17.12.2016

Dauerfeuerbrennerlöscher



YOUNG MAGIC - STILL LIFE


Es gab in 2016 so einige Platten, die mein Leben vermutlich auch über das immer noch andauernde Superscheißjahr 2016 hinaus prägen werden; in erster Linie, weil ich mit Ihnen eine bestimmte Zeit, auch ganz besonders ein Lebensgefühl verbinden werde. Und einige davon werden vielleicht wichtig für das restliche Leben werden, sei es, weil sie besondere Saiten in mir angeschlagen haben, sei es, weil ich mit ihnen überhaupt nicht rechnete und die Überraschung und Begeisterung nicht zuletzt genau davon getragen wird und wurde. "Still Life" könnte so eine Platte werden.

Das Debut "Melt", vor einigen Jahren für kleines Geld und in erster Linie wegen des umwerfenden Coverartworks gekauft, gefiel mir gut, aber mit etwas despiktierlichem Mut ließe ich mich zu der Bewertung hinreißen, seine Existenz verdanke es fast ausschließlich der Erfolgssingle "You With Air" - einer faszinierend subtil arrangierten und von einem Weirdo-Charakter getragenen Popnummer, die "Melt" mit sich riss und mit sich reißen konnte. Der Nachfolger "Breathing Statues" fiel hingegen nach wenigen Momenten des Zuhörens komplett durch die Qualitätskontrolle - ich kann das nicht weiter ausführen, außer der Feststellung, dass ich es keine 2 Minuten hören konnte. Und wollte. 

"Still Life" bringt mich an meine Grenzen, über Musik zu sprechen und zu schreiben, und ich gebe Überlegungen zu, den Text einfach mit einem "Diese Musik zieht mich magisch an." zu beginnen und gleich danach mit einem "Isso!" zu schließen. Macht damit, was ihr wollt. Mir fällt dazu nicht mehr ein.

Sängerin Melati Malay schrieb "Still Life" während ihren Reisen nach Tokyo und Bali, in ihrer Heimat New York, in den Catskills und während ihres Aufenthalts an ihrem Geburtsort auf Java, Indonesien. Sie verarbeitet mit diesem Album den Tod ihres Vaters im vergangenen Jahr mit einer sphärischen und mystischen Musik, die melodisch zu gleichen Teilen undeutlich als auch opulent ist. Für letztgenannte Einschätzung ist Auseinandersetzung gefragt, denn eingängig ist hier gar nichts. "Still Life" hält sich energetisch als weißer Rauch kurz über Normal Null. Unauffällig und in seiner extremen Verhuschung doch überaus stimmungsvoll - auch wenn ich die Stimmung beim besten Willen nicht dechiffrieren kann: Malay und ihr Partner Isaac Emmanuel haben nicht nur in dieser Frage ein paar falsche Fährten gelegt und sich praktisch unsichtbar gemacht, sie haben ebenfalls dafür gesorgt, dass die Einflüsse und Wurzeln ihrer Musik kaum mehr zu erkennen sind. "Still Life" ist alles - und gleichzeitig nichts. Die Nennung indonesischer Musik, Pop aus den 1980er Jahren, urbaner Avantgarde aus dem brodelnden New Yorker Underground, Clubsounds und Indie-Shoegazer ist nicht nur eine untaugliche, weil heillos unvollständige Auflistung von Genres, es ist angesichts dieses echten Schmelztiegels und der beinahe vollständigen Auflösung von Konturen, Grenzen und Strukturen völlig irrelevant. 

“In a way, Still Life became a kind of antithesis to a world where people tell you who to pray to, what to buy into, and who your enemies should be. It’s my reaction. Still Life is my way to celebrate music from all corners…my home without borders.” 

Mir kommt sowas nicht oft über die Lippen, aber ich glaube es wirklich: "Still Life" ist ein Meisterwerk.





Erschienen auf Carpark, 2016.

09.12.2016

Resurrection




JUD - GENERATION VULTURE


Trump wird Präsident der USA und Jud bringen ein neues Album raus - beides wäre noch vor wenigen Monaten völlig undenkbar gewesen. Während die Wahl der faschistischen "Whiny Little Bitch" (Bill Maher) nebst der Nominierung rassistischer, antisemitischer, christlich-fundamentalistischer Blowhards für weitere Regierungsposten selbst im weit von Washington entfernten Sossenheim für eine Familienportion Depressionen sorgte, breitet sich in Sachen "Generation Vulture" zunehmend große Freude aus. Die letzten zwei Wochen im Hause Dreikommaviernull standen eindeutig im Zeichen dieses völlig unverhofften Comebacks, und die Anmerkung in meinem Textlein zur "Doppelgängers EP" von The Life And Times, dass also ebenejene gemeinsam mit "Generation Vulture" meinen Rock'n'Roll für die nächsten Monate bestimmen werden, kommt nicht von ungefähr: beide Bands haben die alte Schule besucht, in der Tiefgang, Komplexität, Groove und Melodie im Prüfungsfach "Klischeefreie Rockmusik für die Überlebenden der 90er Jahre" abgefragt und bewertet werden und bestehen jede noch so schwere Prüfung schon seit Jahren mit einem Extrasternchen.  

Immerhin satte acht Jahre liegen zwischen dem letzten Werk "Sufferboy" und "Generation Vulture" und obwohl Bandchef David Judson Clemmons auch während dieser acht Jahre neben seinem in Berlin ansässigen Antiquitätenladen musikalisch immer noch und meistens mit Soloauftritten aktiv war, durfte man nicht zuletzt wegen der vermutlich sehr übersichtlichen Verkäufe des Vorgängers wirklich nicht mit einer Auferstehung rechnen. Jud waren irgendwie immer die Vergessenen und selbst dann, wenn der Zeitgeist ihnen eigentlich wohlgesonnen war, tat sich auf der Popularitätsskala so gut wie gar nichts. Schon das Debut "Something Better", immerhin von Korn/Sepultura/Slipknot-Knöpfchendreher Ross Robinson klanglich vollveredelt, ging 1996 trotz dezenter Indie- und Alternative-Schlagseite völlig unter, die beiden Nachfolger "Chasing California" und "The Perfect Life", beides glasklare 10 Punkte Klassiker aus dem viel zu oft zitierten Bilderbuch, konnten an jenem Zustand gleichfalls nichts ändern; dabei hätte gerade "The Perfect Life" mit seinen melodisch verschrammelten Powerindiedoom mit dem Tiefgang eines Ozeandampfers doch wirklich für einen Achtungserfolg sorgen können. Aber es tat sich nichts. Gar nichts. 

