02.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 9 ° Christian Kleine - Electronic Music From The Lost World 1998-2001




CHRISTIAN KLEINE - ELECTRONIC MUSIC FROM THE LOST WORLD 1998 - 2001

It's all about inspiration, innit?

Ich bin zweifellos ein Kind der 1990er Jahre. Das wurde auf diesem Blog schon so oft geschrieben, dass ich beim erneuten Hinweis darauf beinahe selbst in bräsigen Dämmerschlaf falle. Thrash und Power Metal, Grunge und Alternative Rock, Loriots "Pappa Ante Portas" und Harald Schmidt, Rot-Grün, Tschüss Birne, MTV, Parker Lewis, Atomausstieg, Frasier, De La Souls Ring Ring Ring, das Café Wunderbar in Frankfurt-Höchst, ein Abitur mit sattem Notenschnitt von 3,4, Wayne's World, die alte Frankfurt Batschkapp.

Für elektronische Musik fehlte es sowohl am sozialen Umfeld als auch an mentaler Kapazität, außerdem ist meine in der Kindheit konfigurierte und bis in die Gegenwart hinein immer noch aktive Programmierung, sich wirklich erst dann in Bewegung zu setzen, wenn die geistige und körperliche Unversehrtheit in Gefahr ist, vulgo: ich es mit mir selbst nur noch unter groben Schmerzen aushalten kann, keine große Hilfe beim Loslassen und Erforschen neuer Welten - und sei es nur die Abteilung für Elektronische Musik im Plattenladen. Die Neunziger in a fucking nutshell: Kaufen wir lieber das neue Album von Stratovarius. Gitarren, Langhaarige, peinliches Airbrush-Coverartwork, die Hoden des Sängers kann man dank exzellenter Ausleuchtung auf dem Bandfoto sehen - kenn' ich alles, wird schon so gut und gemütlich sein wie die seit sechs Tagen ununterbrochen getragene Unterhose. Hier stört das niemanden, hier bin ich zu Hause. 

Mittlerweile habe ich immerhin dieses erwähnte "Zuhause" seit einigen Jahren verlassen - und was im Chaos des immerhin teilmöblierten mentalen Dachbodens zurückblieb sind Fragen zu der einerseits durch ausgiebige Reflektion zusammengeschnitzte Erkenntnis, als auch andererseits zu der Erinnerung an ein früheres Leben: was habe ich erlebt, was war das für ein Lebensgefühl, und warum ist es heute noch so präsent? Es gab im letzten Jahr kein anderes Album, das diese Gedanken mit soviel Verve durcheinanderwirbelte wie Christian Kleines "Electronic Music From The Lost World 1998-2001". 

Es stellte mir darüber hinaus weitere Fragen: warum fühlt sich diese Zusammenstellung von unveröffentlichten Tracks, die Kleine nach seinem Umzug von Lindau nach Berlin Ende der neunziger Jahre unter dem Eindruck einer gerade zusammenwachsenden und zwischen neuem Leben und alter Melancholie umhertaumelnden Großstadt produzierte, so an, als würde ich nicht nur nach Hause kommen, sondern auch noch die Geschichte um dieses Zuhause verändern? Ich hörte zu der damaligen Zeit noch keine elektronische Musik, ich kann daher auch nicht, wie es mir mit Rockmusik am laufenden Band passiert, an sie erinnert werden. Ich war auch nicht in Szenen unterwegs, in denen diese Musik gespielt wurde. Ich war ja noch nicht mal in Berlin. Eigentlich müsste diese Erinnerung aus nichts als einem weißen Blatt Papier bestehen, es sollte nichts auslösen, nichts pieksen, keine Bilder produzieren, keine Emotionen provozieren. 

It's all about inspiration, innit?

Und doch drücken diese 11 Songs sämtliche Knöpfe meines Emotionszentrums, sie beamen mich in genau jene Zeit zurück, in der sie entstanden sind. Die Bilder sind wahrhaftig und plastisch; es ist, als würden vergessene oder unterdrückte Bereiche meiner Erinnerung wachgeküsst werden - Erinnerungen, von deren Existenz ich nicht mal wusste. Die sanfte und zugleich reine Melancholie in seiner Musik, die wegen ihrer Klarheit einen Begriff wie Kitsch nicht mal im bizarrsten Gedankengerumpel triggern könnte, verbunden mit einer zaghaft-euphorischen Aufbruchstimmung, die ihren Ursprung im blanken Sein und dem sich daraus entwickelnden künstlerischen und kreativen Freiheitsgedanken hat, modellieren ganz offensichtlich meine nunmehr 20 Jahre in der Vergangenheit liegende Realität nach. Und es zeigt sich, dass meine Beteiligung an jener Realität kein notwendiger Faktor im Erleben und Entdecken derselben zu sein scheint. 

Ich habe keine Antworten zu all dem, endgültige gleich gar nicht. It's work in progress. 

But it's all about inspiration.



Pressung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: flawless)
Ausstattung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: ein ästhetischer Hochgenuss, man will gar nicht aufhören, die Platte immer wieder anzuschauen. Gatefold, konsequentes, umwerfendes Art Design, Coke Bottle-Doppelvinyl)










Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2018.

24.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 10 ° War On Women - Capture The Flag




WAR ON WOMEN - CAPTURE THE FLAG


Die beste Punkplatte des Jahres. Nicht, dass sich darauf irgendwer etwas einzubilden glaubt, schwer war es im vergangenen Jahr nicht, sich diesen Titel zu holen - ich habe sonst keine einzige aktuelle Punkplatte gehört. Oder, Achtung: Plot Twist! War es gerade unter diesen Voraussetzungen dann vielleicht nicht ganz besonders ruhmreich? 

Wenn's nicht so despiktierlich wäre, möchte ich am liebsten auch hier in die Welt hinausrufen: Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten, aber das hat diese Band nicht verdient. Ich habe das Quartett aus Baltimore schon seit ihrer ersten Deutschlandtournee im Vorprogramm von Propagandhi und der in der Kölner Essigfabrik gekauften ersten 10-Inch EP "Improvised Weapons" auf dem Zettel, empfand das selbstbetitelte Albumdebut als eine große Verbesserung zum noch etwas kruden Chaos auf der EP, freute mir den Arsch ab, als wir mit unserer Band den Supportkasper für das Konzert in Wiesbaden geben durften und bin nun angesichts von "Capture The Flag" ziemlich baff, denn das ist eindeutig bislang ihre beste Platte. 

