2015 ist bislang ein ganz außerordentliches Jahr für neue Musik, und im Prinzip könnte ich nicht nur wegen der gegenwärtigen Temperaturen bis weit in den Oktober hinein auf eine Hose verzichten. Die kanadischen Spezialisten für Dub Techno und Ambient von Silent Season zerren, um beim Bild zu bleiben, momentan ganz kräftig am Beinkleid.
Es gibt traditionell nur Höhepunkte auf dem Imprint von Labelgründer Jamie McCue: naturverbundene, inspirierende Tonkunst, veröffentlicht in handgemachter, liebevoller Verpackung - und in der Regel schneller ausverkauft, als sich Herr Dreikommaviernull die Hose wieder hochziehen kann.
Womit die Tragik schon angemessen beschrieben ist, denn eine der wunderschön designten CDs zu ergattern - LPs gibt es nur in Ausnahmefällen, siehe zum BeispielSegues "Pacifica" Meisterwerk - ist nahezu unmöglich.
Aktuell verdreht mir "Stillpoint" von Purl schwer den heuschnupfgeplagten Kopf: eine außergewöhnlich bildhafte, opulente Musik vom schwedischen ProduzentenLudvig Cimbrelius (Bandcamp).
Stillpoint
At the center of us is a focal point of consciousness
Perfectly still, yet vibrant with life
This is our natural state
Ever at peace, yet ever expanding
Ever at peace
In knowing that being can never cease to be
Thus there is no death
Only eternal life
Ever expanding
In knowing that eternity is never done
We are in continuous motion towards what lies beyond
Bei professionellen Musikjournalisten sollte man grundlegend immer zwei, drei Gedanken Sicherheitsabstand einnehmen; bei einem, der für Bild Spiegel Online schreibt, Burzum in seinen Playlists führt und hinterher geradewegs erbärmlich über die Doppelmoral jener Kritiker wimmert, die den Faschozottel Vikernes nicht uneingeschränkt megasuper finden, können es auch vier oder viertausend Gedanken werden, um sich vor ähnlichen Krämpfen im Dachgeschoss zu schützen.
Ab und an scheint sich aber auch Jan Wigger ein Fässchen entkrampfenden Franzbranntweins hinters Gesichtsgekröse zu kippen, dennseine über vier Jahre alten Zeilenüber Jim Sullivans Debut "U.F.O." sind nicht nur richtig, sie sind auch bis heute aktuell. Das meinerseits schonmehrfach lobenderwähnte Light In The Attic-Label hat dieses lange vergessene Album aus dem Jahr 1969 ausgegraben und im November 2010 wiederveröffentlicht und darüber hinaus an eine Geschichte erinnert, die zu gleichen Teilen tragisch und mysteriös ist.
Der Sänger und Gitarrist Jim Sullivan verschwand im Jahr 1975 spurlos. Kurz zuvor entschied er sich zum Umzug von Los Angeles nach Nashville - nach zwei erfolglosen und völlig unbekannt gebliebenen Alben versprach er sich dort größere Erfolgsaussichten für seine Musik. Auf der Fahrt nach Nashville machte Sullivan Rast in Santa Rosa, New Mexiko. Zwei Tage später fand man seinen verlassenen VW Käfer in der Wüste, einige Meilen außerhalb der Stadt. Jim Sullivan wurde seitdem nie wieder gesehen.
Dieser Kurzfilm fasst seine Geschichte zusammen:
"U.F.O." ist ein universeller Klassiker. Seine Songs atmen zeitgleich luftiges Westküstenflair mit unbeschwertem savoir vivre und blasse Melancholie, die, wenn doch nicht konkret greifbar, sich mit schwachem, aber immerhin permanentem Grundrauschen zeigt. Sie sind melodisch opulent und vielschichtig; vor allem nachzuhören in blütenweißen Arrangements wie in "Jerome" oder "Highways", die sich wie ein aufgerissener Himmel mit allen damit einhergehenden Lichtreflexionen präsentieren.
"U.F.O." ist eine jener Platten, über deren Wichtigkeit und Schönheit man sich bereits nach wenigen Sekunden bewusst wird. Es ist etwas in dem Klang, vielleicht auch in der unzertrennlich erscheindenden Verbindung zwischen Stimme und Musik, über deren Ausmaß ich mir bis heute nicht im Klaren bin. Vielleicht sind es auch Erinnerungen, die wachgeküsst werden und die so viele gute Gedanken auslösen - und sei es nur an Papas Nach-Italien-In-Den-Urlaub-Fahr-Kassette, die in der vierzehnstündigen Fahrt an die Adriaküste mehr als nur ein Mal lief.
