14.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Flying Lotus - Cosmogramma




FLYING LOTUS - COSMOGRAMMA


Vielleicht das inspirierteste Elektronik-Gefuddel der letzten 10 Jahre. Der Vorgänger "Los Angeles" bedeutete den Durchbruch, "Cosmogramma" holte dann zum großen Schlag gegen jede Form der Apathie und Geistlosigkeit aus: hyperaktives Sci-Fi-Gedaddel aus den grasvernebelten Universen zwischen Sun-Ra-Saturn und Krautrock-Rauhfaser, das Wurzelchakra im purpurnem Astralstaub gebadet, der Stammbaum geht rauf bis zum Merkur. Weil eben alles EINS ist, Stupid! 

Die Besessenheit, über Sounds und deren Anstriche so lange zu grübeln, bis auch der siebzehntausendste Schlag auf die Snare richtig sitzt, ist das Eine - aus dieser Lawine an Ideen, Reflexen und Entscheidungen den spirituellen Überbau aus kosmischer Wahrheit und Liebe zu channeln, das Andere. 

(Das ausführliche Review gibt's in der "Blast From The Past"-Rubrik  >>>)



Erschienen auf Warp Records, 2010.

07.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Minus The Bear - Omni




MINUS THE BEAR - OMNI


Der erste ernsthafte Versuch dieser, und es darf mittlerweile so gesagt werden: Indierock-Ikone aus Seattle, jeden in ihren Augen überflüssigen Ballast aus ihren Songs zu entfernen, führte zu einem Album, über das ich bereits vor acht Jahren dachte, man sei nur noch einen Katzensprung von einem unveröffentlichten Genesis-Album aus den 1980er Jahren entfernt - und bevor die Frage aufkommt, wie das jetzt schon wieder zu verstehen sei: natürlich nur im allerbesten Sinne. 

Ganz vielleicht wollten sowohl Band als auch Label mit "Omni" auch den Weg in Richtung Mainstream und damit Weltherrschaft gehen, bis ein paar Jahre später klar war, dass dafür schon so einiges zusammenkommen und -passen muss. Dabei hätte es meinethalben gerne klappen können - und ihr fünftes Album wäre geradezu dafür prädestiniert gewesen. Sänger Jake Snider sang auch auf "Omni" immer noch von allerlei Anzüglichem, während er sich bekifft in den Bettlaken räkelte, hatte aber nun die Mathrock-Hühnerbrust mit einem Holzfällerhemd verdeckt und ließ sich außerdem einen stattlichen Vollbart stehen, in dem sich die Sünden der vergangenen Nacht sammelten. 

Für unbeschwerte Sommertage mit Hanfplantage in Hanglage und einem handgepressten Pferdeapfelburger aus der Hipster-Manufaktur gibt es fast nichts Besseres. 



Erschienen auf Dangerbird Records, 2010.



01.03.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Atheist - Jupiter




Schon seit einigen Wochen sitze ich noch mehr als üblich im mentalen Sandkasten und halluziniere in den buntesten Farben eine Art Auftrag herbei, über die besten Platten der letzten zehn Jahre zu schreiben - denn was 2010 galt, kann für 2020 meinethalben auch gelten, es geht hier ja schließlich immer noch um "Content!" (Antitainment).

25 Alben sollten es am Ende des real existierenden Excel-Massakers werden und ich kann freudig weißen Rauch aufsteigen lassen: es ist vollbracht! Zwischen Discogs-Sammlung, Jahresbestenlisten, Plattenregal und Alzheimer werde ich diesem Blog wenigstens für eine kurze Zeit wieder ein bisschen Leben (und außerdem viele der so innig geliebten Tippfehler) einhauchen - und ich nahm darüber hinaus die Übung gleich zum Anlass, ein wenig über die letzten zehn Jahre zu reflektieren. Das war nicht immer einfach. Manches aus jener Zeit erscheint emotional heute weiter von mir entfernt zu sein, verblasster und undurchdringlicher als die gefühlsmäßige Standleitung in die romantisch verklärte Adoleszenz in den 1990er Jahren, und das wirft bei entsprechender Chraktereigenschaft unangenehme Fragen aufs Tableau. Die Zäsur des Jahrzehnts war sicherlich mein Jobwechsel im Jahr 2015, der im Prinzip mein bisheriges Leben auf den Kopf stellte. Wer belastbares Beweismaterial sucht, findet es in den seitdem deutlich zurückgegangenen Beitragszahlen auf diesem Blog; ein Umstand der mich nicht gerade mit Stolz erfüllt. Offensichtlich konnte ich mich 2016 noch irgendwie durchbeißen, aber bereits ein Jahr später musste ich immer öfter die weiße Flagge in das Alltagsgetöse halten, und ich sehe leider nicht, wie sich das ohne stattlichen Lottogewinn künftig ändern ließe. Was indes Hoffnung macht: auch wenn die Frequenz der geschriebenen und hochgeladenen Texte sank, ist überhaupt und immerhin noch eine Frequenz vorhanden! Das klingt im mehr oder minder gut verschleierten Subtext fatal nach "Es war ja auch nicht alles schlecht!", dabei ist's ja nicht anderes als ein bereits ordentlich ausgefranster Strohhalm, an den ich mich immer noch klammere. Es ist schon alles ziemlich verrückt.