Zweifellos haben sie die Kanten in ihrem Sound etwas geglättet. Der manchmal überdreht wirkende und arhythmisch gesetzte Gesang von Shawna Potter war bislang eine der Achillesversen der Band; die plakative Kratzbürstigkeit war einerseits Vehikel, um die feministische Message zu transportieren und lieferte andererseits die gewünschte Provokation für die nicht zuletzt durch Trumps Frauenfeindlichkeit aufgeputschten Stiernacken in der gegenüberliegenden Ringecke, die dann mit Schaum vor dem Mund und zur Schmerzverlagerung ihren eigenen Hodensack mit Fausthieben traktieren konnten. Um dieses Angstbeißen der rechten Arschlöcher beobachten zu können, nehme ich ja gerne ein bisschen Schmerz durch wilden Sirenengesang in Kauf. Shawna bringt mit ihren Texten und wie es scheint ihrer bloßer Existenz immer noch das halbe Macho-Nazi-Internet gegen sich auf, klingt nun aber kontrollierter und zeigt heuer noch offensichtlicher als früher ihre stimmlichen Fähigkeiten. 

Weiterhin beeindruckend ist die erneut verbesserte Symbiose aus Melodie und Drive. War auf dem Vorgänger der möglicherweise etwas von Propagandhi inspirierte Opener "Servilla" der beste Song des Albums, hat man das Konzept nun für weite Teile der neuen Platte übernommen, womit selbst die Midtempotracks ordentlich nach vorne gehen und ein signifikant höheres Energielevel auffahren als die Konkurrenz, die sich, das muss auch endlich mal gesagt werden, die lahme 4/4-Scheiße mit ihren uninspirierten dreieinhalb Schwiegermutterakkorden und peinlicher Befindlichkeitslyrik nebst tätowiertem Macho-Geröhre am Mikrofon, so ganz allmählich mal dahin schieben darf, wo's lustig riecht. Warum dieser zahme und komplett sacköde Schmockrock mittlerweile als Punk durchgeht, darf man mir bei Gelegenheit auch nochmal erklären. Und jetzt, wo ich es mir so recht überlege: bitte erklärt's mir nicht. 

Wer es sich darüber hinaus leisten kann, mit "Anarcha" einen der eindringlichsten Punksongs der letzten 15 Jahre im hinteren Viertel der Platte zu verstecken und dabei mit eindeutigen Texten und Aktionen rechtskonservative Redneck-Spackos gegen sich aufbringt, zumal in einem Klima, in dem sich die breite Masse sowohl auf als auch vor den Punkbühnen dieser Welt so unauffällig und angepasst wie nur möglich präsentiert, hat meine Unterstützung auch noch in Millionen Jahren verdient. 

Geile Band. Suck it up.


Pressung: +++++ (Die blaue Vinylversion ist einwandfrei. Es gibt noch eine dreifarbige Ausgabe, die ich nicht kenne)
Ausstattung: ++++ (Schönes Artwork, in Verbindung mit dem blauen Vinyl ein echter Hingucker. Lyricsheet liegt bei. Keine gefütterte Innenhülle)




Erschienen auf Bridge Nine Records, 2018.

22.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 11 ° Submotion Orchestra - Kites




SUBMOTION ORCHESTRA - KITES


Es ist einigermaßen skandalös, dass "Kites" nicht zum endgültigen Durchbruch für dieses britische Kollektiv geführt hat. Auch nach ihrem heute als Klassiker bezeichneten Album "Finest Hour" von 2011, erschien mir die siebenköpfige Band immer etwas unterbewertet und selbst unter dem Radar der eigentlichen Zielgruppe umherirrend. Die Zielgruppe, die ist dabei Legion: alles, was sich in den letzten zehn Jahren zwischen dem eher gemäßigten Bereich des englischen Spezialistenlabels Ninja Tune, Bonobo, dem Cinematic Orchestra und Matthew Halsall's Gondwana Label hin- und herflippern ließ, muss bei "Kites" sogar sehr uneigentlich heiße Tränen der Freude und Liebe weinen - und das sind ja nun deutlich mehr als zwei Handvoll verwirrter Einzelkämpfer. "Kites" ist schwer, tief, melancholisch, ernst - und manchmal auch hörbar schmerzhaft:

"In the two years since ‘Colour Theory’ there have been a number of significant events for us all including new life and family death. We wanted to use these events as creative inspiration so we bought a disposable camera each and took photos based around these events, or the themes that they represented. Once developed, we selected 10 photos to be used as the inspiration for the 10 tracks on the album. Each track explores a different emotion, theme or event. All are honest, relevant and often hugely personal." (Tommy Evans)

"Jahaaa, dann ist's ja kein Wunder, dass die Leute hier nicht hinhören! Ernst, Melancholie, Schwermut, Introspektion - das will doch niemand hören! Die Leute wollen Parteueueueueu! Guck's Dir an: Trump ist Präsident. Klotzehohl, aber die Leute haben Spaß - selbst wenn sie ihn hassen." (Logger P. Eder, knapp zweistelliger IQ, mag Heringssalat aus der Dose)

Die Wahrheit indes lautet: "Kites" inspiriert. Macht den Blick weit, die Gedanken frei. Ist schwärmerisch, voller Wärme und Liebe. Bringt Dich durch die Kälte. 

Ein Breitbandemotikum

Eine meiner meistgehörten Platten des Jahres. 


Pressung: + (Furchtbar, wird dieser wunderbaren Platte nicht gerecht: durchgehende non-fills und Pops, kein sonderlich großes Vergnügen)
Ausstattung: + (Einzel-LP ohne Bilder, Texte, Liners. Keine gefütterten Inlays. Super low-budget, dafür aber relativ günstig zu haben - und mit "relativ" meine ich "Wäre vor 10 Jahren teuer gewesen.")




Erschienen auf SMO Recordings, 2018.

17.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 12 ° Nik Bärtsch's Ronin - Awase




NIK BÄRTSCH'S RONIN - AWASE


"Awase" ist das erste Studioalbum Ronins seit "Llyria" aus dem Jahr 2010 und die erste Veröffentlichung der Band seit der 2012 erschienenen Liveplatte "Live". Seitdem hat sich einiges getan: der langjährige Perkussionist Andi Pupato hat die Band mittlerweile verlassen und folgte damit dem bereits zuvor ausgestiegenen Bassisten Björn Meyer (der 2018 sein fantastisches Solodebut "Provenence" veröffentlichte, dessen Vinylversion durch eine wirklich granatenschlechte Pressung seitens ECM jedoch völlig in den Sand gesetzt wurde). Pianist und Bandleader Nik Bärtsch sagt über die lange Pause, er wollte der Band "Frieden und Raum" für ihre Entwicklung geben, und sie nicht unter Druck setzen. Das ist dem Album anzuhören. 