Ob sich das Bild mit "Generation Vulture" ändern wird, ist höchst zweifelhaft - und wieder bleibt festzuhalten, dass der Band qualitativ nichts, aber auch so gar nichts vorzuwerfen ist. Über drei Jahre wurde penibel an dem neuen Werk gearbeitet und man hört es "Generation Vulture" zu jeder Sekunde und im allerbesten Sinne an. Die Produktion ist mehr als nur state of the art - ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt ein so imposant in Szene gesetztes Album einer Rockband hörte; einer Indieband zumal, die nicht von Majors, A&Rs und Managern mit ein paar Scheinchen aus der Megaseller-Schatulle gefördert wird. Glasklar, druckvoll, bretthart - und doch soviel Transparenz und Intelligenz, um ihren ureigenen und einzigartigen Signature-Sound wie einen großen Mittelfinger in Richtung der Legion von talentlosen Nichtskönnern zu schmettern, die sich hinter ihrer totproduzierten Plastikscheiße verstecken müssen. Die sieben Songs, drei davon ungewohnterweise jeweils um die acht Minuten lang, gehören mit zum Besten, was diese Band jemals geschrieben hat: groovebetont wie eh und je, fräsen sich vor allem die ersten drei Tracks "Blind Society", "Where We Come From" und "Summer Of Love" mit monströsem Riffing in jedes Rockerherz, das auch ohne breitgetretene Klischees nicht die Arbeit einstellt, sondern stattdessen lieber das Emotionszentrum aufheizt. Große Gefühle, große Bühne, großer Gummiknüppel. Ich erlebe vor allem in jenen Momenten Gänsehautschauer - and that's the fucking truth! - die sich harmonisch und atmosphärisch deutlich am 1998er Zweitwerk orientieren. "Chasing California" blitzt tatsächlich manchmal durch und das ist deswegen so auffällig, weil nur Clemmons solche Harmonien schreibt. Niemand sonst. Kann auch sonst niemand. 

Freudenschreie. Luftschlagzeug. Luftgitarre. Schmerzverzerrtes, weil mitleidendes und mitlebendes Gesicht. Becker-Faust. Bohlen-Pimmel (gebrochen). Dreifacher Salto mit zweieinhalbfacher Schraube von 28 Meter Turm. Alles auf der Autobahn und bei 140 Sachen. 

Nach "Summer Of Love" folgt eine kleine Zäsur, denn jetzt wird's sperrig und die eigentliche Arbeit beginnt: "Find Us, Heal Us" kratzt erstmals an der acht Minuten Marke und ist eine komplex arrangierte Achterbahnfahrt zwischen Drama und Melancholie. "The Operation" taut erst nach knappen drei Minuten so richtig auf und basiert im Prinzip auf nur einem dreckig gespielten Bluesriff. Dazwischen: viel Schmutz, viel Dreck, ein ganz kleines bisschen Gitarrensolo und ein praktisch komplett durchgeschlagenes Crash-Becken. Und Tiefe. Tiefe, Tiefe, Tiefe. 

Wem über die letzten Jahre mit Streaming, Downloads und kultureller Verwahrlosung die echte Auseinandersetzung mit Musik abhandengekommen ist, muss spätestens hier zwangsläufig die weiße Flagge hissen. "Humanity, The Lie" setzt tatsächlich nochmal einen drauf und ist möglicherweise das Kernstück von "Generation Vulture": über acht Minuten lang türmt sich ein Emotions- und Riffklotz über den nächsten auf, bis das so entstandene Intensitätsgebirge fast schon körperlich erfahrbar wird. Was - außer Pudding in den Beinen und einem signifikant beschleunigten Puls - kann nach einem solchen Hammer noch kommen? Können wir jetzt bitte wieder ein bisschen abkühlen? Ich muss mal an die frische Luft. 

"How The West Was Won" beginnt tatsächlich zunächst etwas dezenter, bis ich inmitten des cleveren, an Postrockgrößen wie Godspeed You! Black Emperor erinnernden Spannungsaufbau spüre, dass die Band schon wieder am nächsten Brocken tüftelt - bis zum finalen Einsturz. Ich will nicht zuviel verraten, aber es endet alles ganz anders. Und plötzlich merke ich, wie viel Sinn das hier alles macht. Wie sich der Kreis nach diesen Songs schließt. 

Are you alone in this world?
And are you ready for the new world war?
Have you decided just what you're gonna fight for?
Are you alone tonight?

Das ist eine große, große Platte. Und ich finde fast keine Worte mehr für die Tragik, dass auch "Generation Vulture" nur von einer Handvoll Eingeweihter gehört und geliebt werden wird. Von denen dafür aber dann umso inniger.





Erschienen auf Supermusic, 2016.



08.12.2016

Blank When Zero - Live in Mainz, 10.12.2016




BLANK WHEN ZERO spielen zum letzten Mal in diesem Jahr live in ihrem Wohnzimmer: das Haus Mainusch in Mainz hat unserem Wunsch zugestimmt, zwei befreundete Bands einzuladen und ein schönes Konzert zu spielen.

Mainzer! Wiesbadener! Frankfurter!

Am Samstag, 10.12.2016 ab 20 Uhr spielen also Church Of Cycology, Vandalism und Blank When Zero im Haus Mainusch. Wir freuen uns alle auf Euch.


Und damit nicht genug: das Mainzer Studentenmagazin STUZ hat uns für seine 200. Ausgabe interviewt - und wir sind sogar auf dem Titel erwähnt. Huch!

Dummerweise ist der Artikel online nicht einsehbar, glücklicherweise haben wir ja alle...äh...Telefone. Enjoy.