Dabei macht mir das Schreiben immer noch sehr viel Spaß, vor allem, weil es die Auseinandersetzung mit der Musik "fördert und fordert" (Schröder). Das Problem dabei: auch wenn es die Qualität öfter als mir lieb ist nicht unbedingt vermuten lässt, so ist für meine Texte ein ziemlich großer Aufwand notwendig. Die Recherche, das Sammeln der Gedanken, die unzähligen Textentwürfe, die andauernden Überarbeitungen - und all das im Zeichen des allgegenwärtigen Kleinkriegs mit der Prokrastination und der sowieso immanenten geistigen Limitierung - machen praktisch jeden Beitrag zur Mut- und Kraftprobe. Und wenn dann noch die Zeit fehlt, und die fehlt wirklich fucking immer, schmeiße ich schon beim bloßen Gedanken an den zu erwartenden Krampf beim Ringen nach Worten, nach Stil und Eleganz das Handtuch. Ein Rückblick auf die letzten zehn Jahre machte mir deutlich, dass ich höchstens 10% der in dieser Zeit geschriebenen Texte für einigermaßen erträglich halte, im Sinne von "ohne gröbere Fremdscham bis zum Ende des Artikels lesbar". Der Rest ist oft halbgar recherchiert und hölzern formuliert, vielleicht immer gut gemeint, aber selten wirklich gut gemacht. Einiges überarbeite ich im Stillen teils noch Jahre später, wenn ich mal wieder über ganz besonders furchtbare Peinlichkeiten stolpere; ich habe schon Beiträge nochmal komplett neu geschrieben, die vermutlich wirklich niemand mehr jemals lesen wird, aber ernsthaft: ich kann das doch so nicht stehen lassen!

Es ist im Prinzip wie bei meiner selbstgemachten Musik. Ich nehme seit 1998 Platten auf und schreibe seitdem sowohl eigene Texte als auch eigene Musik und es gibt praktisch keine veröffentlichte Song- und Textsammlung, für die ich nicht ohne Zögern einen Atomkrieg anzetteln würde, auf dass dieser selbst ausgedachte Schmonz endlich vaporisiert und also vom Antlitz der Erde getilgt wird. Da arbeitet man Jahre an sowas, nimmt es unter gröbsten Anstrengungen auf, ist exakt für zwei Minuten glücklich - und ist sprichwörtlich beim ersten Schritt aus dem Aufnahmestudio soweit, sich auf der Heimfahrt den finalen Baumstamm auf der Landstraße auszusuchen - wie konnte ich diese eine Melodie denn bitteschön so scheiße singen?! Warum habe ich denn da zwei Mal die gleiche Strophe gesungen? Fucking hell, die Gitarre ist verstimmt! Aber mein Über-Ich in einem Paralleluniversum war beim initialen Gedanken offenbar der Meinung, dass es sich doch auch prima mit halber Kraft fahren ließe - und ließ bei der Erkenntniss glatt einen fahren. Die stetig voranschreitende Mediokrität der eigenen Umwelt hat ja auch sein Gutes, das Feigenblatt zur Abdeckung der eigenen Mittelmäßigkeit kann mithin nicht groß genug sein.

Genug mit der Selbstkasteiung, sprechen wir lieber über Musik. Denn musikalisch betrachtet war es das beste Jahrzehnt aller Zeiten, stilistisch ein möglicherweise gar zu gleichen Teilen konsistenteres und eklektischeres als das vorangegangene. Ich denke, die folgende Auswahl er 25 besten, tollsten und geliebtesten Platten kann diese These bestätigen. Ich fühle mich mittlerweile in dem Spannungsfeld der nachwievor manischen und so unabhängig wie nur möglich durchgeführten Suche nach neuer Musik und dem immer wieder vollkommen erfüllenden Abtauchen in bekannte und längst auf dem Olymp stehende Alben ganz wohl - es gehört zum fast täglichen Ritual, sowohl das eine, als auch das andere in meinem Leben zu begrüßen. Auch wenn der Drang, sich wegen latenter Überforderung immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen, durchaus vehementer spürbar ist als noch vor fünf Jahren. Im Moment halte ich den Gegenwind noch aus.

