ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL
Selbst meine seit knapp 20 Jahren andauernden Streifzüge abseits der gleichfalls geliebten Rockmusik und also durch das Dickicht solch unterschiedlicher Genres wie Jazz, Electronica, Techno, Ambient, Soul und Funk können es nicht verhehlen. Es war nie sexy und es wird wohl auch niemals sexy sein, aber ich komme wohl nicht drum herum: Progressive Rock und -Metal sind meine Inseln, meine Leuchttürme und meine Rettungsanker. Und bevor mir noch ein weiteres maritimes Bild einfällt, will ich's schnell begründen. Sollte ich jemals auf die Idee kommen, meine, sagenwirmal 50 meistgeliebten Alben in einer Art Reihenfolge aufs Papier zu bringen, stehen die Chancen für einen mindestens 70% ausmachenden Anteil jener Musik nicht schlecht, die gemeinhin unter dem Rubrum "progressiv" firmiert. King Crimson, Dream Theater, Atheist, Marillion, Voivod, Fates Warning, Spock's Beard, Psychotic Waltz, Tool würden allesamt gleich mehrfach in dieser Liste auftauchen, und bis heute komme ich trotz meiner immer noch sehr ausgeprägten Auseinandersetzung mit neuer Musik immer wieder und sehr regelmäßig zu diesen Bands und ihren Platten zurück. Um ehrlich zu sein: je älter ich werde, desto öfter kehre ich zurück.
"Winter Ethereal" sollte also auf fruchtbaren Boden fallen - auch ohne besondere Affinität zum Kultalbum Fates Warnings "Awaken The Guardian" aus dem Jahr 1986, das die Band zum letzten Mal mit Sänger John Arch zeigte, bevor Ray Alder zum Quartett aus Conneticut stieß, der seitdem höchstens noch von ein paar Betonköpfen von der Sängerposition wegzudenken ist.
Gut sieben Monate nach der Veröffentlichung ist "Winter Ethereal" meine Platte des Jahres 2019.
Ich möchte den Anteil von Gitarrist Jim Matheos an diesem Titel nicht schmälern; der Mann erlebt bereits seit einigen Jahren seinen x-ten kreativen Frühling und seine aktuellen Kompositionen für Fates Warning sowie für "Winter Ethereal" sind vielleicht die besten, die er je geschrieben hat. Seine Produktionen sind absolut state-of-the-art; ich habe seit 20 Jahren keine so natürlich und gleichzeitig so groß und offen klingende Metalplatte mehr gehört. Seine Sounds sind geschmackvoll und mehrere Universen von stumpfem Haudrauf-Metal entfernt, stattdessen wohlüberlegt und mit großer Erfahrung ins Sounddesign eingepasst. Auch seine Auswahl von Begleitmusikern für "Winter Ethereal" ist beeindruckend: nicht nur hat er beinahe die ganze Fates Warning Truppe zusammengetrommelt, inklusive früherer Mitglieder Mark Zonder und Frank Aresti, sondern darüber hinaus auch noch Steve DiGiorgio, Sean Malone und Schlagzeuger Thomas Lang für dieses Projekt gewinnen können. Matheos ist ein nimmermüder Suchender, ein intelligenter, emotionaler und introvertierter Musiker, der immer den berühmten Schritt weitergehen möchte, ohne dabei die klassische Signatur seiner Musik zu verlieren.
Der eigentliche König auf "Winter Ethereal" ist aber Sänger John Arch. Ich habe schon sehr lange keinen Sänger mehr so singen hören. Arch hat sich nach seinem Abschied von Fates Warning vor über 30 Jahren sehr rar gemacht. Außer einer in den frühen nuller Jahren erschienenen EP tauchte er erst 2012 für das erste Arch/Matheos-Album "Sympathetic Resonance" wieder auf. Die Legende sagt, dass er in seinen Ruhephasen überhaupt nicht singt und deswegen ein ganzes verdammtes Jahr zur Vorbereitung benötigt, um entweder ein Aufnahmestudio zu besuchen oder eine Bühne zu betreten, damit er den Rost aus den Stimmbändern kratzen kann. Wer "Winter Ethereal" hört, mag das verstehen: Arch singt um sein Leben. Er singt viel, sehr viel sogar - beinahe ohne jede Verschnaufpause geht es in den allerhöchsten Stimmlagen über die gesamte Spielzeit dahin; tatsächlich wird seine Performance nur von zwei oder drei etwas längeren Gitarrenduellen zwischen Matheos und Aresti bewusst unterbrochen. Jeder ängstlich herbeihallizunierte Reflex, diesen extrem verschnörkelten, aus jedem Ruder laufenden, wieselflink zusammengepuzzelten Gesangslinien selbst zu folgen, sie also nachzusingen, wandert meist nach zwei Sekunden in die nächstbeste Tonne, stattdessen überfällt mich ein Gänsehautschauer nach dem anderen. Sein Gesang, seine Stimme, seine Texte so kraftvoll und so mächtig, seine Melodien so überwältigend, dass ich mir manchmal nicht anders zu helfen weiß als (i) in die Knie zu gehen, (ii) den Tränen freien lauf zu lassen oder (iii) der Herzallerliebsten nachts um 2 eine astreine Air-Mic-Vorstellung vor dem Plattenspieler zu geben. Irgendwo müssen die Gefühle ja hin.
Alles, was mir musikalisch soviel bedeutet, ist hier zu finden: die emotionale Tiefe von Psychotic Waltz, die Dunkelheit und Melancholie der "Pleasant Shade Of Grey"-Phase von Fates Warning, die Komplexität und Wucht von Nevermore, die Verspieltheit von Dream Theater. Und doch könnte "Winter Ethereal" nicht weiter von Nostalgie und Pastiche entfernt sein.
Ich schrub im hellen Lichte von "Theories Of Flight" bereits vor drei Jahren, dass ich mich so darüber freuen konnte, diese Gefühle wieder entdeckt zu haben: ein hochklassiges, echtes, authentisches, tiefes, melancholisches, herausragend komponiertes und atemberaubend gut gesungenes Metalalbum hören zu dürfen. Jetzt ist es dank "Winter Ethereal" also wieder passiert, vielleicht sogar noch ausgeprägter als 2016.
Ein echter Meilenstein, ein Meisterwerk, ein absolutes Ausnahmealbum, das mir bis zum Schlagen des letzten Stündleins nie mehr von der Seite weichen wird.
Erschienen auf Metal Blade Records, 2019.
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