Unsere neue Platte ist natürlich immer noch via Bandcamp erhältlich. Kostenlos.






03.12.2016

Infinity




MARSEN JULES - SHADOWS IN TIME


Das Hubble Extreme Deep Field (XDF) ist ein Bild einer kleinen südlichen Himmelsregion, das entstand, indem Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops eines Teils aus dem Zentrum des Hubble Ultra Deep Field (HUDF) über einen Zeitraum von zehn Jahren zusammengefügt wurden. Es umfasst Aufnahmen von insgesamt 50 Tagen und einer Gesamtbelichtungszeit von zwei Millionen Sekunden (ca. 23 Tage).



Die Lichtlaufzeit von einigen auf dem Bild zu sehenden Galaxien bis zur Erde beträgt 13,2 Milliarden Jahre, die jüngsten auf dem Bild gezeigten Galaxien sind in einem Stadium lediglich 450 Millionen Jahre nach dem Urknall zu sehen.


One important source of inspiration for “Shadows in Time” was the stunning installation “Series 1024x768” by media artist Johannes Franzen: on a computer screen, all 786,432 pixel continuously change their colour with every second, pursuing the aim of running through all potential possibilities. A simple process that is so complex in itself, that even modern high-performance computer systems cannot capture it and to consequently run through it would last far beyond the existence of our solar system. (Marsen Jules)

"Denn die Maschine braucht, in menschlichen Maßstäben gemessen, unendlich lange, um alle Bilder einmal zu generieren. Daß sich während einer Lebenszeit einmal die Bildpunkte zu einem Bild zusammenfügen, das gegenständlich und wiedererkennbar ist (und daß in dem Moment, wenn es erscheint, jemand anwesend ist, der es sieht), ist sehr unwahrscheinlich. Die meisten Bilder, die entstehen, sind völlig abstrakt, eine vielfarbige Kombination aus Punkten, in der man allenfalls ein Überwiegen bestimmter Farbbtöne oder eine nebelhafte Konzentration von 
Farben an bestimmten Stellen wahrnehmen kann.

Die Schönheit der Maschine liegt in ihrem utopischen Potential. Alle möglichen Bilder sind in ihr enthalten und könnten theoretisch im nächsten Augenblick erscheinen. Das bedeutet z. B. alle Bilder die man während einer Zugfahrt aus dem Abteilfenster fotografieren könnte. Oder jede Seite eines Textes, der je geschrieben wurde und geschrieben werden wird. Oder die Reproduktionen aller Gemälde, die je gemalt wurden. Und die Kombination aus alledem. Und doch handelt es sich um eine endliche Zahl von Bildern."




"Shadows In Times" ist der Versuch, die Einmaligkeit zu begreifen. Die Zeit als mehrdimensionales Chaos. Raum und Zeit erleben. Überhaupt: Leben. In Echtzeit in die Vergangenheit schauen. Alles erscheint ausschließlich im Auge des Betrachters. Was macht das mit unserer Vorstellung von Realität? Unserer Idee von Zeit? Unserem Leben? Ist damit nicht wirklich alles Eins? 

Für mich ist das ein sehr befreiender und tröstender Gedanke.




Erschienen auf Oktaf, 2016.


24.11.2016

Doppelgängers




THE LIFE AND TIMES - DOPPELGÄNGERS EP


Meine allerallerliebste noch aktive und also lebende Rockband, das supersupergute Trio von The Life And Times, hat eine neue Platte veröffentlicht; leider dieses Mal nicht als Vinylausgabe, jedenfalls noch nicht, und auch kein Werk mit neuen Eigenkompositionen: "Doppelgängers" ist eine Zusammenstellung von sieben Coverversionen von teils ungewöhnlichen Musikern und ebensolchen Songs von The Romantics, Katy Perry, Jellyfish, Iron & Wine, The Pretenders, Tom Petty und Carly Simon. 

Stilistisch gibt es in der Interpretation dieser Stücke keine riesigen Überraschungen - dass die Band wie aus der Zeit geplumpst wirkt und praktisch konkurrenzlos ihren trippigen und verwehten Indierock auf Lautstärke 11 spielt, habe ich hier vermutlich schon einige Male zu oft geschrieben

Dass sie mit ihrer genuinen Art selbst aus einer Popnummer von Katy Perry, Zitat: "We love Katy Perry. And we love this song. So if it sounds like we're trying to take the piss out of it and do a kitschy version- we're not. We just really really love this song. You should too." das Dunkle, Unbekannte, Gespenstische destillieren können und plötzlich ein psychedlischer Tiefseetauchersong im heimischen Wohnzimmer LSD Trips und Rosenblüten streut, ist indes ein Erlebnis. Und das Original ist in meinem Buch ein großer Haufen dünnflüssiger Teenagerkotze (Breezer, Döner, Schwangerschaftstest).

Neben der neuen Jud-Scheibe ist das jedenfalls ziemlich und very exactly my kind of Rock'n'Roll für die nächsten Monate. 




Erschienen im Eigenvertrieb*, 2016.

*Jedenfalls glaube ich das.

20.11.2016

Arbeit & Struktur




GOGO PENGUIN - MAN MADE OBJECT


Als ich vor einigen Jahren Nik Bärtsch's Ronin auf der Bühne im Innenhof des Historischen Museums in Frankfurt sah, an einem schrecklich unpassend strahlend sonnigen Sonntagmorgen und zudem zu einer Zeit, die mein Vater und seine Kumpels bis an ihr aller Lebensende als "Frühschoppen" in jeden Terminkalender reingekritzelt hätten, gab es ein großes Hallo, als dem Moderator nach dem Auftritt des Züricher Quintetts beim Vorlesen des Konzertplans für die kommenden Tage der Nachsatz "...dann gibt's auch wieder richtigen Jazz" aus den Stimmritzen fiel. Die Band, noch auf der Bühne stehend und den warmen Applaus der Zuschauer empfangend, lächelte gequält, ein paar ganz eiserne Betonköpfe auf den Bierbänken johlten laut auf und Herr Dreikommaviernull, in charmanter Begleitung der Herzallerliebsten, gab den Captain Picard. 