Und dieser letzte Satz ist vielleicht eine etwas krude Einleitung für eine Textreihe, die sich explizit mit der Vergangenheit auseinandersetzen soll. Da haben wir's wieder: einmal nicht nachgedacht, schon kommt nur "Mumpitz" (Matthias Breusch) raus.

Auf die nächsten zehn Jahre Mumpitz.


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ATHEIST - JUPITER 

Atheist haben mit "Jupiter" ein Album eingespielt, das qualitativ nahtlos an ihre ersten drei Klassiker "Piece Of Time" (1989), "Unquestionable Presence" (1991) und "Elements" (1993) anschließt. Mir fällt sonst keine andere reformierte Metalband mit entsprechender Fallhöhe ein, die das erreichen konnte - was vermutlich auch der Grund dafür war, im Oktober 2010 und damit also kurz nach dem Release des mich, Zitat: "wuschig" machenden Vorabstracks "Second To Sun" darüber zu phantasieren, dass mich das kurz darauf zu veröffentlichende Album ganz sicher nicht so mitnehmen werde wie ihre Frühwerke. Gebranntes Kind, und so. Und zack, zehn Jahre später hat's mich geradezu mit- und weggerissen. Technisch so anspruchsvoll wie eh und je, kraftvoll und kompromisslos, dazu mit der so typischen (für Atheist) wie ungewöhnlichen (für das Genre) Eingängigkeit ausgestattet, ist "Jupiter" der nächste Meilenstein im Schaffen dieser einzigartigen Band - auch wenn die Experimentierfreudigkeit meines Lieblingsalbums "Elements" beim Comeback in der Grastüte vergraben blieb. Gerüchte über ein neues Album halten sich seit Jahren hartnäckig, tatsächlich hat man im Jahr 2018 sogar einen neuen, weltweiten Plattenvertrag unterzeichnet, aber abseits einiger Tourneen auf der anderen Seite des großen Teichs, hat sich bislang leider nichts getan. Wenn "Jupiter" ihr Schwanengesang bleiben sollte: ich kann damit bestens leben.




Erschienen auf Seasons Of Mist, 2010.



29.02.2020

Warrior Soul - Live In London 2000




Endlich! Endlich, endlich, endlich! FUCKING ENDLICH!

Ich frage mich seit 20 Jahren, warum von der sagenumwobenen Reunionshow der besten Rockband des Planeten im herbstlichen London des Jahres 2000 bislang weder etwas zu sehen, noch zu hören war. Die Antwort auf diese Frage bleibt auch die heutige Entdeckung schuldig, aber immerhin ist hiermit nun die bild- und tonlose Zeit endlich vorüber.

Bereits im April des vergangenen Jahres erbarmte sich Gerry Gillan und lud die komplette Show auf Youtube hoch: Warrior Soul - Live In London.

Etwa zwei Monate nach diesem Gig veröffentlichte die Band das "Classics"-Album, eine Zusammenstellung ihrer größten Hits (in weiten Teilen sogar neu eingespielt) und wären diese vier Bekloppten jemals halbwegs bei Trost gewesen, hätten wir vielleicht sogar ein neues Studioalbum in der Originalbesetzung hören dürfen - aber es kam, wie es wohl kommen musste, und die Band, in dieser Besetzung traditionell ein einziges Pulverfass, brach erneut auseinander. Dieses Mal für immer: Schlagzeuger Mark Evans wurde 2005 in England ermordet. Mit ihm wurde auch das Original-Lineup begraben. 

Dieses Video ist pures Gold, ein heiliger Gral für die mittlerweile äußerst überschaubare Fangemeinde. 

Und wer nochmal nachlesen möchte, was ich vor über acht Jahren (fucking hell!) über Warrior Soul zu denken, sagen und schreiben hatte, nimmt sich einen halben Tag frei und macht schon mal die Hose auf:







