10.03.2017

2016 ° Platz 8 ° Fates Warning - Theories Of Flight




Die Behauptung, "Theories Of Flight" sei das beste Metalalbum des Jahres, wäre kühn - vor allem, weil ich außer des Metal Church Comebacks "XI" kein anderes Genrealbum vollständig gehört habe, und die Wahl angesichts der immer noch schwächelnden Power Metal Legende aus Seattle folgerichtig denkbar einfach war. Darüber hinaus kroch mir aus Kuttenhausen nichts Nennenswertes ins Schallgesimms; der Großteil der Szene hat es sich mit dem Herumkrebsen zwischen der Erwartungshaltung überwiegend stockkonservativer Fans und der gefälligst breitbeinig vorzutragenen Rock-Kirmes seit gut 20 Jahren am kreativen Nullpunkt schön gemütlich gemacht, und solange der Rubel immer noch so schön rollt, wie er rollt, dann rollt man eben mit. Für jemanden, der die Sturm & Drang Phase des Metals in den 1980er Jahren und mit den 1990ern seine Transformation miterlebte, ist die beinahe bodenlose Harm- und Mutlosigkeit von heute auch gleichfalls eine nur schwer anzuerkennende Erinnerung an das eigene Versagen als Fan. So wie Mudhoney nicht akzeptieren wollten, dass sich 15 Jahre später eine Band wie Creed auf sie berief, will ich, der Bands wie Janes Addiction, Judas Priest, Pearl Jam und Possessed, Motörhead und Stone Temple Pilots nicht nur ganz selbstverständlich nebeneinander existieren ließ, sondern sie auch abgöttisch liebte, nicht für Volbeat und Sabaton verantwortlich gemacht werden. Oder dafür, dass die zittrigen Klapperrochen alternden Stars der Szene wie WASP, Scorpions, Metallica, Maiden und Sabbath langsam aber sicher auf die Bühne geschoben werden müssen. Aber wer soll's auch sonst und ohne sie richten, wenn der Nachwuchs derart untalentiert ist?

Angesichts der langen und kritischen Einfahrt in diesen Text ist es lohnenswert darauf hinzuweisen, dass der Status von "Theories Of Flight" nicht damit gemindert werden darf, dass bei tiefstehender Sonne auch Zwerge lange Schatten werfen. Das zwölfte Studioalbum unserer Helden ist auch ein gutes halbes Jahr nach Veröffentlichung noch regelmäßiger Gast in jeder vollstellbaren Abspielvorrichtung im Hause Dreikommaviernull und noch immer ein verlässlicher Auslöser für spitze Jubelschreie und Gänsehautschauer - ausnahmsweise unisono mit der Herzallerliebsten, die bei aktuellem Metal für gewöhnlich noch schneller auf Durchzug stellt als meinereiner.

Im April des vergangenen Jahres schrieb ich zu dem Vorgänger "Darkness In A Different Light":

Am stärksten sind Fates Warning mittlerweile dann, wenn sie ihrem Händchen für große melancholische Momente und Melodien freien Lauf lassen und nicht auf Biegen und Brechen versuchen, "Metal" zu sein (...)"