Etwas ähnliches hätte an diesem Sommertag in Frankfurt aus dem Trio aus Manchester passieren können. GoGo Penguin veröffentlichten zunächst zwei Alben auf Matthew Halsalls Label Gondwana Records, ehe die französische Abteilung des großen Majors zuschlug. Blue Note, nach außerordentlich bewegter Geschichte mittlerweile unter dem Dach der Universal Music Group angekommen, ließ kaum die Tinte unter dem Vertrag trocknen und veröffentlichte alsbald das dritte Album "Man Made Object" im Frühjahr 2016. 

Jazz ist das nicht. Oder doch?

Pianist Chris Illingworth, Bassist Nick Blacka und Rob Turner am Schlagzeug verbinden eine Mixtur aus Post Rock, Trip Hop und Drum'n'Bass mit einem klassischen Jazz-Pianotrio und zaubern daraus einen elektroakustischen Zaubertrank. Ein atmosphärisch nokturnes, nur von den hypnotisierenden, virtuosen und ganz zentral arrangierten Pianomelodien aufgehelltes Verschachtelungsmonstrum, in dem Rob Turner einen dicht verästelten Wald aus Beats, Fills und Wirbeln entstehen lässt. Und Nick Blacka ist bei Weitem nicht nur dafür da, mal untenrum schnell beizuschneiden und ansonsten den Jahresringen beim Wachsen zuzuschauen - er ist möglicherweise der eigentliche Puls dieser Band, dirigiert die Songs durch hyperaktiv getackertes Gestrüpp wie durch ozeanische Weite und Leere und setzt sowohl harmonisch als auch tonal immer wieder entscheidende Akzente. Die Virtuosität und das Talent des Trios reißen mich immer wieder zu heiseren Jubelschreien hin - denn auch wenn GoGo Penguin sich weniger um die Entwicklung ihres Sounds im Sinne eines freien Spiels mit Möglichkeiten und dem Erforschen von Grenzen, als viel mehr um feste Strukturen, auskomponierte und bei aller Komplexität durchaus aufgeräumte Songs kümmern, ist es ein Erlebnis diesen Wahnsinnigen zuzuhören. Und gleichfalls, wie im April im Offenbacher Hafen 2 geschehen, ihnen zuzuschauen. Ein schüchterner, in sich versunkener und introvertierter kleiner Haufen Briten, die zwar "nur" ohne große Worte ihren Stiefel runterspielten, aber: so einzigartig stiefelt gerade auch kein anderer. 




Erschienen auf Blue Note, 2016.

12.11.2016

Klasse M Planet



MERRIN KARRAS - APEX


A Strangey Isolated Place kam mir erstaunlicherweise erst in diesem Jahr so richtig aufs Radar, dafür dann aber durch die Alben von Markus Guentner, Arovane & Hior Chronik und der Zusammenstellung zum Tod des Produzenten Parks mit deutlich zu vernehmendem Nachhall. Das 2008 in England gegründete und mittlerweile nach Nordamerika umgesiedelte Label kümmert sich in erster Linie um Arbeiten aus dem Ambient- und Elektronikspielgarten und hat sich, ähnlich wie beispielsweise Constellation Records für den Postrock, zu einer richtigen Community entwickelt. 

Das Debutalbum von Merrin Karras ist dabei das Werk eines alten Hasen: Brendan Gregoriy, usprünglich aus Irland stammend, aber seit einigen Jahren in Berlin zu Hause, ist in erster Linie und seit gut 15 Jahren unter dem Künstlernamen Chymera im Techno- und House-Umfeld bekannt und hat sich nach einer zähen und aufreibenden Albumproduktion für sein Hauptmoniker mit "Apex" neu ausgerichtet und erstmals ein Ambientalbum veröffentlicht. 

"Apex" ist futuristischer Sci-Fi-Ambient mit kosmischen Synthiesounds, offensichtlich auch unter dem Einfluss von Michael Lopatins Oneohtrix Point Never und, na logo: Klaus Schulze entstanden, mit viel Weite und Raum und einem freien Blick auf den Sternenhimmel. Cineastische Dramatik im Breitbandformat wie in "Elevate", dazu harmonische Schwergewichte wie "Void", Geglitzer für Mondanbeter im abschließenden "Isolation" und weitläufige Verschachtelungen wie im Titelsong machen "Apex" zu einer introvertierten Schönheit im Alufolienkostümchen, manchmal mit zarten Flashbacks an die große Zeit der beiden Schotten von Boards Of Canada wie etwa in "The Veldt". 

Brendan sagt: “I wanted to make something that I could listen to when I travel, something I could enjoy just for what it was." - und ich habe für Euch beides getestet: bei nächtlichen Autofahrten wurde ich alleine wegen des konzentrierten Zuhörens praktisch automatisch zu einer Kapazität auf dem Gebiet der Astrophysik - auch, weil ich es hingenommen habe, wie es ist: eine hochinteressante, tadellos visionäre, komplexe und sehr bildhafte Musik. 




Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2016.

06.11.2016

Mr. President, you’ve done everything but ultimate fighting and amateur porn!




Bill Maher, Gastgeber von "Real Time With Bill Maher" im US-amerikanischen Fernsehen, Stand-Up Comedian, Schauspieler und immer öfter erfolgreich in der Selbstinszenierung als politischer Kommentator, hat im Januar diesen Jahres eine Petition gestartet, den noch amtierenden Präsidenten der USA im Rahmen seiner wöchentlichen Show interviewen zu können. Obama ist über seine achtjährige Amtszeit oft und gerne als Gast in ähnlichen Formaten aufgetreten: bei Stephen Colbert, Jimmy Fallon, Jimmy Kimmel, Letterman - ganz zu schweigen von Interviews mit den üblichen Verdächtigen der amerikanischen Medienlandschaft wie Chris Wallace, Anderson Cooper, Rachel Maddow, Keith Olbermann - selbst der rechtskonservative Bill O'Reilly hatte seine Redezeit mit Obama (und fiel ihm dabei mehrfach auf sehr respektlose Weise ins Wort).