Dabei ist nicht alles neu, was hier glänzt: "Modul 60" wurde bereits auf "Continuum", dem letzten Werk von Bärtsch's zweiter Formation Mobile, präsentiert. "Modul 36" stammt vom immer noch umwerfenden ECM-Debut "Stoa" und erhält zehn Jahre später eine Neubehandlung, auf der vor allem Neu-Basser Thomy Jordi mit toller Dynamik brilliert, "Modul 34" wurde bereits 2003/2004 geschrieben und wird auf "Awase" erstmals auf einem Tonträger veröffentlicht. Darüber hinaus darf noch eine weitere Neuerung beklatscht werden: erstmals lässt sich auf einem Ronin-Werk eine Komposition des Saxofonisten Sha finden, die dann auch gleich für einen bislang ungeahnten Emotionsausbruch sorgt. 

Die Grundstruktur ihres Sounds hat sich indes nicht verändert. Was Bärtsch schon ab den ersten Häutungen Ronins als "Ritual Groove Music" beschreibt, bleibt auch auf "Awase" eisernes Gesetz: kristallklar, dürr, asketisch in den Kopfnoten, während das Herz Bewegung, Licht, Humor aus hunderten purpur glühenden Kammern in die Lebensbahnen dieser Band pumpt und sich in der Basis mit Lust und Verlangen paart. Nach zehn Jahren mit ihrer Musik und drei erlebten Livehaftigkeiten dieser einzigartigen Formation sind die zentralen Gegensätze ihrer Musik auf "Awase" so gut spürbar wie noch nie: ihre raffinierte Subtilität, die sich in so feinem Nebel über alle Töne und Bewegungen setzt, kurz vor dem Verdampfen in die Ewigkeit auf der einen Seite und ihre Stärke und ihr Mut in der Ausführung auf der anderen Seite, die ganze Kathedralen zum Wanken bringen können. So mächtig und zugleich so diffizil, gespielt mit einer euphorisierten Lässigkeit in zwischenweltlichem Hochgefühl, die meine Ratio bis heute in ungläubiges Staunen versetzt, meinen Körper in einen reflexartig zuckenden Sack voller Schrauben verwandelt. 

Das unten eingebettete Video des live dargebotenen Albumhighlights "Modul 58" werden die besten 20 Minuten sein, die Du dieses Jahr gesehen und gehört hast. Höre, Staune, Siehe und Tanze.


Pressung: ++++ (Schrammt aufgrund eines etwa zehnsekündigen Kratzrauschens am allerletzten Ende auf Seite C haarscharf an der Höchstpunktzahl vorbei - perfekter Klang, tolles Mastering. Dürfen sich meinetwegen auch all die Weini-Weini-Nerdis mal anhören, die der Meinung sind, die Qualität nehme ab 8 oder 18 Minuten pro Vinylseite ab)
Ausstattung: ++++ (Gewohnt tolles ECM-Artwork und -Design, Gatefold, gefütterte Innenhüllen)




Erschienen auf ECM, 2018.

10.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 13 ° Weedpecker - III




WEEDPECKER - III


Eine meiner meistgehörten Platten des Jahres. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie ich Freund Jens eines Nachts, nur Minuten nach Entdecken des Youtube-Clips, über einen virtuellen Kanal förmlich anschrie:"ALTER! WEEDPECKER! OCEANSIZE, PINK FLOYD UND JUD HABEN MITEINANDER GEVÖGELT! KANNST DU BLIND (UND TAUB) KAUFEN!" - Was er dann auch tat, allerdings bleibt seine Begeisterung so tragischer- wie auch unverständlicherweise ein bis zwei Wagenladungen Haschgift hinter meiner zurück. 

Es passiert nicht mehr oft, dass mich "neue", aktuelle Rockmusik (im weitesten Sinne) aus den Latschen bläst. Zum einen suche ich nicht mehr aktiv danach und bin daher auf persönliche Tipps von Freunden angewiesen. Zum anderen hat ebenjener Umstand auch meist einen Grund: ich komme zu gleichen Teilen weder mit dem "Höher, Schneller, Weiter"-Ansatz vieler moderner Rockbands, noch mit deren kreativer Mutlosigkeit klar. Die Produktionen allesamt steril, gleichförmig und aufgeplustert, ohne ein dB Raum für sowas wie einen Signaturesound übrig zu lassen. Stilistisch ein Versumpfen in der seit 50 Jahren vor sich hin simmernden Suppe, zu viel Breitbeinigkeit, zu viel Testosteron und zu schlechter Letzt nicht selten ein Sänger, der die Sache mit dem Singen für völlig überbewertet hält. Dass mein Rock-Radar trotzdem wenigstens ab und an noch funktioniert und mir damit demonstriert, dass es nicht mein abhanden gekommenes Gespür für Originalität, Stil und Ästhetik ist, das die Ambivalenz in meiner Wahrnehmung zusammenbastelt, zeigten 2018 die eher zufällig passierten Neuentdeckungen Hair Of The Dog (Schottisches Power-Trio im Classic Rock-Rausch) und eben Weedpecker aus Polen, die mit ihrem dritten Studioalbum beim Hamburger Label Stickman Records gelandet sind und damit durch die immer noch existierende Qualitätskontrolle der Norweger Motorpsycho gewunken wurden, die bei jedem neuen Labelsigning das letzte Wort haben. 

"III" ist ein faszinierendes Album - vor allem, weil keine der oben erwähnten Unzulänglichkeiten aktueller Rockmusik zum Zuge kommt. Es tut einfach so gut, diese Musik zu hören. Ihr Sound ist warm, breitbandig, tief - wie aus der Zeit gefallen. Weedpecker wollen nicht die härtesten, die groovigsten, die psychedelischchsten sein, sie entziehen sich den gängigen Mustern und Strukturen: es geht ihnen um die Stimmung, die Farben, die Bilder - die Atmosphäre im großen Ganzen. "III" ist fast durchgängig in Mellotron-Watte gepackt, die sowohl in den schimmernden Morgenstundensounds des umwerfenden Openers "Molecule" und gar bis in Herzhöhe der schweren Riffs und Grooves im knapp neunminütigen Intensitätssmonster "Embrace" alles verzaubert und mit Glitterkram überzuckert. 

Alles am richtigen Platz. Keine Chimären. Nur Musik. 


Pressung: ++ (Es gibt bisweilen leises Rauschen und Poppen in den Pausen zwischen den Songs, nichts Schwerwiegendes und nichts, was stört. Die B-Seite hat gegen Ende ein paar gröbere Probleme)
Ausstattung: ++++ (Tolles Coverartwork, Gatefold Cover, clear Vinyl. Kurios: ein Downloadcode liegt bei, aber an der Stelle des Papierschnipsels, an der eigentlich der Code stehen sollte, steht bei mir: Nichts.)




Erschienen auf Stickman Records, 2018. 