uns es freut mich ungemein, dass die Band auf "Theories Of Flight" diese Schwachstelle beseitigen konnte, ohne gleichzeitig die 2013 neu entdeckte Wucht der Moderne zu vernachlässigen. Songschreiber und Gitarrist Jim Matheos hat mit seinem Mut zum "kommerziellen Nachwaschen" (Andreas Schöwe) und der damit einhergehenden Fokussierung auf eingängige und dabei weitgehend klischeefreie Melodien Luft und Raum in die Arrangements gelassen und damit vor allem Schlagzeuger Bobby Jarzombek wenigstens gefühlt etwas einfangen können. Ich war bislang kein großer Freund Jarzombeks Stils, musste aber anerkennen, dass die Schuhe seines immer leichtfüßigen und überkreativen Vorgängers Mark Zonders für mich auch ganz besonders groß waren. Dabei ist Jarzombek ein technisch starker und moderner Metal-Schlagzeuger, dessen Bassdrumarbeit auf "Theories Of Flight" in so manchen Momenten ein echter Hinhörer ist - dass mir die Doublebass indes immer noch viel zu oft reflexartig aus der Kiste geholt wird, anstatt sich um eine variantenreichere und interessantere Lösung zu bemühen, ist vermutlich weniger der Faulheit der Protagonisten, als viel mehr den heutigen Genrestandards geschuldet. Es darf einfach keine Lücken mehr geben. Und dort setzte Matheos für "Theories Of Flight" an: Jarzombek hat vor allem in der Beinarbeit immer noch viele Freiheiten und trümmert jedes auch nur entfernt entstehende Soundloch humorlos dicht, dafür hat Matheos seine Kompositionen im Allgemeinen und seine Riffs im Speziellen gestrafft und die Abstimmung mit dem knallharten Druck der Rhythmusfraktion - Joey Vera am Bass und eben Jarzombek - verbessert. Bestes Beispiel sind die beiden Eingängigkeitsmonster "White Flag" und ganz besonders "Seven Stars", die die früheren und mittlerweile über 25 Jahre zurückliegenden Versuche der Band, dank Radiorotation in Dream Theater'sche Erfolgssphären zu gelangen, in Sachen Sound und Hit-Potential geradewegs pulverisieren.

Womit wir beim strahlendsten Faktor von "Theories Of Flight" angelangt sind: Sänger Ray Alder. Ich darf mich erneut kurz wiederholen und einen Auszug aus dem Text zu "Darkness In A Different Light" zitieren - Vorsicht, wir betreten nun den Sektor "Unreflektierte Lobhudelei":

"Alder ist aufgrund seiner Arbeiten in den letzten 25 Jahren für mich einer der zehn besten Sänger der kompletten Szene, und es gibt auch auf "Darkness In A Different Light" Gesangslinien, die in Verbindung mit den Texten eine intellektuelle Tiefe erreichen, die ich schon sehr lange nicht mehr auf einem Metalalbum gehört habe. Ich bin beinahe geneigt festzustellen, dass ihm, nachdem es plötzlich auch im Heavy Metal en vogue geworden ist, auf gute Sänger mit ausdrucksstarken Stimmen keinen gesteigerten Wert mehr zu legen, in kreativer und emotionaler Hinsicht praktisch niemand mehr das Wasser reichen kann - auf der Bühne sieht das bisweilen wegen seines Tabakkonsums etwas anders aus, und der Mann wird schließlich auch nicht jünger. Dennoch: eine Platte mit seiner Beteiligung sollte immer gehört werden. Heute mehr denn je, und sei es nur, damit man sich daran erinnert, wie wichtig, toll und fantastisch eine großartige Stimme auf einer Heavy Metal Platte klingen kann."

Alder singt auf "Theories Of Flight" überragend. Sein Timbre ist über die letzten Jahre aus den erwähnten Gründen sicher etwas dunkler geworden, was seinen melancholischen Melodien und seiner transportierten Tiefe nur zu Gute kommt. Seine Gesangslinien und -harmonien sind in Verbindung mit den Matheos'schen Riffs Sternstunden des Heavy Metals der letzten 20 Jahre und ein nicht enden wollender Garant für fassungsloses Staunen. Er war nie besser als heute. Als Beweis ist die zehnminütige Blaupause eines epischen Longtracks anzuführen: "The Light And Shade Of Things" ist der unumstrittene Höhepunkt von "Theories Of Flight", ein völlig fehlerloses Monstrum eines Songs. Und es ist Ü-BER-RA-GEND gesungen.

Das letzte Metalalbum, das bei mir solche Reaktionen ausgelöst hat, wurde vor 18 Jahren von einer Band namens Dream Theater veröffentlicht und hieß "Scenes From A Memory". Dass mir sowas im Jahr 2016 wirklich nochmal passiert - ich hätte selbst als wahrhaftig schlimmster Höhenangstpatient einen Bungeesprung ohne Seil dagegen gewettet. Ohne "Theories Of Flight" wäre das letzte Jahr wirklich trister gewesen.






Erschienen auf Inside Out, 2016.


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