Um Bill Maher machte Obama indes einen weiten Bogen und Bill fragte sich: kommt er nicht, weil ich bekennender Pothead bin? Oder weil ich gleichfalls bekennender Atheist bin? Nun ist Maher ein ausgewiesener Egozentriker. Einer, der sich selbst und sein Tun, diplomatisch formuliert: sehr wichtig nimmt. Und der sowas ganz und gar nicht auf sich sitzen lassen kann.

Hier ist der Clip über seine Ankündigung zum Start der Onlinepetition:






100.000 Unterschriften waren notwendig, um eine Antwort des Weißen Hauses zu erhalten. Innerhalb weniger Tage waren es über 300.000.





Nachdem sich das Weiße Haus in seiner Antwort zunächst sehr zurückhaltend äußerte, ist es nun tatsächlich doch passiert: Maher war im Weißen Haus, und er traf Obama - und damit immerhin den Mann, dem er im Wahlkampf 2012 eine Million Dollar als Spende zukommen ließ. Was ihn in Bezug zu dessen Real Time-Ignoranz zu dem legendären Satz "I gave Obama a million dollars and he treats me if I lent him a million dollars!" brachte.


Hier ist es nun, das Ergebnis seiner Mühen. 37 Minuten mit Barack Obama und Bill Maher.



05.11.2016

Devil In The Details




BVDUB - YOURS ARE STORIES OF SADNESS


Es gibt ein neues Album von Brock van Wey alias BVDUB, veröffentlicht vor wenigen Wochen via Bandcamp und dort als Download verfügbar. 

"Yours Are Stories Of Sadness" ist ein bemerkenswertes Stück Musik und ich verstehe jeden, der nun das Lesen dieses Artikels abbricht, denn "das schreibt der doch immer über BVDUB." Das stimmt. Es gibt nur ganz wenige Werke aus den letzten fünf Jahren, seitdem ich ihn mit "The Art Of Dying Alone" für mich entdeckte, die ich nicht mit den überkandideltsten Verehrungen versah, und jeder noch so redundante Kniefall vor seiner Musik war und ist immer aufrichtig und ehrlich. 

Der unvermeidbare Disclaimer: Ich bin nicht gekauft, und ich habe auch keine Verpflichtungen. Ich bekomme nichts geschenkt und nichts vergünstigt. Ist natürlich totaler Vollquatsch, das hier zu erwähnen - ein nerdiger Kunterbunt-Musikblog im Jahr 2016 interessiert ja im Prinzip keinen müden Arsch mehr. Aber mir ist's trotzdem wichtig. Get over it. 

Das einzige, was mich in dieser Hinsicht selbst von Zeit zu Zeit überrascht: es ist bekannt, dass mir relativ schnell ziemlich langweilig wird, und nicht wenige Musiker und Bands können in so fern ein Liedchen davon singen, als dass ihre Alben spätestens nach der zweiten Wiederholung nicht mehr den Weg in mein Plattenregal finden. Es gibt Ausnahmen, aber die sind selten. Brock van Weys Musik ist eine solche Ausnahme, obwohl die Veränderungen in seiner Musik über die letzten fünf Jahre, immerhin vollgepackt mit im Schnitt etwa vier Alben pro Jahr, nur mit gewisser Anstrengung wahrnehmbar waren. 

Aber es ist etwas in seiner Kunst, das mich tief berührt. Ich kann das nicht genau beschreiben (wenngleich ich es schon oft versucht habe). Es fühlt sich nach Heimat, Wärme, Verständnis und Liebe an; wohlwissend, dass Abstraktion uns hier nicht weiter hilft - mir bisweilen aber schon. Ryan Griffin von Elektronik- und Ambientlabel A Strangely Isolated Place beschreibt es auf seinem Blog wie folgt:

"His tracks are often intense and emotional, yet placed for positions of quiet and personal listening. Finding the right moment to listen to bvdub is one of the reasons I don't listen to his albums more - they become destined for very special occasions, intense emotional places, and I think that's why he manages to connect with so many people on a much deeper level than most. You don't listen to one track of his, you listen to an entire album, and you're his companion in time of need, stress, celebration or reflection. Be it a close death, a friendship, or in this instance, fragmented memories, Brock is brilliant at painting these vivid emotions."

Was ich eigentlich sagen wollte: "Yours Are Stories Of Sadness" ist anders - und das nicht nur, weil seine 19 Songs bei einer Spielzeit von 78 Minuten im Schnitt nur noch viereinhalb, und nicht wie gewohnt zwölf Minuten lang sind. "Yours Are Stories Of Sadness" ist ein zusammengeschnurrtes Emotionsdestillat von BVDUB, mit ungewöhnlichen Sounds und Arrangements. Ich kann nicht sagen, das Ergebnis sei fokussierter als sein vorangegangenes Oevre, aber es hat zweifellos eine andere Stimmung, ein anderes Licht. Ich weiß noch nicht, ob es mich emotional so mitnimmt wie beispielsweise "Tanto" oder "The Truth Hurts" - dass mich das Album trotzdem fast schon magisch anzieht, und ich es immer wieder hören muss, ist eine Beobachtung, die ich mit Euch teilen möchte. 





Erschienen in Eigenregie, 2016.

30.10.2016

Demo Für Alle, Hirn für Keinen

Bis vor wenigen Monaten konnte ich noch mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Durchgeknallten in Baden-Württemberg und deren Protest gegen den Bildungsplan der grün-roten Landesregierung deuten, die grünversifften Gutmenschenneger planten die "Frühsexualisierung" ihrer Kinder, die "Zerstörung der Ehe zwischen Mann und Frau als tragende Stütze unserer Gesellschaft" und außerdem die Einführung der Homo-Ehe für alle, so dass also auch demnächst das brave Christenwürschtel mit am Herd festgeketteten Eheweib einem seiner Geschlechtsgenossen vor dem Traualtar einen blasen muss, weil es das Gesetz eben so will; anders ist diese Komplettvernagelung des Dachgeschosses ja auch wirklich kaum zu erklären: "Wir planen die Einführung einer rechtsverbindlichen Spermainjektion und einer daraus resultierenden Oberschenkelschwangerschaft für alle männlichen Christen bis zum 45.Lebensjahr und wer nicht mitmacht, wird erschossen!" (Winfried "Kretsche" Kretschmann, Zitat ähnlich).

