D.K. - LIVE AT THE EDGE
There's no such thing
As owning something
It's all borrowed for a time
It's all borrowed for a time
(Marillion)
Ich habe bis zur Mitte der 00er Jahre keine elektronische Musik gehört, ich war Rock with a capital R, Rrraaaawwwwwwk; nicht unbedingt in Person, weil ich schon immer ein Sensibelchen war, nett, lieb, brav und emotional mit so manch heikler Situation, zwischenmenschlicher zumal, schlicht überfordert, aber beides war eben auch meine Sozialisation: gut behütet und beschützt im ruhigen Frankfurter Westen aufgewachsen, Elternhaus weitgehend intakt, der Tag hatte Struktur wenn ich morgens in Panik in die Schule und am Nachmittag mit Tüll-Tü-Tü auf die Rollschuhbahn zum Eislaufen (o.s.ä.) musste, es darf sich einfach niemand mehr über irgendwas wundern - aber ich hatte auch einen Bruder im Nebenzimmer, der mich in den 1980er Jahren mit Hardrock, Heavy, Thrash und Speed Metal anfixte. Oder besser: seine Poster-, Picture Disc- und Konzertkartensammlung an der Wand seines Zimmers fixten mich an. Erst als Rock im Allgemeinen und Metal im Besonderen so frisch und spritzig wie eine drei Tage alte Urinprobe von Jürgen Fliege waren und ich außer königlicher Langeweile nichts mehr spürte, streckte ich die Hände zur Rettung aus - und wurde von den üblichen Verdächtigen aus dem trüben Sumpf der gespielten Rebellion und egaler Gleichförmigkeit gezogen: es waren zunächst die Downtempo und Future Jazz Vibes von Jazzanova und der Thievery Corporation, der Glücklich-Samplerreihe von Rainer Trüby, die Latin Jazz-Exkursionen eines Gilles Peterson, später kamen dann die abstrakteren Vertreter wie Autechre oder Boards Of Canada hinzu. Diese, nennen wir sie zeitgemäß einmal "zweite Welle" erlebte im vergangenen Jahr ein Comeback im Hause Dreikommaviernull und es waren Platten wie "Live At The Edge", die dafür mitverantwortlich waren.
Das ist weniger als direkte Reminiszenz an die Musik der eben erwähnten großen Namen gemeint, denn wo Autechre so lange dekonstruierten bis außer geisterhafter, im Nebel herumstehender Grundmauern einer Ahnung von Musik nicht mehr viel blieb und Boards Of Canada es sich mit einer Überdosis in Ketamin getränktem Weichmacher auf dem Jupiter gemütlich machten, gerät die im Club The Edge in Seoul aufgenommene Livesession des französischen Produzenten Dang-Khoa Chau im Vergleich weder über Gebühr experimentell noch entrückt. Was "Live At The Edge" aber zwischen Schwebeteilchenambient, Unterwasserelectronica und betäubtem Sci-Fi-Deep-Bass channelt, sind die Vibes jener avantgardistischen Aufbruchstimmung der 90er Jahre, die diffuse Nostalgie, Befreiung und Beklemmung gleichermaßen im Subtext mitlieferte.
Melancholie, Nostalgie, Kellog's Frosties - die drei wichtigsten Götter der Generation X. "Live At The Edge" erinnert mich daran, an uns nämlich, und außerdem daran, das Proseminar "Soziale Strukturen II: Gesellschaft und Konsum" nicht abgeschlossen zu haben, sei's drum: Man sagt uns nach, dass wir uns um nichts kümmern, dass wir zynisch sind, oberflächlich. Schlau und gebildet, gewiss - aber doch an nichts interessiert. In Wahrheit waren wir verloren und isoliert - und umarmten daher Musik, die unsere Orientierungslosigkeit reflektierte, uns auffing und verstand. Die uns eine Perspektive gab, obwohl sie genau so wenig wusste woher wir kommen und wohin wir gehen. Das gilt genreübergreifend für die aufkommende Technoszene wie für den Grunge und Alternative Rock. Und das gilt auch für das, was früher unter dem umstrittenen Begriff des IDM, also der Intelligent Dance Music einsortiert wurde. "Live At The Edge" ist aus diesem Stoff gestrickt. So aufgeweckt wie trist, so indifferent wie klar. Endlose Weite im Kosmos und gleichzeitig Klaustrophobie im unterirdischen Labyrinth der Werjowkina-Höhle. This beat is Ambivalenz. Man kann es uns nicht recht machen.
Erschienen auf 12th Isle, 2020.
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