08.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 1 ° Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Selbst meine seit knapp 20 Jahren andauernden Streifzüge abseits der gleichfalls geliebten Rockmusik und also durch das Dickicht solch unterschiedlicher Genres wie Jazz, Electronica, Techno, Ambient, Soul und Funk können es nicht verhehlen. Es war nie sexy und es wird wohl auch niemals sexy sein, aber ich komme wohl nicht drum herum: Progressive Rock und -Metal sind meine Inseln, meine Leuchttürme und meine Rettungsanker. Und bevor mir noch ein weiteres maritimes Bild einfällt, will ich's schnell begründen. Sollte ich jemals auf die Idee kommen, meine, sagenwirmal 50 meistgeliebten Alben in einer Art Reihenfolge aufs Papier zu bringen, stehen die Chancen für einen mindestens 70% ausmachenden Anteil jener Musik nicht schlecht, die gemeinhin unter dem Rubrum "progressiv" firmiert. King Crimson, Dream Theater, Atheist, Marillion, Voivod, Fates Warning, Spock's Beard, Psychotic Waltz, Tool würden allesamt gleich mehrfach in dieser Liste auftauchen, und bis heute komme ich trotz meiner immer noch sehr ausgeprägten Auseinandersetzung mit neuer Musik immer wieder und sehr regelmäßig zu diesen Bands und ihren Platten zurück. Um ehrlich zu sein: je älter ich werde, desto öfter kehre ich zurück. 

"Winter Ethereal" sollte also auf fruchtbaren Boden fallen - auch ohne besondere Affinität zum Kultalbum Fates Warnings "Awaken The Guardian" aus dem Jahr 1986, das die Band zum letzten Mal mit Sänger John Arch zeigte, bevor Ray Alder zum Quartett aus Conneticut stieß, der seitdem höchstens noch von ein paar Betonköpfen von der Sängerposition wegzudenken ist.

Gut sieben Monate nach der Veröffentlichung ist "Winter Ethereal" meine Platte des Jahres 2019. 

Ich möchte den Anteil von Gitarrist Jim Matheos an diesem Titel nicht schmälern; der Mann erlebt bereits seit einigen Jahren seinen x-ten kreativen Frühling und seine aktuellen Kompositionen für Fates Warning sowie für "Winter Ethereal" sind vielleicht die besten, die er je geschrieben hat. Seine Produktionen sind absolut state-of-the-art; ich habe seit 20 Jahren keine so natürlich und gleichzeitig so groß und offen klingende Metalplatte mehr gehört. Seine Sounds sind geschmackvoll und mehrere Universen von stumpfem Haudrauf-Metal entfernt, stattdessen wohlüberlegt und mit großer Erfahrung ins Sounddesign eingepasst. Auch seine Auswahl von Begleitmusikern für "Winter Ethereal" ist beeindruckend: nicht nur hat er beinahe die ganze Fates Warning Truppe zusammengetrommelt, inklusive früherer Mitglieder Mark Zonder und Frank Aresti, sondern darüber hinaus auch noch Steve DiGiorgio, Sean Malone und Schlagzeuger Thomas Lang für dieses Projekt gewinnen können. Matheos ist ein nimmermüder Suchender, ein intelligenter, emotionaler und introvertierter Musiker, der immer den berühmten Schritt weitergehen möchte, ohne dabei die klassische Signatur seiner Musik zu verlieren. 

Der eigentliche König auf "Winter Ethereal" ist aber Sänger John Arch. Ich habe schon sehr lange keinen Sänger mehr so singen hören. Arch hat sich nach seinem Abschied von Fates Warning vor über 30 Jahren sehr rar gemacht. Außer einer in den frühen nuller Jahren erschienenen EP tauchte er erst 2012 für das erste Arch/Matheos-Album "Sympathetic Resonance" wieder auf. Die Legende sagt, dass er in seinen Ruhephasen überhaupt nicht singt und deswegen ein ganzes verdammtes Jahr zur Vorbereitung benötigt, um entweder ein Aufnahmestudio zu besuchen oder eine Bühne zu betreten, damit er den Rost aus den Stimmbändern kratzen kann. Wer "Winter Ethereal" hört, mag das verstehen: Arch singt um sein Leben. Er singt viel, sehr viel sogar - beinahe ohne jede Verschnaufpause geht es in den allerhöchsten Stimmlagen über die gesamte Spielzeit dahin; tatsächlich wird seine Performance nur von zwei oder drei etwas längeren Gitarrenduellen zwischen Matheos und Aresti bewusst unterbrochen. Jeder ängstlich herbeihallizunierte Reflex, diesen extrem verschnörkelten, aus jedem Ruder laufenden, wieselflink zusammengepuzzelten Gesangslinien selbst zu folgen, sie also nachzusingen, wandert meist nach zwei Sekunden in die nächstbeste Tonne, stattdessen überfällt mich ein Gänsehautschauer nach dem anderen. Sein Gesang, seine Stimme, seine Texte so kraftvoll und so mächtig, seine Melodien so überwältigend, dass ich mir manchmal nicht anders zu helfen weiß als (i) in die Knie zu gehen, (ii) den Tränen freien lauf zu lassen oder (iii) der Herzallerliebsten nachts um 2 eine astreine Air-Mic-Vorstellung vor dem Plattenspieler zu geben. Irgendwo müssen die Gefühle ja hin. 