Mittlerweile ist der Lobotomierten-Virus aber auch auf Hessen übergesprungen, und das fühlt sich auch an einem eigentlich sonnigen und friedlichen Sonntag wirklich richtig ekelhaft an: Das Aktionsbündnis "Demo Für Alle" mit dem "Edler Vollquatsch in Nuss"-Motto

"Ehe und Familie vor! Stoppt Gender-Ideologie und Sexualisierung unserer Kinder"

und geführt von der lückenlos formidabel benamten Hedwig Freifrau von Beverfoerde, einer konservativ-katholischen und in der CDU beheimateten Kaltmamsell, die sich nicht zu schade war, sich diesen frechdummen Quadratscheiß gemeinsam mit der pathologisch verrückten Mausausrutscherin Beatrix von Storch von der AFD auszuschnapsen; wohlgemerkt also mit einer Frau, die via Twitter, Facebook und Wolfsschanzen-Kutscher Andeutungen dergestalt machte, die Grenzen des großdeutschen Reichs notfalls auch mit dem ausgesprochenen Scheiß, pardon: Schießbefehl für und auf Frauen und Kinder zu sichern - denn wenn man nur die Männer abknallt, ist's nur halb so tragisch, wie es an der Empörungsskala der deutschen Qualitätspresse abzulesen und mehr oder minder frei interpretierbar ist:





In der Selbstbeschreibung von "Demo Für Alle" heißt es:

Veranstalter der DEMO FÜR ALLE ist ein Aktionsbündnis verschiedener Familienorganisationen, politischer Vereine, engagierter Einzelpersonen und Initiativen aus ganz Deutschland. Wir treten ein für Ehe und Familie, auf die unsere Gesellschaft seit Jahrtausenden gründet, und wenden uns gegen die alles durchdringenden Umerziehungsversuche gut organisierter Lobbygruppen und Ideologen.

Nun ist es gute Tradition konservativer Parteien, Vereine und Thinktanks, die Einnahme von Tabletten zur Behandlung von Halluzinationen früher abzusetzen als vom Onkel Doktor empfohlen, und die Ergebnisse sind immer die gleichen, wenn nicht selben: der Weltuntergang steht kurz bevor, weil Frauen sich gegenseitig die Mumu und Männer sich gegenseitig den Pumu lecken, der Pfarrer nur noch strukturellen Kindesmissbrauch betreiben aber immer seltener Mann und Frau trauen kann und weil ein politischer Bildungsplan eines Bundeslandes vorsieht, das Recht auf sexuelle Freiheit und das Ausleben derselben zu "akzeptieren" und nicht etwa zu "tolerieren". Ein progressiver Sexualkundeunterricht an deutschen Schulen ist "Indoktrination im Sinne des Gender-Mainstreaming", und die "Homo-Lobby" plant die "Aufhebung aller sexuellen Normen" im Rahmen ihrer "kulturrevolutionären Strategie". Die drei letzten Zitate stammen allesamt von Gabriele Kuby, einer Fundamentalisten-Furie aus Rechtsauslegerhausen, die sich die als Faltensack getarnte Denkvorrichtung noch nicht glattbügeln konnte, denn für Madame Kabelbrand ist Homosexualität nicht nur Sünde, sondern auch heilbar:












In Wiesbaden hat "Demo Für Alle" zum heutigen Sonntag zur großen "Anti-Indoktrinations-Demo" geladen, unterstützt vom Who-Is-Who christlich-konservativer Organisationen und Initiativen:




Während sich die hessische CDU offiziell vornehm zurückhält und der Demo weder beiwohnt noch sie unterstützt - schließlich hat sie das zur Diskussion stehende Papier ja in erster Linie zu verantworten - sehen das Arbeitskreise der Union und die ihr nahe stehenden politischen Gruppierungen ganz offensichtlich anders - und als ob wir wirklich noch einen zusätzlichen Grund benötigen würden, um sämtliche Gedanken, Ideen, Visionen in Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus dem Umfeld dieser Partei und ihrer Wähler immer und immer wieder zu 100% abzulehnen: hier hätten wir ihn dann. Sicherer Begleiter solcher Argumentation ist das klägliche und überaus bedauernswerte Zurückziehen in die Opferrolle, samt Negierung sämtlicher Realitäten. So wird etwa von eingeschränkter und unterdrückter Meinungsfreiheit schwadroniert, von struktureller Diskreditierung, von politischen Verschwörungen. Die arme kleine unterdrückte, an den Rand gedrängte, zum Schweigen gebrachte Minderheit - die sich zum freien Demonstrieren jeden Sonntag auf irgendeinem Rathausplatz treffen darf - und sei die geist'ge Armut im Brägen noch so groß, die Gedanken noch so wirr und das Mikrofon noch so laut: das absurde Gefühl, man befinde sich in der Minderheit, werden diese Menschen nicht mehr los. Dabei wird andersrum ein Schuh draus, denn die Minderheit IST tatsächlich Opfer von Diskriminierung:

Eine Online-Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ermittelte 2013 für Deutschland unter anderem folgende Zahlen: 46 % der Befragten LGBT (von engl. lesbian, gay, bisexual, and transgender) fühlten sich in Deutschland im letzten Jahr diskriminiert, 68 % haben ihre sexuelle Identität oft oder immer während der Schulzeit versteckt. 6 % der LGBT wurden im letzten Jahr Opfer von physischer oder sexueller Gewalt. Nur 4 % der gleichgeschlechtlichen Paare wagen, sich Händchen haltend in der deutschen Öffentlichkeit zu bewegen, während dies 68 % der heterosexuellen Paare tun. (Wikipedia, Homosexualität in Deutschland)


Was wir hier beobachten sind letzten Endes verzweifelte Versuche, den eh schon bröckelnden Status Quo eines veralteten gesellschaftlichen Dogmas um jeden Preis am Leben zu erhalten, während der Rest von uns sich längst von einem reaktionären, altmodischen, Realitäten nicht anerkennenden Format des Zusammenlebens verabschiedet hat. Ich habe in den letzten Monaten so manch gelupfte Augenbraue präsentiert bekommen, als ich meine Hoffnung zum besten gab, die Welt und die Menschen befänden sich auf einem guten Weg: wie könne ich denn im Zeitalter des Untergangs und vor dem Hintergrund solch großer, existentieller Probleme der Menschheit davon reden, dass schon alles gut gehen würde; ich sei ja ein naiv-verblendeter "Hippiearsch" (Rodgau Monotones) und hätte wohl die Seiten gewechselt - weil wenn die Gegenseite schon aus bloßer Faulheit nicht differenziert, dann muss man es selbst schließlich auch nicht machen. 