07.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 14 ° Menagerie - The Arrow Of Time




MENAGERIE - THE ARROW OF TIME


Ich hatte "They Shall Inherit", das Vorgängeralbum dieses australischen Kollektivs, bereits vor über vier Jahren hier in diesem Blog präsentiert, damals noch mit der Anmerkung, die Platte zu spät für meine damaligen Jahrescharts entdeckt zu haben. Nochmal passiert mir das nicht! 

Dabei ist das keine Konzessionsentscheidung zugunsten des aktuellen Werks "The Arrow Of Time", denn die Platte steht mit ihrer Qualität für sich und wäre auch ohne das frühere Versäumnis bereit für die Top 20 des Jahres 2018 gewesen. Chef-Multitalent/-instrumentalist Lance Ferguson hat erneut nicht weniger als zehn weitere Musiker um sich geschart und um klassische Spiritual Jazz-Themen wie die Erforschung des Weltraums, die menschliche Entwicklung und, es darf ein großer Schluck aus der Pulle genommen werden: die Zukunft der Menschheit fünf Kompositionen gebastelt, die zwischen Space Funk, Spiritual und Modal Jazz zwar ohne den künstlerischen Größenwahn eines Kamasi Washington auskommen, aber dafür mehr in die Tiefe gehen als dessen etwas abgeschliffenen "Heaven & Earth" Brocken aus dem letzten Jahr. Herausragend vor allem der treibende Opener "Evolution" als einziger Vocal-Song mit dem predigerhaft agierenden Fallon Williams am Mikrofon, das funkig-peitschende und mit tollen Harmonien ausgestattete "Spiral", sowie der Abschluss "Nova", der dank des perlenden Pianothemas tatsächlich zunächst an moderne ECM Stars wie Nik Bärtsch erinnert, bevor ein an SunRa angelehntes Saxofon den Horizont erweitert. 

Ferguson betont, er sei in erster Linie von Labels wie Strata East, Tribe und Black Jazz inspiriert, wenn er Musik für Menagerie komponiert und beschreibt deren Sound auch über 40 Jahre nach deren Höhepunkten als noch immer zeitlos. Es gibt so oder so keine andere Musik als Jazz, dem die Zeit so gut wie nichts anhaben kann, und "The Arrow Of Time" ist in dieser Frage für die nächsten Jahrhunderte gewappnet: Frisch, deep, visionär. 


Pressung: ++++ (wahrscheinlich low-budget (1), aber ultraleise ohne Auffälligkeiten, kräftiger, voluminöser Sound, schwarzes Vinyl only)
Ausstattung: + (wahrscheinlich low budget (2): keine gefütterte Innenhülle, Cover nur schwarz/weiß, single LP, Texte auf dem Backcover)




Erschienen auf Freestyle Records, 2018.

02.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 15 ° Metal Church - Damned If You Do




METAL CHURCH - DAMNED IF YOU DO


Mein Beitrag über "XI", dem letzten Metal Church Album aus dem Jahr 2016, war erstens wenig schmeichelhaft und zweitens im Rückblick auch noch ziemlich falsch. Und als ob das nicht schon reichen würde, um sich wenigstens ein bisschen zu schämen, war mein Ausblick, vermutlich kein weiteres Metal Church Album mit Mike Howe mehr zu hören, auch noch eine Fehleinschätzung. "Wrong, wrong and wrong." (Bill Maher)

Bevor ich auf "Damned If Yo Do" zu sprechen komme, darf ich kurz aufräumen: "XI" ist ein gutklassiges Metal Church- und Power Metal-Album mit überwiegend guten bis starken Songs und krankt aus meiner Sicht in erster Linie an der langen Spielzeit. Es hat etwas gedauert, bis ich das gepeilt hatte, und ich kann nicht sagen, dass der alte zynische Sack in mir, der gerne mal jede Rockmusik, die nicht älter als 20 Jahre ist, reflexartig als miesen, unterdurchschnittlichen Abklatsch 'runtersaut, dabei eine große Hilfe war. "XI" ist über Monate hinweg in meiner Gunst gestiegen und am Ende darf festgestellt werden, dass immerhin einige der neuen Kompositionen, werden sie mit den Klassikern im Rahmen eines Samplers zusammengepuzzelt, gar keine so schlechte Figur machen. 

Die früheren Anlaufschwierigkeiten blieben bei "Damned If You Do" beinahe gänzlich aus; tatsächlich wedelte ich schon beim vorab veröffentlichten Titelsong anerkennend nickend mit den Geldscheinen. Manchmal kann ich es auch nach den 41 Jahren, die ich es schon mit mir aushalte, nicht so recht erklären, wann mich etwas packt oder auf dem falschen Fuß erwischt. Aber selbst mit einer schlimmen Verengung des Frontallappens musste ich sehr zügig an die klassischen Riffs eines "The Human Factor" denken, bei "The Black Things" saust die Erinnerung an "Losers In The Games" am Langzeitgedächtnis entlang, "Revolution Underway" ist legendäres Kurdt Vanderhoof Songwriting im Stile eines "In Mourning". Angesichts der auch hier auf diesem Blog ständig vorgetragenen Verweise in die Vergangenheit, könnte jetzt freilich das große Krähen beginnen: Was sich im Jahre 2018 immer noch an alte Rotze aus den frühen Neunzigern 'ranschmeißt, wird automatisch selbst zu alter Rotze und ist daher prinzipiell zu verurteilen. Außerdem könnten jetzt wieder die Klassiker zum (immer noch und immer wieder untauglichen) Vergleich herangezogen werden, und dann wäre das hier alles sehr einfach und darüber hinaus auch schnell vorbei: lahm, langweilig, antik, irrelevant. Und es ließe sich auch darauf hinweisen, dass den alten Männern mittlerweile einfach das Feuer und die Leidenschaft fehlt. Könnte man machen, in a heartbeat. Sowas habe ich selbst schon oft geschrieben. 

Ich kann aber auch diesen ganzen Quatsch über "FRÜHER WAR'S VIEL GEILER!" in die Biotonne fliegen lassen und mich stattdessen darüber begeistern, dass es damals wie heute keine andere Band gibt, die diesen Sound so perfektioniert hat - oder ihn überhaupt immer noch spielt. Vor allem im Jahr 2018 ist ein Album wie "Damned If You Do" eine fucking Rarität. Wer klingt denn heute noch so? Wer schafft es denn, diesen ganzen "Drrrrrreck" (Georg Schramm), der sich seit 20 Jahren aus Gründen, die ich selbst mit einem dreifachen Hirnschlag nicht verstehen könnte, unwidersprochen Power Metal nennen darf, mit einer zügig durchgeschwungenen Rückhandfaust gegen die nächstbeste Wand zu schleudern? 

