THE SEA AND CAKE - ANY DAY
Es ist oftmals eine Herausforderung für mich, über alte Bekannte zu schreiben, solche zumal, die zu den Stammgästen auf Dreikommaviernull gehören. Ich habe in den letzten 12 Jahren gleich sieben Mal über The Sea And Cake geschrieben - und das, obwohl die Band in dieser Zeit nur drei Platten veröffentlichte. Eigentlich ist über sie und meine besondere Verbindung mit ihnen alles gesagt, alle Huldigungen sind gefühlt hundertfach ausgesprochen, sämtliche Fanbrillen längst ins Gesicht zementiert, die LP-Sammlung wird gehegt und gepflegt und ist dabei nicht nur komplett, sondern wegen den von Thrill Jockey farblich einzigartig designten Vinylreissues aus den letzten zwei Jahren sogar überkomplett. Schon wieder muss Polt zitiert werden, denn: "mehr habe ich nicht hinzuzufügen!". Eigentlich.
Vielleicht aber doch noch eine Kleinigkeit.
"Any Day" war nach sechs Jahren Funkstille ein zwar erhofftes, aber nicht notwendigerweise erwartetes Comeback. Bassist Eric Claridge musste aus gesundheitlichen Gründen sein Engagement bereits vor einigen Jahren beenden, Schlagzeuger John McEntire ist mit Tortoise und Studiojobs ausgelastet, Gitarrist Archer Prewitt arbeitet als selbstständiger Illustrator und Zeichner und Sam Prekop ist in seiner Heimatstadt Chicago aktiver und erfolgreicher Künstler. Die Annahme, dass sie alle nach 25 Jahren Bandkarriere und vermutlich auch nicht erst seit gestern nicht mehr auf The Sea And Cake angewiesen sind, um sich entweder kreativ zu betätigen oder um nur banal die Zeit totzuschlagen, ist wohl nicht allzu abenteuerlich. So löste die Ankündigung für ein neues Studioalbum nichts als große Freude bei mir aus - die sich angesichts der ebenfalls erfolgten Bekanntgabe eines Konzerttermins in Frankfurt im Juni 2018 gar zu einer - Pardon! - prachtvollen Erektion ausweitete.
Ich schrub kürzlich über die sehr gute Band Tocotronic, dass deren 2018er Album "Die Unendlichkeit" zu einem Lebensgefühl, einem Begleiter wurde. Ohne das Urteil weder für die einen noch die anderen verwässern zu wollen, und ich bin mir des möglichen Risikos hierfür durchaus bewusst, aber ich kann, nein: muss! dasselbe nicht nur über "Any Day" in den virtuellen Notizblock kritzeln, ich muss es auf die ganze Band ausweiten. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der langen Pause lag, in deren Verlauf zwar kein Frühling und kein Sommer ohne eine geradewegs hypnotische, aber auch nach Jahren der Auseinandersetzung irgendwie abgeklärt durchgewunkene Phase mit ihrer Musik verging, dass mich die Band sogar über das bekannte Maß hinaus so tief traf wie noch nie zuvor - und wer meine früheren Einlassungen zu The Sea And Cake kennt, wird verstehen, warum das etwas Besonderes ist. Oder lag es an meinem fortgeschrittenen Alter und meinen bestenfalls in gleichem Ausmaß fortgeschrittenen Erfahrungen, Gedanken, Einsichten? Und warum muss es eigentlich immer ein "oder" sein?
Mir ist den letzten zehn Jahren in einigen wenigen Fällen eine neue und bedeutend intensivere Liebe zu Bands aufgefallen, die ich zwar schon früher längst auf den musikalischen Olymp geschoben hatte, aber plötzlich einen extragroßen Schubser in den fast schon ätherisch zu nennenden Bereich mitnehmen konnten, in dem die Luft selbst für Götter dünner wird. Ein gutes Beispiel sind King's X, die ich mittlerweile in jedem vorstellbaren Universum und für jeden vorstellbaren Aspekt für völlig unantastbar halte und für die meine Anerkennung weit über Alben, Songs oder Texte hinausgeht. Es ist eher der schier endlose Respekt für das Lebenswerk voller Kreativität, Virtuosität, Durchhaltevermögen, Freundschaft, Zusammenhalt, Inspiration, Freiheit, Offenheit, Hingabe und Leidenschaft.
Ich habe diesen schier endlosen Respekt im letzten Jahr auch für The Sea And Cake gefunden. Ihr Zusammenspiel, ihre Subtilität, ihre Virtuosität, ihr Entdeckerdrang und ihre Ausstrahlung sind völlig einzigartig. Niemand klingt so wie diese vier Musiker, niemand sonst spielt diese feinstoffliche Musik so filigran, so präzise - und dabei gleichzeitig so mühelos und lebhaft. Ich habe heute das Gefühl, "Any Day" hat mich an den Punkt im Universum von The Sea And Cake gebracht, an dem ich den 360° Blick über all das habe, was diese Band im Kern ausmacht, was sie wirklich ist - und diesen Blick dabei jederzeit bis in die engmaschigste Nuance ihres Sounds vergrößern kann, um sie von allen Seiten zu betrachten. Sie funkeln und leuchten zu sehen.
Der Superzoom ins Reich der Götter.
Live at KEXP:
Erschienen auf Thrill Jockey, 2018.
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