Die Antwort lässt sich am oben beschriebenen Phänomen bestens illustrieren: weil wir als Gesellschaft solche bösartigen, reaktionären Sackgesichter hinter uns lassen und schon gelassen haben.

Sie spielen keine Rolle mehr. 

Sie sind egal.

Sie sind vergessen.

Die progressive Bewegung ist nicht mehr aufzuhalten. Wir sind viele. Und bald sind wir alle. Und der Rest soll sich solange wegficken. 


24.10.2016

Blank When Zero - Taped! Das Review.

Ein flotter Nachtrag zu unserer neuen Platte: Tillman von Maeglins Blog hat "Taped!" in seinem Videokanal besprochen und einige sehr schöne Worte zu unserer Musik gesagt. Da geht einem schon so ein bisschen das Herz auf.






"Taped!" gibt es immer noch hier zu hören:






16.10.2016

Blank When Zero - Taped!




BLANK WHEN ZERO - TAPED!


Uns gibt es immer noch. 

Das dürfte, wenn wir alle drei ganz tief in uns hinein hören, tatsächlich die größte Überraschung sein, die mit dieser Band verbunden ist. Die Umstände sind widrig, keine Frage, und vielleicht ist das laufende 2016 sogar unser bislang schwierigstes Jahr, seitdem wir Ende 2009 uns dazu entschlossen, gemeinsam Musik zu machen. Wir werden nicht jünger: die Verpflichtungen gegenüber der Familie und auch der Arbeitswelt - und ich schätze, niemand von uns würde das in vollem Bewusstsein wirklich noch voneinander trennen wollen; talking about "Lohnarbeit & Verantwortung - Das Musical" - steigen, und auch der Körper schmeißt häufiger als früher das Handtuch, vorzugsweise, wenn das Stressniveau den Hypothalamus mit einer Schleifmaschine bearbeitet.

So gesehen ist es fast ein kleines Wunder, dass wir es immerhin noch versuchen, uns alle nach zwölf- oder gar vierundzwanzigstündigen Arbeitstagen, Kinderbespaßung, Ehefrauzuwinken und Haustierpflege in unserem Proberaum einzufinden. Manchmal sogar sehr regelmäßig. Trotz der knappen 150 Kilometer, die ich an jedem Probetag mit dem Auto zurücklegen muss, um von Frankfurt ins rheinland-pfälzische Outback und wieder zurück zu fahren, genieße ich unsere Treffen - vor allem jene in den warmen Sommermonaten, wenn die Gasflaschenheizung eingemottet ist, die Tage länger werden und der Blick aus unserem Regieraum auf die Nahe und den angrenzenen Garten der Sarmsheimer Mühle so kolossal opulent ist. Wenn wir nach unserer Probe ausgelaugt und verschwitzt über neue Platten, Konzerte oder Politik und Gesellschaft sprechen. Die freien Stunden sind rar. Und gleichzeitig wichtig. 

Nicht, dass es unbedingt notwendig wäre, aber: bräuchte man tatsächlich noch ein weiteres Indiz, um darzustellen, dass wir alle keine 18 mehr sind, dann könnte ich an dieser Stelle mitteilen, dass wir für die Aufnahmen und den Mix unserer neuen Platte "Taped!" sage und schreibe fast ein ganzes Jahr benötigten. Für 18 Minuten Musik. Und weil ich das um ein Haar nicht glauben konnte, musste ich mich mittels des selbst hochgeladenes Instagrams überzeugen: am 7.November 2015 begannen wir mit dem Einspielen des Schlagzeugs. Es folgten: Gitarre, Grippe, Bass, Antibiotika, Gesang, Schmerzmittel, noch mehr Gesang, noch mehr Schmerzmittel, Mix, Umzug, Bandscheibe. In dieser Reihenfolge. Von den Problemen, überhaupt Termine zu finden, will ich erst gar nicht sprechen.

"Es ist nicht schön, alt zu werden."(Simon)

Und bevor das hier endgültig zu einem unwürdigen Jammertal aus alten Tränen und Säcken wird - und ich befürchte, dafür ist es jetzt eigentlich eh schon zu spät - ist es lohnenswert, darauf hinzuweisen, dass wenigstens meinereiner tatsächlich ziemlich stolz auf diese Platte, ihre Songs und ja: auf diese Band und die beiden anderen Jungs ist. Und das sage ich, wo mir "Stolz" eigentlich völlig fremd, wenn nicht gleichzeitig auch ziemlich unsympathisch ist. Ich kenne das Gefühl praktisch gar nicht. Aber wir machen seit sieben Jahren zusammen Musik, gehen uns immer noch nicht auf den Sack, sind alle drei gemeinsam der Meinung, dass es wichtig ist, auch weiterhin gemeinsam Musik zu machen, haben diese verführerische Mischung aus einer ruhigen Gelassenheit und gleichzeitig einem immer noch durchaus hohen Anspruch an die eigene Musik, und gehen, ohne dass es uns glaube ich wirklich immer präsent und bewusst ist, immer einen kleinen Schritt weiter: hört man beispielsweise unsere ersten Aufnahmen aus dem Jahr 2010 und vergleicht sie mit dem, was wir nun mit "Taped!" aufgenommen haben, dann ist das ziemlich zweifelsfrei immer noch die gleiche Band, aber die Musik hat ebenso wie der Sound ein paar ganz ordentliche Entwicklungssprünge gemacht. Mir erscheinen die neueren Titel gleichzeitig komplexer als auch runder zu sein. Vor allem aber, und das freut mich ganz besonders, sind die Texte und ihre Aussage so eindeutig und klar wie vielleicht noch nie. "Endlosschleife", "Just A Ride" und "Herz & Gefühl" sprechen mir allesamt aus dem Herzen und als zusätzliches Glück tun sie das alle aus unterschiedlichen Blickwinkeln. 