Alles, was mir musikalisch soviel bedeutet, ist hier zu finden: die emotionale Tiefe von Psychotic Waltz, die Dunkelheit und Melancholie der "Pleasant Shade Of Grey"-Phase von Fates Warning, die Komplexität und Wucht von Nevermore, die Verspieltheit von Dream Theater. Und doch könnte "Winter Ethereal" nicht weiter von Nostalgie und Pastiche entfernt sein.

Ich schrub im hellen Lichte von "Theories Of Flight" bereits vor drei Jahren, dass ich mich so darüber freuen konnte, diese Gefühle wieder entdeckt zu haben: ein hochklassiges, echtes, authentisches, tiefes, melancholisches, herausragend komponiertes und atemberaubend gut gesungenes Metalalbum hören zu dürfen. Jetzt ist es dank "Winter Ethereal" also wieder passiert, vielleicht sogar noch ausgeprägter als 2016. 

Ein echter Meilenstein, ein Meisterwerk, ein absolutes Ausnahmealbum, das mir bis zum Schlagen des letzten Stündleins nie mehr von der Seite weichen wird. 




Erschienen auf Metal Blade Records, 2019.


06.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 2 ° Purl - Violante (Lost In a Dream)




PURL - VIOLANTE (LOST IN A DREAM)


Es ist mittlerweile nahezu unmöglich, den musikalischen Spuren Ludvig Cimbrelius' zu folgen. Alleine die Supernerds von Discogs listen neun Aliasse des Schweden auf - und alle haben zig Veröffentlichungen über das vergangene Jahrzehnt auf unterschiedlichen Labels vorzuweisen. Wer soll da noch durchblicken? Und wer soll das alles hören?

Manchmal, wenn die Herzallerliebste und ich uns früh morgens zum ersten gemeinsamen K&K (Kaffee & Kuscheln) trafen, bevor die Welt da draußen Fahrt aufnahm und die mich bisweilen an den Rand mentaler und emotionaler Robustheit bringende Lohnarbeit nach mir rief, wenn also alles friedlich, alles nur Liebe, Glück und Freude darüber war, gemeinsam durch dieses verrückte Leben gehen zu dürfen, und "Violante (Lost In A Dream)" sich auf dem Plattenteller drehte, während wir das stimmungsvolle Coverartwork anschauten, dann dachte ich oft: eigentlich muss ich nie wieder etwas anderes hören. Alles, was ich bin, was ich fühle, was ich will, woher ich komme und wohin ich gehe, finde ich in dieser Musik. 

Details, die für neun Leben reichen. 

Tiefe bis zum Kontrollverlust. 

Schönheit, die zu Tränen rührt. 


Ludvig, you're a fucking wizard. 



Erchienen auf Archives, 2019.

02.02.2020

Best Of 2019 ° Platz 3 ° GOLD - Why Aren't You Laughing?




GOLD - WHY AREN'T YOU LAUGHING?


Es hat etwas Zeit benötigt, bis ich den Zugang zu GOLD fand. Vermutlich waren angesichts personeller Parallelen zur mittlerweile aufgelösten Quatschcombo The Devil's Blood (GOLD-Gitarrist und -Gründer Thomas Sciarone) meine anfänglichen Vorbehalte zu prominent im Stammhirn platziert, was eine frühere Annäherung nahezu unmöglich machte - manchmal bin ich so, ich kann's nicht wirklich ändern. Mittlerweile sieht die Welt anders aus. GOLD sind die vielleicht bemerkenswerteste Rockband dieser Tage und haben seit dem eher unspektakulären Schalala-Rock ihres Debuts "Interbellum" aus dem Jahr 2012 eine atemberaubende Entwicklung durchgemacht. "Why Aren't You Laughing?" ist zweifellos der bisherige Höhepunkt dieser Transformation: die mystische, dunkel schimmernde Mixtur mit Elementen des Gothic-, Post- und Indierocks mit der gleichermaßen entrückt wie glasklar durch die Songs schwebenden, endlich auch selbstbewussten Stimme Milena Evas und die aus dem Black Metal aufgefächerten Gitarrenfiguren ergeben einen Sound, wie ihn die Welt bislang noch nicht gehört hat. 

