JUD - GENERATION VULTURE
Trump wird Präsident der USA und Jud bringen ein neues Album raus - beides wäre noch vor wenigen Monaten völlig undenkbar gewesen. Während die Wahl der faschistischen "Whiny Little Bitch" (Bill Maher) nebst der Nominierung rassistischer, antisemitischer, christlich-fundamentalistischer Blowhards für weitere Regierungsposten selbst im weit von Washington entfernten Sossenheim für eine Familienportion Depressionen sorgte, breitet sich in Sachen "Generation Vulture" zunehmend große Freude aus. Die letzten zwei Wochen im Hause Dreikommaviernull standen eindeutig im Zeichen dieses völlig unverhofften Comebacks, und die Anmerkung in meinem Textlein zur "Doppelgängers EP" von The Life And Times, dass also ebenejene gemeinsam mit "Generation Vulture" meinen Rock'n'Roll für die nächsten Monate bestimmen werden, kommt nicht von ungefähr: beide Bands haben die alte Schule besucht, in der Tiefgang, Komplexität, Groove und Melodie im Prüfungsfach "Klischeefreie Rockmusik für die Überlebenden der 90er Jahre" abgefragt und bewertet werden und bestehen jede noch so schwere Prüfung schon seit Jahren mit einem Extrasternchen.
Immerhin satte acht Jahre liegen zwischen dem letzten Werk "Sufferboy" und "Generation Vulture" und obwohl Bandchef David Judson Clemmons auch während dieser acht Jahre neben seinem in Berlin ansässigen Antiquitätenladen musikalisch immer noch und meistens mit Soloauftritten aktiv war, durfte man nicht zuletzt wegen der vermutlich sehr übersichtlichen Verkäufe des Vorgängers wirklich nicht mit einer Auferstehung rechnen. Jud waren irgendwie immer die Vergessenen und selbst dann, wenn der Zeitgeist ihnen eigentlich wohlgesonnen war, tat sich auf der Popularitätsskala so gut wie gar nichts. Schon das Debut "Something Better", immerhin von Korn/Sepultura/Slipknot-Knöpfchendreher Ross Robinson klanglich vollveredelt, ging 1996 trotz dezenter Indie- und Alternative-Schlagseite völlig unter, die beiden Nachfolger "Chasing California" und "The Perfect Life", beides glasklare 10 Punkte Klassiker aus dem viel zu oft zitierten Bilderbuch, konnten an jenem Zustand gleichfalls nichts ändern; dabei hätte gerade "The Perfect Life" mit seinen melodisch verschrammelten Powerindiedoom mit dem Tiefgang eines Ozeandampfers doch wirklich für einen Achtungserfolg sorgen können. Aber es tat sich nichts. Gar nichts.
Ob sich das Bild mit "Generation Vulture" ändern wird, ist höchst zweifelhaft - und wieder bleibt festzuhalten, dass der Band qualitativ nichts, aber auch so gar nichts vorzuwerfen ist. Über drei Jahre wurde penibel an dem neuen Werk gearbeitet und man hört es "Generation Vulture" zu jeder Sekunde und im allerbesten Sinne an. Die Produktion ist mehr als nur state of the art - ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt ein so imposant in Szene gesetztes Album einer Rockband hörte; einer Indieband zumal, die nicht von Majors, A&Rs und Managern mit ein paar Scheinchen aus der Megaseller-Schatulle gefördert wird. Glasklar, druckvoll, bretthart - und doch soviel Transparenz und Intelligenz, um ihren ureigenen und einzigartigen Signature-Sound wie einen großen Mittelfinger in Richtung der Legion von talentlosen Nichtskönnern zu schmettern, die sich hinter ihrer totproduzierten Plastikscheiße verstecken müssen. Die sieben Songs, drei davon ungewohnterweise jeweils um die acht Minuten lang, gehören mit zum Besten, was diese Band jemals geschrieben hat: groovebetont wie eh und je, fräsen sich vor allem die ersten drei Tracks "Blind Society", "Where We Come From" und "Summer Of Love" mit monströsem Riffing in jedes Rockerherz, das auch ohne breitgetretene Klischees nicht die Arbeit einstellt, sondern stattdessen lieber das Emotionszentrum aufheizt. Große Gefühle, große Bühne, großer Gummiknüppel. Ich erlebe vor allem in jenen Momenten Gänsehautschauer - and that's the fucking truth! - die sich harmonisch und atmosphärisch deutlich am 1998er Zweitwerk orientieren. "Chasing California" blitzt tatsächlich manchmal durch und das ist deswegen so auffällig, weil nur Clemmons solche Harmonien schreibt. Niemand sonst. Kann auch sonst niemand.
Freudenschreie. Luftschlagzeug. Luftgitarre. Schmerzverzerrtes, weil mitleidendes und mitlebendes Gesicht. Becker-Faust. Bohlen-Pimmel (gebrochen). Dreifacher Salto mit zweieinhalbfacher Schraube von 28 Meter Turm. Alles auf der Autobahn und bei 140 Sachen.
Nach "Summer Of Love" folgt eine kleine Zäsur, denn jetzt wird's sperrig und die eigentliche Arbeit beginnt: "Find Us, Heal Us" kratzt erstmals an der acht Minuten Marke und ist eine komplex arrangierte Achterbahnfahrt zwischen Drama und Melancholie. "The Operation" taut erst nach knappen drei Minuten so richtig auf und basiert im Prinzip auf nur einem dreckig gespielten Bluesriff. Dazwischen: viel Schmutz, viel Dreck, ein ganz kleines bisschen Gitarrensolo und ein praktisch komplett durchgeschlagenes Crash-Becken. Und Tiefe. Tiefe, Tiefe, Tiefe.
Wem über die letzten Jahre mit Streaming, Downloads und kultureller Verwahrlosung die echte Auseinandersetzung mit Musik abhandengekommen ist, muss spätestens hier zwangsläufig die weiße Flagge hissen. "Humanity, The Lie" setzt tatsächlich nochmal einen drauf und ist möglicherweise das Kernstück von "Generation Vulture": über acht Minuten lang türmt sich ein Emotions- und Riffklotz über den nächsten auf, bis das so entstandene Intensitätsgebirge fast schon körperlich erfahrbar wird. Was - außer Pudding in den Beinen und einem signifikant beschleunigten Puls - kann nach einem solchen Hammer noch kommen? Können wir jetzt bitte wieder ein bisschen abkühlen? Ich muss mal an die frische Luft.
"How The West Was Won" beginnt tatsächlich zunächst etwas dezenter, bis ich inmitten des cleveren, an Postrockgrößen wie Godspeed You! Black Emperor erinnernden Spannungsaufbau spüre, dass die Band schon wieder am nächsten Brocken tüftelt - bis zum finalen Einsturz. Ich will nicht zuviel verraten, aber es endet alles ganz anders. Und plötzlich merke ich, wie viel Sinn das hier alles macht. Wie sich der Kreis nach diesen Songs schließt.
Are you alone in this world?
And are you ready for the new world war?
Have you decided just what you're gonna fight for?
Are you alone tonight?
Das ist eine große, große Platte. Und ich finde fast keine Worte mehr für die Tragik, dass auch "Generation Vulture" nur von einer Handvoll Eingeweihter gehört und geliebt werden wird. Von denen dafür aber dann umso inniger.
Erschienen auf Supermusic, 2016.
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