Ich bin jedenfalls sehr glücklich mit "Taped!" und ich freue mich auf die letzten drei Konzerte in diesem Jahr in Mainz, Frankfurt und in Münster mit ein paar wirklich guten Leuten in ein paar wirklich guten Läden. Das werden nochmal echte Höhepunkte in diesem Jahr.

Saturday 12 November 2016
Blank When Zero
with Short, Broccoli Jelly, and 1 other
Rare Guitar, Münster, Germany

Monday 14 November 2016
Blank When Zero
with GBH
Au, Frankfurt, Germany

Saturday 10 December 2016
Blank When Zero
with Vandalism and Church Of Cycology
Haus Mainusch, Mainz, Germany



Wir werden außerdem Ende des Jahres eine kleine Tape-Edition mit den neuen Songs von "Taped!" als auch mit ein paar alten Gassenhauern auf der B-Seite veröffentlichen. Auch darüber wird es dann hier nochmal etwas zu lesen geben.

Bis dahin habt ihr vielleicht mit "Taped!" genau so viel Spaß wie wir. Der Download ist natürlich kostenlos.




Erschienen auf Keep It A Secret Records, 2016.



Was ich noch zu sagen hätte...

Ich möchte ganz persönlich zum Schluss noch ein großes "Danke!" an Simon und Marek schicken, die den ganzen Scheiß zwischen Kinderzimmer, Ehe, Hunde- und Katzenspaß und einem teilweise mehr als straffen Arbeitsalltag immer noch mitmachen und sich auf "Taped!" wirklich den Arsch abspielen.

Ein "Danke!" geht ebenfalls an unseren Produzenten Jörg, der während der Aufnahmen ganz vielleicht noch ein bisschen grauer geworden ist - und der aber wirklich seine beste Arbeit mit uns abgeliefert hat.

Ein großes Danke geht außerdem an Cornelius von Keep It A Secret (Facebook) der uns seit Jahren, praktisch eigentlich ab Tag Eins, so riesig unterstützt und uns nun sogar ein Eckchen in seinem Keep It A Secret Records-Stall hübsch gemacht hat. Cornelius ist womöglich einer der wichtigsten Menschen für diese Band, und ich muss ehrlicherweise sagen, dass ich nicht weiß, ob es Blank When Zero in dieser Form noch gäbe, hätte Cornelius uns nicht regelmäßig zu seinen Veranstaltungen eingeladen, um auf die Bühnen in Mainz, Hanau und Frankfurt zu klettern. Und wenn Tillman nicht immer so gut kochen würde, wären wir auf im weniger übertragenen Sinn schon längst verhungert. 

Und natürlich eine extratiefe Verbeugung vor der Herzallerliebsten, die mir nicht nur jederzeit die Freiheit gibt, oft wegen dieser Band unterwegs zu sein, sondern die dann sogar auch noch im Aufnahmestudio steht und mitmacht. I love you. 


09.10.2016

Ist dieses Klischee glutenfrei?




INFINITY WINDOW - ARTIFICIAL MIDNIGHT


Eine jener Platten, über die ich seit mehreren Jahren schreiben will, und es trotz aller guten Vorsätze nie geschafft habe - sie ist damit nicht alleine, aber es ist eines jener Alben, das sehr prominent auf der im Schädel zusammengekritzelten Liste steht, weil ich es so überragend gut finde. In dieser Rubrik ebenfalls ganz weit vorne ist "Miles Away" von The Last Electro-Acoustic Space Jazz & Percussion Ensemble (hinter dem übrigens Hip Hop-Tausendsassa Madlib steckt) - eine meiner absoluten Lieblingsjazzplatten, wichtig, toll, richtig groß, aber ein Textlein darüber ist hier immer noch nicht zu finden. Entsprechende Onlinepetitionen werden vom Autor berücksichtigt, just sayin'.

Fassen wir uns also heute ein flottes Herz für "Artificial Midnight" - eine Platte, die in erster Linie deshalb so besonders ist, weil sie bereits nach wenigen Sekunden...naja: so besonders ist. Ich habe das schon mehr als nur einmal im Rahmen von Werken des Saarländers Stephan Mathieu gesagt, und es passt hier ebenfalls. Der eigentliche Klang, der Ton ist so speziell, so wohltuend schön und anders als der fast komplette Rest der vermeintlichen Konkurrenz, dass ich sofort die Ohren spitzen und aktiv zuhören muss. Letzteres macht hier so oder so Sinn: das Produzenten-Duo Taylor Richardson und Daniel Lopatin (u.a. Onohtrix Point Never) hatte sich das Ziel gesetzt, eine wolkigere, dichtere Version früher Kraut-Aesthetik zu erschaffen:

"Putting krautrock in a fog — it’s like taking the vibe of prog and divorcing it from all the bullshit wankery and cliche." (Lopatin)

Drei Tracks lassen sich auf "Artificial Midnight" finden, die von der ersten bis zur letzten Sekunde einen Stimmungsbogen zeichnen; eine echte, gewollte Entwicklung. Ist der Beginn mit "Sheets Of Face" noch dunkel und komprimiert, hellt es sich im weiteren Verlauf durch "Internal Compass" und ganz besonders im knapp zwölfminütigen "Skull Theft" bei aller weiter vorhandener Dramatik immer mehr auf. Optimismus. Licht. Synthiewände und -schleifen aus dem Kontext der freien Liebe, der Kommunen, dem Sauerkrautfass und Conrad Schnitzler. Denn niemand hat gesagt, dass ich keine Klischees verwenden dürfte. 

Für die Zielgruppe ist "Artificial Midnight" gerechterweise eines der besten Ambientalben der letzten 20 Jahre. 




Erschienen auf Arbor, 2009.