Und das ist vielleicht das Problem für das Erreichen der Weltherrschaft. Die Band spielte vor wenigen Tagen im Aschaffenburger Colos-Saal vor gerade mal 50 Zuschauern eines ihrer seltenen Solokonzerte (ansonsten werden sie auch 2020 in erster Linie auf Festivals zu sehen sein) und mir wurde plötzlich klar: die sind mit dieser musikalischen Mischung nebst der konzeptionellen Choreografie und den starken, feministischen, für Gleichberechtigung und eine offene, freie Gesellschaft einstehenden Texten vielleicht ein paar Jahre zu früh dran. Und überhaupt: fragt mal eine feministische Band wie beispielsweise War On Women, was sich an frauenfeindlicher Scheiße in den Kommentarspalten ihrer Youtube Videos abspielt. Man kommt nicht drum herum: was der rockende Bauer nicht kennt, frisst er eben nicht, und so mancher ist darüber hinaus auch einfach, pardon, klotzehohl. Ich kann das sagen, weil ich schließlich auch hin und wieder die Heugabel im Kopf stecken habe; wer einen Beweis braucht: er findet sich im einleitenden Satz dieses Beitrags. 

Ich kann nur hoffen, dass die Band weitermacht - eigentlich sollten sowohl von dieser Band im Allgemeinen, als auch von dieser ganz hervorragenden und tief bewegenden Platte wahrlich ein paar mehr Menschen Notiz nehmen. Denn wer weiß, wie eiskalt mich aktuelle Rockmusik für gewöhnlich lässt und für wie austauschbar, stumpf, oberflächlich und mutlos ich den beinahe ganzen übrigen Sauhaufen halte, darf sich nun die wildesten Träume über die Qualität von GOLD ausmalen. 

Sie sind alle wahr. 



Erschienen auf Artoffact Records, 2019.

31.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 4 ° Rhi - The Pale Queen




RHI - THE PALE QUEEN


Wer sich wie ich mit Vorliebe wie ein gelähmtes Faultier auf der Couch und im Bett herumräkelt, und sei's nur mental, um Wahnsinn sowie Getöse draußen in der großen, fiesen Welt die eiskalte Schulter, wo nicht gleich den ganzen nackten Arsch zu zeigen, der braucht dazu einen passenden Soundtrack, der mit völliger Leere im Blick gleichermaßen Wärme und Trost spenden kann. Wenn einem alles und jeder andere sowieso nur unangenehm auf die Pelle rückt, braucht man Abstand - und gleichzeitig eine Umarmung. 

Das bekiffte Elektrogeblubber der in London lebenden kanadischen Produzentin Rhi machte mich schon auf dem Debut "Reverie" ganz wuschig und obwohl sie die Formel ihres Sounds auch für "The Pale Queen" weitgehend beibehalten hat, also lasziv gehauchte Texte, die über eine minimalistische, aber tief dröhnende TripHop Landschaft wabern, ziehen mir künftige Klassiker wie "Droned", "How Deep" oder "Plain Jane" ("I'm a grunger, grunger, grunger babe, I'm a natural, natural, natural lady") ganz "schön" (Klinsi) den Schlüpper aus: das ist die keinste radikale Minderheit Schnittmenge aus totaler Apathie und tief empfundener Hingabe. 

Der Großstadtpuls für depressive Millennials. 



Erschienen auf TruThoughts, 2019. 



28.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 5 ° Durand Jones & The Indications - American Love Call




DURAND JONES & THE INDICATIONS - AMERICAN LOVE CALL


Das selbstbetitelte Debut von Durand Jones & The Indications aus dem Jahr 2016 war bereits ein echter Hinhörer, für den die Musikpresse die große Schublade mit den Superlativen öffnete: das authentischste, oldschooligste, tiefgründigste Soulalbum seit Jahrzehnten sei geboren, der Heiland ist gekommen, usw. usf. - vielleicht hatte man aber auch einfach nur schon wieder das Debut von Charles Bradley vergessen. Natürlich hat es einen Grund, warum ich den 2017 verstorbenen Screaming Eagle Of Soul in diesem Zusammenhang erwähne, denn "American Love Call" ist tatsächlich die beste Soulplatte seit "No Time For Dreaming". 

Zweifellos war das Debut des Quartetts aus Indiana eine gute Platte, aber pardon: das hier ist next level shit. Die Band hatte im Gegensatz zum etwas gehudelt aufgenommenen Erstling für "American Love Call" mehr Zeit und Geld, um die Songideen detaillierter und sorgfältiger auszuarbeiten, und es lässt sich zu jeder Sekunde hören. Die vorab ausgekoppelte Single "Morning In America" ist in meinem Buch längst ein echter Klassiker, der mir immer und immer wieder einen Schauer über den Rücken jagt - aber auch die übrigens Songs stehen dem kaum nach: Hits, Hits, Hits. Deep, romantisch, wahnsinnig gut produziert und mit einem schlicht umwerfenden Schlagzeugsound ausgestattet ("Listen To Your Heart"!!!!11elf!), virtuos und zugleich lässig gespielt. Dazu ein zeitlos-elegantes Songwriting, das der Vergangenheit freundlich-anerkennend zunickt, aber gleichzeitig frisch und modern klingt. 