Ich habe mir beim Heimatlabel RatPak die US-amerikanische LP-Ausgabe bestellt. Zum einen sieht die auf 45rpm laufende Scheibe mit ihrem blau/weiß/schwarzem Splattervinyl in Verbindung mit dem Artwork fantastisch aus, zum anderen lockte das Mastering von der "Analogue Tape Source", sowie die zur Euro-LP und CD Version alternative Tracklist, die insgesamt stimmiger erscheint und sogar einen vormals eher irritierend rockigen Track wie "Monkey Finger" plötzlich in besserem Licht erscheinen lässt. Die Info-Banderole spricht davon, dass die Tracklist "specially chosen by Mike Howe" sei - ich glaube ja eher, dass die Anpassungen aus Platzgründen vorgenommen werden mussten, aber wenn's stimmen sollte, hat Howe ein glückliches Händchen gehabt. 

Ich darf also zusammenfassen: ich habe gerade viel Spaß mit "Damned If You Do". Der alte Zyniker ist derweil auf dem Gästeklo eingeschlossen. 


Pressung: +++++ (Mit einem Wort: flawless)
Ausstattung: +++++ (Sieht gut aus, riecht gut, schmeckt gut: Gatefold, bedruckte, aber ungefütterte Inlays, tolle, zum Artwork passende Vinylfarben)




Erschienen auf RatPak, 2018.

31.01.2019

Best Of 2018 ° Platz 16 ° S.Carey - Hundred Acres




S.CAREY - HUNDRED ACRES


Das schönste Coverartwork des Jahres. Ich sah Bilder von "Hundred Acres" in den Sommermonaten auf meinem Instagram-Feed und wusste sofort, dass ich es alleine wegen des Covers ungehört zum neuen Mitbewohner des Plattenregals machen muss - erst später fand ich heraus, dass es sich um das dritte Soloalbum des Bon Iver-Schlagzeugers Sean Carey handelt. Und man sieht's mir bitt'schön nach, dass ich bis hierhin weder einen Ton seiner (überaus erfolgreichen) Hauptband, noch seiner bisherigen Solowerke gehört habe. (Zu) vieles passiert dann eben doch noch unter meinem Radar, zumal ich auch nicht selten einen natürlichen Sicherheitsabstand zu populären Bands und Musikern einhalte. Hildebrandt, Fiegen, der alte Spruch. 

"Hundred Acres" erzählt in seinen Texten vom einfachen Leben, vom neu entdeckten Blick auf sich selbst, von Rückzug und Einkehr, und Careys Musik greift diese Themen mit Entschleunigung, Ruhe und Weite auf: Akustische Gitarren, ein paar Streicher, eine vereinzelt auftauchende Steel Pedal, ein Contrabass und ein bisschen Schlagzeug/Percussion tragen die sparsam arrangierten Songs mit Careys behutsamen Gesang und sanft umarmenden Gesangsharmonien durch die Welt. Seine Melodien treffen besonders in den Schlüsselmomenten "Rose Petals", "True North", "More I See" und "Fool's Gold" sofort ins Herz, womit sich der deppertgrinsende und melancholietrunkene Blick auf's gelb gefärbte Feld im August ohne jede Einschränkung einstellen kann. Die August-Analogie kommt nicht von ungefähr: Wir hörten "Hundred Acres" vornehmlich in den immer noch viel zu heißen Abendstunden des letzten Sommers zum Gute Nacht-Kaffee, den ich mir natürlich auch bei 32°C nicht nehmen ließ. Und während angesichts von "Hundred Acres" alle Welt reflexartig die geliebten Klischees vom Winter, der warmen Decke und der Kanne Tee erwähnen muss, muss ich ebenso reflexartig natürlich vom Sommer, von freier Natur, goldgelbem Nachmittags-Sommerlicht, Strohhüten und Kaffee schwadronieren. 

"Du bist so anders!" sagten mir schon vor 30 Jahren meine Rollkunstlauf-Kolleginnen, als ich zur Titelmelodie der Detektivserie "Magnum" in einem Glitzerfummel und hautengen Stretchhosen vor Erwachsenen Menschen den doppelten Rittberger tanzte.

Sag bloß!


Pressung: ++ (die Qualität des grünen Vinyl ist mit einigen Störgeräuschen (no fills) diskussionswürdig - insgesamt aber hörbar)
Ausstattung: ++++ (Tolles Artwork und Design, Gatefold Cover, single LP, grünes Vinyl, farbig bedrucktes Inlay mit Texten)


Ein tolles Video mit umwerfenden Versionen von "True North", "Yellowstone" und "Rose Petals" (Die Gesangsharmonien! DIE GESANGSHARMONIEN!):



Erschienen auf Jagjaguwar, 2018.


23.01.2019

Best Of 2018 ° Platz 17 ° Voivod - The Wake




VOIVOD - THE WAKE


Es wird sich zwischenzeitlich herumgesprochen haben: ich bin Voivod-Fan, großer sogar. Aber in mindestens jenem Maße, in dem ich kritiklos auf allen verfügbaren Knie herumrutschen kann, bringt es vermutlich das vermaledeite Alter mit sich, gleichfalls sehr streng sein zu können und also die Peitsche lauter knallen zu lassen, als das bei der mir völlig egalen Band Inzest-Utzelglutzel aus dem Westerwald oder woher passieren würde. Voivod waren bis nach ihrem Intermezzo mit Sänger/Bassist Eric "E-Force" Forrest, das immerhin zu einem sehr guten ("Negatron") und einem gar alles überragenden ("Phobos") Album führte, der mutige Wandel in Personalbandunion. Vorwärts immer, rückwärts nimmer, progressiv im eigentlichen Wortsinn. Die Band machte in ihrer Sturm- und Drangzeit alle ein, zwei Jahre formvollendete Entwicklungssprünge, für die andere Bands nicht mal die geistige Kapazität ihrer kompletten Karriere hätten aufbringen können. Nach der sich der E-Force Phase anschließenden Reunion mit Originalsänger Snake, dem Tod von Riffmeister Piggy 2005, einem gewohntermaßen instabilen Posten am Bass und mit halbgar noch sehr freundschaftlich bewerteten Alben wie "Infini" und "Katorz", erstarrte die Wandelmaschine Voivod. Fortan fokussierten sich die vier Helden vor allem im bereitwilligen Erfüllen von Erwartungen der übrig gebliebenen zwei Handvoll Fans, denen sehnlichster Wunsch es zu sein schien, die beiden Klassiker "Killing Technology" und "Dimension Hätröss" in Endlosschleife zu hören - das Ergebnis war das recht eindimensionale 2013er Album "Target Earth", das es seinerzeit nicht in meine Top 20 schaffte - und es auch heuer nicht schaffen würde.

