CHRISTIAN KLEINE - ELECTRONIC MUSIC FROM THE LOST WORLD 1998 - 2001
It's all about inspiration, innit?
Ich bin zweifellos ein Kind der 1990er Jahre. Das wurde auf diesem Blog schon so oft geschrieben, dass ich beim erneuten Hinweis darauf beinahe selbst in bräsigen Dämmerschlaf falle. Thrash und Power Metal, Grunge und Alternative Rock, Loriots "Pappa Ante Portas" und Harald Schmidt, Rot-Grün, Tschüss Birne, MTV, Parker Lewis, Atomausstieg, Frasier, De La Souls Ring Ring Ring, das Café Wunderbar in Frankfurt-Höchst, ein Abitur mit sattem Notenschnitt von 3,4, Wayne's World, die alte Frankfurt Batschkapp.
Für elektronische Musik fehlte es sowohl am sozialen Umfeld als auch an mentaler Kapazität, außerdem ist meine in der Kindheit konfigurierte und bis in die Gegenwart hinein immer noch aktive Programmierung, sich wirklich erst dann in Bewegung zu setzen, wenn die geistige und körperliche Unversehrtheit in Gefahr ist, vulgo: ich es mit mir selbst nur noch unter groben Schmerzen aushalten kann, keine große Hilfe beim Loslassen und Erforschen neuer Welten - und sei es nur die Abteilung für Elektronische Musik im Plattenladen. Die Neunziger in a fucking nutshell: Kaufen wir lieber das neue Album von Stratovarius. Gitarren, Langhaarige, peinliches Airbrush-Coverartwork, die Hoden des Sängers kann man dank exzellenter Ausleuchtung auf dem Bandfoto sehen - kenn' ich alles, wird schon so gut und gemütlich sein wie die seit sechs Tagen ununterbrochen getragene Unterhose. Hier stört das niemanden, hier bin ich zu Hause.
Mittlerweile habe ich immerhin dieses erwähnte "Zuhause" seit einigen Jahren verlassen - und was im Chaos des immerhin teilmöblierten mentalen Dachbodens zurückblieb sind Fragen zu der einerseits durch ausgiebige Reflektion zusammengeschnitzte Erkenntnis, als auch andererseits zu der Erinnerung an ein früheres Leben: was habe ich erlebt, was war das für ein Lebensgefühl, und warum ist es heute noch so präsent? Es gab im letzten Jahr kein anderes Album, das diese Gedanken mit soviel Verve durcheinanderwirbelte wie Christian Kleines "Electronic Music From The Lost World 1998-2001".
Es stellte mir darüber hinaus weitere Fragen: warum fühlt sich diese Zusammenstellung von unveröffentlichten Tracks, die Kleine nach seinem Umzug von Lindau nach Berlin Ende der neunziger Jahre unter dem Eindruck einer gerade zusammenwachsenden und zwischen neuem Leben und alter Melancholie umhertaumelnden Großstadt produzierte, so an, als würde ich nicht nur nach Hause kommen, sondern auch noch die Geschichte um dieses Zuhause verändern? Ich hörte zu der damaligen Zeit noch keine elektronische Musik, ich kann daher auch nicht, wie es mir mit Rockmusik am laufenden Band passiert, an sie erinnert werden. Ich war auch nicht in Szenen unterwegs, in denen diese Musik gespielt wurde. Ich war ja noch nicht mal in Berlin. Eigentlich müsste diese Erinnerung aus nichts als einem weißen Blatt Papier bestehen, es sollte nichts auslösen, nichts pieksen, keine Bilder produzieren, keine Emotionen provozieren.
It's all about inspiration, innit?
Und doch drücken diese 11 Songs sämtliche Knöpfe meines Emotionszentrums, sie beamen mich in genau jene Zeit zurück, in der sie entstanden sind. Die Bilder sind wahrhaftig und plastisch; es ist, als würden vergessene oder unterdrückte Bereiche meiner Erinnerung wachgeküsst werden - Erinnerungen, von deren Existenz ich nicht mal wusste. Die sanfte und zugleich reine Melancholie in seiner Musik, die wegen ihrer Klarheit einen Begriff wie Kitsch nicht mal im bizarrsten Gedankengerumpel triggern könnte, verbunden mit einer zaghaft-euphorischen Aufbruchstimmung, die ihren Ursprung im blanken Sein und dem sich daraus entwickelnden künstlerischen und kreativen Freiheitsgedanken hat, modellieren ganz offensichtlich meine nunmehr 20 Jahre in der Vergangenheit liegende Realität nach. Und es zeigt sich, dass meine Beteiligung an jener Realität kein notwendiger Faktor im Erleben und Entdecken derselben zu sein scheint.
Ich habe keine Antworten zu all dem, endgültige gleich gar nicht. It's work in progress.
But it's all about inspiration.
Pressung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: flawless)
Ausstattung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: ein ästhetischer Hochgenuss, man will gar nicht aufhören, die Platte immer wieder anzuschauen. Gatefold, konsequentes, umwerfendes Art Design, Coke Bottle-Doppelvinyl)
Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2018.