Es folgt ein Deppensatz, aber da "müssen" (Steinmeier) wir jetzt gemeinsam durch: Muss man gehört haben. 



Erschienen auf Dead Oceans/Colemine Records, 2019.





26.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 6 ° Illuvia - Milla




ILLUVIA - MILLA


Ludvig Cimbrelius ist mit seiner Musik schon seit langer Zeit ein Stammgast auf Dreikommaviernull und meinen Jahresbestenlisten. Egal unter welchem Namen der nimmermüde Schwede arbeitet und praktisch ohne Unterlass Alben, EPs und Einzelsongs veröffentlicht, ist sein Sound mittlerweile unverkennbar. 

Es gibt vielleicht keinen anderen Künstler im zeitgenössischen Ambient, der das Spiel mit Licht und Liebe, mit Spiritualität und der Lust am Leben und Erleben so in sein Werk einbringt wie Ludvig. "Milla" erschien im letzten Jahr unter seinem Alias Illuvia und wer das gleichnamige Album aus dem Jahr 2017 gehört hat, erkennt viele Merkmale dieses Projekts auch auf "Milla": tanzende Herzen, Seelentiefe, Bewusstseinswunder, der Fluss des Lebens zwischen Euphorie und Melancholie, die Berauschtheit an der Schönheit der Natur, Demut vor der Existenz. 

Alles ist hell. Alles strahlt. Alles in Ultra-HD mit Sonnenuntergangsfilter. Let the healing begin. 

P.S.: die Vinylversion bietet lediglich vier Songs (darunter ein Remix der genialen Primal Code), die Digitalversion hat dagegen alle Tracks im Sack. Zu haben auf Bandcamp.



Erschienen auf Hypnus Records, 2019.



25.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 7 ° New Model Army - From Here




NEW MODEL ARMY - FROM HERE


Ich fühle mich seltsamerweise immer noch nicht wirklich dazu berufen, umfassend über New Model Army zu schreiben. Meine erste echte Auseinandersetzung mit der Band begann schließlich erst mit dem letzten Studioalbum "Winter" aus dem Jahr 2016, davor nahm ich sie entweder über Coverversionen von Anacrusis und Sepultura wahr, oder sortierte sie angesichts der ersten fünf als Klassiker geltenden und von mir erst lange Zeit nach Veröffentlichung gehörten Alben in das Fach für jene Legenden ein, an die ich emotional nie so richtig herankommen sollte und mit denen daher die Bindung nie so bedeutsam eng wurde. "Winter" sollte das allerdings recht schnell ändern.

Angesichts meines Musikkonsums, der nicht immer zwingend vorsieht, mich in 30 Jahre alte Platten zu verlieben, liegt die Vermutung nahe, dass sowohl die direkte Beschäftigung mit "Winter", als auch das fleißige Baggern von Freund und Die Hard-Fan Jens dabei kräftig mithalfen. Auch Tobis Thekenumschau-Blog und sein NMA-Listensofa führten mich weiter in ihre Diskografie ein. So kamen der Vorgänger "Between Wolf And Man", sowie die eingeschobene Studio/Live-Mischmasch-LP "Between Wine And Blood" als nächstes ins Ohr und in die Sammlung. Es funkte also so allmählich zwischen New Model Army und mir. 

"From Here" hat nun sogar Brandbeschleuniger im Gepäck und ich verzichte demonstrativ auf einen Feuerlöscher. Und ganz möglicherweise kommt folgendes Statement bei dem ein oder anderen NMA-Jünger nicht so gut an wie Genschmans Balkonrede bei den Menschen in der deutschen Botschaft in Prag, aber sei's drum: das ist die beste New Model Army Platte, die ich kenne. Und damit wir uns richtig verstehen: ich kenne immerhin ein paar. Zugegeben, zwischen 1998 und 2013 klafft noch eine große Lücke, aber ICH KANN JA AUCH NICHT ALLES HÖREN! 

Jedenfalls: "From Here" ist hinsichtlich der Atmosphäre, der Instrumentierung, der Eindringlichkeit, der Songs, des Covers, der Stimme, der Texte, der Ernsthaftigkeit...Achtung, uffjepasst, jetzt kommt's nochmal: ihre beste Platte. 

Case closed. Get over it. 



Erschienen auf Attack Attack Records/Ear Music, 2019.