5 Jahre später schafft es indes der Nachfolger "The Wake" und zwar ziemlich locker, i.S.v.: "The Wake" war nach einem Dutzend Hördurchgängen sicher gesetzt. Zwar hat sich die Band erwartbar nicht neu erfunden und bewegt sich immer noch in ihrer musikalischen Komfortzone (in der sie allerdings auch unangefochtener Alleinherrscher ist), aber sie haben sehr erfreulicherweise durchgelüftet: Komplexitätsniveau der Arrangements: rauf! Konzept und Atmosphäre: Ausgefeilt! Die Motivation: Spiellaune galore! Die stilistische Ausrichtung: endlich wieder offener. Weniger Drang zum Häffi Mettl mit Baumstamm im Pöter, dafür Überhangmandate für überraschende Ideen und Hooklines, die mir nicht mehr aus dem Kopf wollen. Dazu eine deutlich wahrnehmbare Lockerheit und Souveränität (vgl. "Spielfreude"), die ihnen so lange abhanden gekommen schien. War schon die EP "Post Society" ein Schritt in die richtige Richtung, ist "The Wake" das Ergebnis einer neu zusammengewachsenen Band, die nochmal Bock bekommen hat. Angesichts einer mittlerweile gleichgemachten Metalszene, in der "more of the same" und der unerträgliche Wille zur falsch verstandenen Loyalität seit Jahrzehnten die beiden erfolgsversprechenden Fixpunkte sind, an denen sich jeder Kuttenhorst entlanghangelt, ist die Auseinandersetzung mit "The Wake" eine reine Wohltat.


Pressung: ++++ (keine Auffälligkeiten festgestellt)
Ausstattung: +++++ (Voivod-Etching auf der D-Seite, Gatefold, Lyrics, Poster, rotes Vinyl - mehr geht nicht)




Erschienen auf Century Media, 2018. 

18.01.2019

Best Of 2018 ° Platz 18 ° Rhi - Reverie




RHI - REVERIE


"Reverie" ist das Debutalbum der mittlerweile in England lebenden Kanadierin Rhi und erschien streng genommen bereits Ende des Jahres 2017 - allerdings entschlossen sich die Macher des Tru Thoughts Labels, das Album zum letztjährigen Record Store Day erstmals auf Vinyl zu pressen. Tru Thoughts ist nicht nur Heimat solch teils bahnbrechender und sowieso fantastischer Musik von Bonobo, Quantic, Moonchild, The Seshen oder Nostalgia 77, sondern auch ein sicherer Hafen für Qualität im Bereich Hip Hop, Electronica, Downtempo, Funk und Soul. 

"Reverie" lässt keine Ausnahme dieser Regel zu: deep, hypnotisch, verhuscht, sexy, mystisch. Tiefgekühlte Hip Hop-Beats, über die mehrere Ebenen narkotisierter Melodien gespannt sind, tief pumpende Basslines und eine entrückte Stimme, die über den heißen Kessel Buntes erotisch hinweghaucht. In aller Kürze: shut up and take my money! Mit einem ganz kleinen bisschen Phantasie könnten feine Parallelen zu Jessy Lanza's Debut "Pull My Hair Back" gezogen werden, allerdings ist "Reverie" weniger experimentell und ätherisch, sondern tatsächlich song- und poporientiert. 

Sehr empfohlen für nächtliche Autobahnfahrten, Sommernächte unter freiem Himmel und Sex. Bestenfalls ließe sich all das ja auch kombinieren.    


Pressung: +++++ 
Ausstattung: +++ (keine Linernotes oder Fotos - dafür wunderbar ausschauendes Purple Vinyl)




Erschienen auf Tru Thoughts, 2018.

14.01.2019

Best Of 2018 ° Platz 19 ° Chip Wickham - Shamal Wind




CHIP WICKHAM - SHAMAL WIND


Aus mir ehrlicherweise unbekannten Gründen schaffte es das Debutalbum "La Sombra" des britischen Flötisten Chip Wickham im vergangenen Jahr nicht mal in die künstlich aufgeprotzte Liste der 30 besten Alben des Jahres. Ich weiß manchmal ja auch nicht, was mit mir los ist. 

"Shamal Wind" ist sowohl stilistisch als auch qualitativ nicht weit von "La Sombra" entfernt: Spiritual Jazz, Latin Funk, Hardbop, mal elegisch glänzend, seidig, mit viel Raum für atmosphärische Träumereien, mal mit furiosem Drive groovend und swingend. Der mittlerweile in Spanien lebende Musiker ist Teil der seit etwa fünf Jahren geradewegs explodierenden Jazzszene Englands und besonders der Keimzelle in London im Dunstkreis von Matthew Halsall und seinem Gondwana Label und dem von Tausendsassa Gilles Peterson gegründeten Brownswood Recordings mit seinen Vorzeigekünstlern Shabaka Hutchings, Maisha, Moses Boyd und Kokoroko, um nur ein paar Namen zu nennen. Wickhams Arbeiten sind stilvolle und vor allem zeitlose Exponate moderner Jazzkultur, die einerseits problemlos in den späten 1960ern und frühen bis mittleren 1970ern hätten erscheinen können, andererseits aber den Geist des Frischen und Wilden atmen und nicht mal ein Sekündchen nach tragischem Kellerclub klingen. Nach überstandener lebensbedrohlicher Krankheit hat Chip angekündigt, fünf Alben in ebenso vielen Jahren aufzunehmen - "Shamal Wind" ist Nummer 2 und ich freue mich auf die drei folgenden. Wer nicht mit seinen ollen Miles und Coltrane Alben begraben werden will, dem empfehle ich ein Eintauchen in die aktuell so pulsierende Jazzszene Englands. 


Warum nicht mit "Shamal Wind" starten?


Pressung: +++ (ein paar non-fills auf dem ersten Track der B-Seite, die mich nicht sonderlich stören, ansonsten zufriedenstellend. Angaben beziehen sich auf die Standardversion, die auf 390 Stück limitierte 180g Ausführung kenne ich nicht)
Ausstattung: ++ (tolles Coverdesign, gefütterte Innenhülle, Danksagungen auf dem Backcover, aber keine Linernotes oder zusätzliche Features)




Erschienen auf Lovemonk, 2018.

12.01.2019

Best Of 2018 ° Platz 20 ° Jazzanova - The Pool

Geht ja prima los - so spät war ich ja noch nie dran. Stellt Euch für die Nummer 1 besser mal auf Juli ein, es ist ein Trauerspiel. 

Um trotzdem wenigstens ganz kurz ganz positiv zu werden und wie außerdem bereits geschrubt: 2018 wird es wieder nur 20 Aufsätze zu meinen Top-Alben zu begähnen geben - und damit also zehn weniger als noch im letzten Jahr. Das liegt weder an der Qualität noch Quantität neuer Musik oder dem damit verbundenen Deppensatz "Das war ja nicht so ein starkes Jahr wie...", sondern in erster Linie daran, dass ich mich im vergangenen Jahr schon beim Schreiben beinahe selbst langweilte. Wie unerträglich muss das dann erst für meine Leser gewesen sein?! 

