Phantomschmerz und Nachtblindheit. Zweitens: ihre Musik ist in ihrem Schwebezustand auffallend expansiv und wird geflutet von kaum wahrnehmbaren Mikrobewegungen. Die entstehenden Bilder entwickeln mit der Zeit ein Eigenleben, sie bewegen sich mit der Musik, verändern sich, tauchen ab, steigen wieder empor, stellen scharf und verschwimmen. Damit wird der zu beobachtende Raum übergroß und frei, obwohl er doch unter ständiger Kontrolle der beiden Musiker bleibt. Diese Ambivalenz, beinahe eine Chimäre, ist nicht leicht zu verarbeiten, weil sie einerseits überfordert und andererseits komprimiert. 

"Quiet Reminders" lebt von der Auseinandersetzung, von dem Spiel mit diesen Gegensätzen. Und eines Tages wachst du auf und stehst wie selbstverständlich mitten auf dem Spielfeld, angezogen von der Tiefe, belohnt mit der Weite.


         


Erschienen auf Archives, 2020.

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