21.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 8 ° Alfa Mist - Structuralism




ALFA MIST - STRUCTURALISM


Gute Nachrichten: Im Gegensatz zum Vorgänger "Antiphon" gibt es das Vinyl von "Structuralism" noch zu normalen Preisen, ohne dafür allzu komplizierte Moves an Tagen mit ungerader Stundenzahl aufführen zu müssen. Der Release des Debuts, beziehungsweise dessen Vinylversionen, wurde vom britischen Pianisten seltsamerweise strikt limitiert, weshalb selbst Nachpressungen mittlerweile nur noch selten unter 50 Euro zu haben sind. Ein aktuellerer Discogs Kommentar spricht im Zuge der "Öffnung" (sic!) davon, dass der Alfa Mist ja auch schließlich "ein Mann des Volkes" sei und er daher den Release von "Structuralism" auf allen Streamingplattformen erlaubt habe. Da kann man mal sehen.

Abgesehen von all dem Business- und Hype-Remmidemmi unterscheidet sich "Structuralism" in der stilistischen Ausprägung nicht fundamental von seinem Vorgänger und was ich an anderer Stelle, et medium: bei anderen Platten, oft lautstark und enervierend wortreich beklage, dass nämlich more of the same in erster Linie eine Geschäfts- und seltener eine Kreativentscheidung und außerdem wie Norwegen (lang und weilig; Hape) und also supersackfuckingöde ist, stört es mich hier nicht die Bohne: ich verbrachte mal eine ganze Stunde mit dem Opener ".44" auf Endlosschleife in der 50°C heißen Badewanne und ließ mir Hirn, Herz und Hämmorhoiden dampfmangeln, bevor ich das Album anschließend für fünf weitere Stunden in ebenfalliger™️ Endlosschleife über die Anlage in die DNA purzeln ließ. Viel Atmosphäre, viel Groove, viel Virtuosität, viele leise Töne und ein bis drölf Säcke Kudos für die großartige Rythmusabteilung (allen voran an den Drums: Jamie Houghton und Peter Adam Hill, mein liebster Youtube-Kommentar: "Drummer is sick in the head."), die mit ihren punktgenauen Akzentuierungen für Freudenschreie sorgen.

Die Jazzpresse findet's derweil offenbar eher unterwältigend, eine halbe Million Plays alleine auf Youtube für einen Undergroundjazzer aus England sprechen hingegen eine deutliche Sprache.

Vielleicht ist Alfa Mist ja doch und tatsächlich ein "man of the people."




Erschienen auf Sekito, 2019.

18.01.2020

Best Of 2019 ° Platz 9 ° Yagya - Stormur



YAGYA - STORMUR


Es sind nicht nur Metal-Fans, die ungemütlich werden können, wenn sich die Lieblingsband kreativ austobt und Schema F über den Haufen wirft - auch in elektronischen Gefilden tut man sich bei aller Offenheit und Liberalität offenbar schwer mit Veränderungen. Yagya ist vor allem für seine Dub- und Ambient-Techno Produktionen bekannt und mit seinem Debut für A Strangely Isolated Place schubst er die eben noch in Watte eingekuschelte Fanbase mit Verve auf die Techno-Tanzfläche. Grelles Licht, Lasergeflacker und Strobos bis das zentrale Nervensystem schlapp macht. 

Allerdings: er macht's behutsam im Flow des Albums und auch ein bisschen mit Ansage. Erst ab "Fjögur" fackelt's heißer im Meth-Lab  Unterleib und mit Ausnahme des noch etwas Luft zum Atmen gebenden "Sex" schlagen die Flammen im weiteren Verlauf und bis zum finalen "Rettungsschuss" (Manfred Kanter) "Tiu" immer höher. Die hypnotische Kick drückt unnachgiebig aufs Tempo, die Sounds sind kühl, die Stimmung vereist-nokturn und die partiell eingestreuten, verhuschten Vocals sorgen für zusätzliche Fluchtpunkte in dem Beat-Dickicht. Für viele seiner alten Fans ist "Stormur" vermutlich eine Ecke zu hart und zu "four on the floor", für mich war es für die Sommernächte im Sossenheimer Kiez genau das richtige. 

Und man kann es sich denken: die Vinylversion von "Stormur" war natürlich bei all meinen Anlaufstellen in Europa in nullkommanix ausverkauft. ASIP-Gründer und -Boss Ryan kontaktierte mich nach meinem unwürdigen Geflenne via Instagram und war dann sogar so freundlich, mir ein Exemplar von seinem kleinen Restefundus direkt aus Kalifornien zuzuschicken. Hier kümmert sich der Scheff noch selbst um die Kundschaft. Ich darf also auch vor diesem Hintergrund festhalten: geile Platte, geiles Label, geiler Typ!




Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2019.