Außerdem gibt es eine kleine Neuerung: Dreikommaviernull bewertet jetzt auch die Pressungen und Aufmachungen/Ausstattungen von Schallplatten. Mir fiel auf, dass ich 2018 keine einzige CD und kein MP3 Album kaufte. Alles Schallplatten. Das ist Premiere. Und warum dann nicht aus Gründen der, "äh, consistency" (Andi Brehme) einfach noch mehr prätentiösen Scheißdreck schreiben? 

Frage ich Sie! 

Beziehungsweise nicht. 

Wir starten in 3...2...1......*puff*





JAZZANOVA - THE POOL


Das neue Album des Berliner Kollektivs Jazzanova hat mein Leben im vergangenen Jahr um einige lohnenswerte Gedanken und Erlebnisse bereichert. Ich habe die Platte oft gehört und es zog mich über Wochen, gar Monate immer öfter zu "The Pool" hin. Das passiert mir heute ehrlich gesagt nicht mehr all zu häufig - und erst recht nicht mit jeder dahergelaufenen Platte, die bei drei noch nicht im Regal verschwunden ist. Gerade vor diesem Hintergrund war es ungewöhnlich, trotz solch ausführlichen Begegnungen nur wenig im Hirnsieb auffangen zu können. Sogar Songs wie die mit künstlerisch feinem Video ins Rennen um Clicks geschickte erste Single "Rain Makes The River" mit der Sängerin Rachel Sermanni, besonders atmosphärisch eigentlich wie gemacht für eine tiefere Verinnerlichung, verweilten für diesen einen Moment mit allerlei ausgerufenen Lobeshymnen meinerseits in der Realität - und verschwanden danach flugs im Getöse des Alltags. Nur, warum ist das so? Nicht, dass ich diesen Umstand als besonders negativ betrachte, ganz im Gegenteil: Ich kenne dreikommavierfuckzillion Alben, die erst nach scheinbar unerträglich langer Zeit plötzlich zündeten. Die erst nach grotesk langem Eingraben, völligem Versinken gar, und der sich dazwischen immer wieder zeigenden Verzweiflung darüber, es wieder nicht geschafft zu haben, unverhofft zur prachtvollsten und wichtigsten Musik allen Lebens wurden. 

Was all jene Beispiele von Psychotic Waltz ("A Social Grace") bis Tool ("Aenima") und King's X ("Faith Hope Love") eint: irgendwas zog mich immer wieder zu ihnen hin und flüsterte mir "Bleib' dran!" zu. Womit wir wieder bei "The Pool" sind. 

Ein Album, in dem eine seltsame Ambivalenz ihr Unwesen treibt. Subtil, multidimensional, komplex - aber dabei sollte das alles hier doch Pop sein?! Das ganze Rudel von Gastsängerinnen und Gastsängern, mit Oddisee, Jamie Cullum und dem alten Bekannten Ben Westbeech! Den aufs erste Hören fluffigen Arrangements, der gewollten Eingängigkeit. Das beißt sich ja schon beim Lesen. Um das endgültig zu verstehen, brauchte es das Livekonzert der Band im Frankfurter Zoom, in dessen Verlauf diese Ambivalenz auf "The Pool" deutlich wurde. Ein wahnsinniger Groove, ungeschlagene Virtuosität, Hingabe, Leidenschaft, dicke Beats, Tanzerei, Hände zum Pimmel, Darmspiegelung mit Cocktailschirmchen. All das findet im leicht handgebremsten Pop-Kosmos statt, der in der Livesituation fast völlig ausgeblendet wird und sich erst dann wieder zeigte, als ich mich für das erneute Eintauchen in "The Pool" (ihr glaubt doch nicht, dass ich für eine Platte mit dem Titel "The Pool" auf die "Eintauchen"-Metapher verzichte; wer bin ich, Diederichsen?) auf dem Tigerfell vor dem prasselnden Kamin mit vor sich hin schmurgelnden Foo Fighters Platten räkelte. 

Ich glaube mittlerweile, die beiden Produzenten Axel Reinemer und Stefan Leisering wollten eigentlich ein reines Popalbum produzieren und haben mittendrin gemerkt, dass sie das gar nicht können. Herausgekommen ist ein Zwischenwesen mit überragenden, subtilen, emotionalen Kompositionen, begleitet von großen Stimmen, eingebettet in tiefgechillte Stimmung. Auf einem anderen Planeten im Vergleich zu ihren vorangegangenen Arbeiten ("The Pool" ist ihr erstes Studioalbum seit 2008), was die alte Fanbase reflexartig zu allerlei Online-Motzereien provozierte, aber es wird dadurch ja nicht weniger außergewöhnlich. 

Wenn mich Musik derart zum Nachdenken bringt, kann das nur ein gutes Zeichen sein. 

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Pressung: ++ (Der Klang ist einwandfrei, aber schon beim ersten Abspielen zeigte sich an leisen Stellen ein signifikantes Rauschen und Rascheln, immerhin keine non-fills. Die Angaben beziehen sich auf das schwarze Vinyl, die weiße Version kenne ich nicht)

Ausstattung: + (Der Preis für das bekloppteste Schallplattensleevedesign geht an das Sonarkollektiv für die Veröffentlichung einer Doppel-LP ein einem glossy Gatefold-Sleeve, bei dem nur eine Öffnung für dann auch nur eine Platte gegeben ist. Was man mit der anderen LP machen soll, weiß der Himmel. Oder mein Hund. Und eine Doppel-LP ist bei der Laufzeit auch Kappes. Kinnerskinnerkinners, srsly?)




Erschienen auf Sonarkollektiv, 2018.

04.01.2019

Jetzt lass mich doch auch mal was sagen, Bumshase! (3)

Simon, Schlagzeuger für die Roland Kaiser Tribute Band Blank When Zero, schreibt u.a. für das Ox Fanzine











Vinyl-Repress:

Während Punk wie eine Zitrone ausgepresst wurde und in regelmäßigen Abständen die üblichen Verdächtigen wieder veröffentlicht werden, gibt es im Powerpop/Garage-Bereich viele, (von mir teils immer noch) unentdeckte Juwelen, die seit Jahren nur von einer kleinen Schar Die-Hard-Fans beobachtet werden. Neben den wenigen "Größen", deren "Hits" immer mal wieder zu unverschämten Preisen in kleinen Auflagen zu bekommen sind, gibt es aber auch noch die Bands, die die ganz großen Deals in einer eh schwierigen Zeit verpasst haben und heute kaum noch Beachtung erfahren. Geschweige denn, dass man deren Platten neu auflegen würde. Powerpop/Garage war seinerzeit (1976 - 1985) für Punks zu poppig und für Popper zu punkig, weder Fleisch noch Fisch.
Mal abgesehen von der mehr oder weniger offiziellen Powerpop-Reihe "Powerpearls", die in Anlehnung an die Punksampler "Killed By Death" zwischen 1998 und 2003 veröffentlicht wurde, für die diverse großartige, aber auch obskure und belanglose Stücke ausgegraben wurden und deren Bandauswahl und Qualität durchaus diskussionswürdig ist, würde ich mich in diesem Genre über folgende Rereleases freuen, die allerdings aufgrund kleiner Auflagen auch nicht günstig sein werden:
CANDY - Whatever Happened To Fun.
THE QUICK - s/t
THE SHIVVERS - s/t



Mein Wunsch-Vinyl:

Tagtraum: man könnte sich sein ganz individuelles Vinyl zusammenstellen und wäre nicht von den Entscheidungen der Band oder irgendwelchen Typen einer Plattenfirma abhängig, welche Stücke auf Vinyl gepresst werden. Aber das bleibt wohl meine ganz persönliche Utopie, ganz unabhängig von der rechtlichen Seite und der Realität, wie Vinyl hergestellt wird. Das könnte solche Unikate relativ schnell in einen vierstelligen Bereich katapultieren.
Also bleiben wir in der Realität, allerdings drehen wir die Uhr dreißig, vierzig Jahre zurück. Ende der 80er, Anfang der 90er gab es eine Reihe ziemlich cooler Skapunk/corebands aus den USA. Das meiste davon gab es, wie so oft zu dieser Zeit, leider nur auf CD. OUT OF ORDER, eine Skacoreband aus Kalifornien, für mich die Speerspitze des Genres, veröffentlichten leider nur ihre letzte Platte "Eye Caramba" auf Vinyl. Die ersten beiden Veröffentlichungen, alle übrigens auf Theologian Records, gab es leider nur auf CD. Und ich will es jetzt bei diesem einen Beispiel belassen und komme zurück zu meinen ganz eigenen Wurzeln.

Ich mache mir nichts vor. Es wird sich niemand die Mühe machen, die Pop/Rock-Szene der Oberpfalz in den 80er und 90er Jahren aufzuarbeiten. Es gab überhaupt nur wenige Bands, die ihre Stücke auf Demo-Tapes veröffentlichten, von wirklich guten Aufnahmen ganz zu schweigen. Ich habe dort unzählige, längst vergessene Bands gesehen, und die Tapes leiern wahrscheinlich bereits, wenn die Bänder nicht längst gerissen sind und eh alles bereits im Müll verschwunden ist. Bei fast allen hätte ich mir gewünscht, jemand hätte sich dem einen oder anderen Song professionell gewidmet. Ich bin so oft überrascht, was nach professioneller Bearbeitung aus einem Demo wurde. Warum wurde aus der Techno-Thrash-Band METALAXE nie etwas? Das Demo "Depressive Vision", vor allem der Song "Chaos Theory". Großartig! - Die Punks ZENSIERT oder J.U. oder SUBZERO (ein Bandname, der wohl in jedem Land hundert Mal verwendet wurde). Oder die eigenen Songs von DODDAL DANEM, Mundart-Bluesrocker. Oder die Liedermacher MÄRZ. Letztere hatten sogar Vinyl aufgenommen, aber das waren weder gute Aufnahmen, geschweige ihre besten Songs, so dass der Großteil der Pressung tatsächlich vernichtet wurde, weil sich das Trio kurz nach Veröffentlichung auflöste. Oder die Speedmetalband EVIL SEED. Einmal live gesehen. Großartig. Aber es gab keinerlei Aufnahmen, zumindest mir nicht bekannt... - selbst die zwei, drei Eigenkompositionen der ersten Band, in der ich Ende der 80er selbst spielte, tja...



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Marek, Bassist der Glam-Sleaze-Superstars von Blank When Zero, sexuelle Affinität zu Lampenschirmen











Kategorie: Gab es noch nie, sollte es geben!





PRIMUS - RHINOPLASTY


Primus, Rhinoplasty (1998) muss es geben. Jetzt wird sich der kritische Verbraucher natürlich fragen weshalb man eine Scheibe auf Vinyl veröffentlichen sollte, die neben eines Remix und zwei Live-Nummern älterer Songs nur aus Covern besteht. Na na? wer weiß es? Richtig, es gibt keinen! Aber den braucht es manchmal auch nicht. SUVs braucht auch kein Mensch und trotzdem fahren genug davon rum. Außer vielleicht, wegen der dritten Nummer. Sorry Stanley, aber die Version deines großartigen Songs Silly Putty ist von Les Claypool einfach besser.

Anmerkung der Redaktion: "Rhinoplasty" wurde am 14.12.2018 erstmals auf Vinyl veröffentlicht. Marek, Dein Wunsch wurde erhört!


Kategorie: Hätte ich gerne, wenn sie nicht so kackteuer wäre!





TOOL - AENIMA



Ganz klar: Tool, Aenima (1996). Das Album ist einfach nur gut. Und derzeit auf Vinyl leider viel zu teuer, sehr schade. Denke ich an Tool, muss ich sofort an eines der besten Konzerte denken, die ich je sehen durfte. Noch nie habe ich eine bessere Band live hören dürfen. Der Sound war einfach nur großartig, und als die Band auf die Bühne kam warf ich mich wie einst Wayne und Garth vor Alice Cooper im ersten, und vor Steven Tyler im zweiten Wayne’s World Film auf den Boden “ich bin unwürdig!“. Alles Dufte, das Album, die Band und natürlich auch Wayne’s World. Gibt’s eigentlich Wayne‘s World als Hörspiel auf LP? Vielleicht sollte ich meinen ersten Wunsch ändern…



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Ich darf mich an dieser Stelle nochmals bei allen Mitschreibern bedanken, die diese Serie mit ihren eigenen Eindrücken, Worten und Wünschen veredeln konnten. "You Rule!"(Paul Baloff)


Und damit beenden wir das Abtauchen in den Sumpf aus romantischer Verklärung und Ewiggestrigem - und stürmen gen Zukunft, beziehungsweise wenigstens in die Gegenwart...oder naja, eigentlich doch wieder in die Vergangenheit:

Die besten 20 Alben des Jahres 2018 warten auf ihr Review und wenn ich mich anstrenge, sind wir im Mai 2019 damit durch. Immerhin ist die Liste mit der Reihenfolge (Alphabet- und Garkeine-Sortierer leave the hall) seit ein paar Tagen fertig - und es gilt immer noch: Wenn Du Deine Jahresliste Ende November präsentierst, weil Du unbedingt die Nummer 1 sein willst: get a fucking life!


Schöne Bescherung!