Es ist alles so leise. Jeder Widerstand längst zum Selbstzweck verkommen. Rituale. Karneval.
Deine alten Lieblingsmusiker sind handzahme alte Männer geworden, die auf Werbeveranstaltungen von Großkonzernen auftreten. Die jungen Wilden sind so wild wie eine Schüssel Cornflakes und singen im in die neue Jeans gesteckten und oben geschlossenen Olymp-Hemd (lila) über Bienchen und Blümchen. Es bleibt alles so leise. Die für gewöhnlich nicht gerade für politische Kampfansagen bekannte Thievery Corporation sagte vor einigen Jahren, dass Du als Künstler nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verantwortung dafür hast, deine Stimme zu erheben. "Und wann, wenn nicht jetzt?" - wenn die Kunst durch die erdrutschartigen Veränderungen im Konsumverhalten einer Gesellschaft in erster Linie ökonomischen Regeln folgen muss, und Ecken und Kanten nur dann legitim sind, wenn sie angemessen, und das heißt: gewinnbringend, vermarktet werden können, dann darf man sich über den aktuellen Zustand populärer Musik nicht wundern, sondern viel mehr fröhlich ihren Untergang mitverfolgen. Während man sich selbst endgültig in Richtung des Teils des Undergrounds verabschiedet, der sich nicht etwa von den Verlockungen des Mainstream korrumpieren lässt, sondern der existiert, weil er existieren muss.
Wer dieser Maxime folgt und im besten Fall integer ist, ist in der öffentlichen Wahrnehmung ein Außenseiter. Wer kerzengerade stehenbleibt und sich den schlimmsten Sauereien, die eine an Sauereien nicht gerade arme Branche bereithält, verweigert, ist whacky. Wer nicht mitspielt, darf eben nicht mehr mitspielen. Schon leise Kritik am Mainstream und die Abweichung von ebenjenem führt zu einer völlig unverhältnismäßigen sozialen Ablehnung und Ausgrenzung, während zeitgleich die immanente Rücksichts- und Gedankenlosigkeit und die Konsumsucht einer Erste-Welt-Generation, die so viel wie keine andere vor ihr auf Kosten der ärmsten Regionen dieser Welt lebt, unreflektiert und ohne jeden Widerspruch geduldet, gefördert und belohnt wird. Wann genau hat sich das alles so gedreht? Wann genau haben wir eigentlich den Moment verpasst, an dem alles in die falsche Richtung ging?
"Du hast so komische Gedanken. Ich habe heute Morgen in der Süddeutschen Zeitung gelesen, dass..."
Es ist unbequem, sich die ganze Zeit die Übel der Welt ins Gesicht schreien zu lassen. Und es ist in diesem Zusammenhang viel angenehmer, Max Herre zu hören, bei dem es im übertragenen Sinne um nicht viel mehr geht, ob der Spargelpreis am Wochenende unter 5 Euro pro Kilo fällt. Oder wir lassen den neuesten süßen Indieschmeichler unter die Bettdecke kriechen, lesen dabei die volkstümliche Unterhaltung im Spiegel und stricken weiter am Märchen von der demokratischen Agenda einer aufgeklärten Gesellschaft, der Trennung zwischen Kirche und Staat, extremer Männlichkeit durch 3 Kilo Rindersteak (auch prima für Frauen!) und der Illusion der eigenen Freiheit. Und wir grillen. Grillen ist ganz wichtig geworden.
"Das ist keine Fehlentwicklung, das Schiff ist auf Kurs." (Lothar Dombrowski)
Lee Reed hört glücklicherweise nicht damit auf, laut und unangenehm zu sein. Sein neues Album "The Butcher, The Banker, The Bitumen Tanker" klatscht mir jedes gerappte Wort mitten ins Gesicht, gnadenlos und mit Karacho, denn "my microphone is a weapon". Es ist eine große Anklage, zornig, wütend, angriffslustig, respektlos und ohne jede Scheu vor Autoritäten. Es hat mehr als jemals zuvor den Anschein, als sei die Musik lediglich das Vehikel für seine Message. Für mich treten die Beats und die spärlich gesäten Melodien und Jazz-Basslinien fast vollständig in den Hintergrund, sie helfen allenfalls dabei mit, das Album atmosphärisch entweder weiter zu verdunkeln oder in ein psychedelischeres Licht als früher zu tauchen - ein Licht, in dem manches Mal sogar ein (Sauer)Krautrocktopf an einem vorbei schwebt.
Kanadian HipHop's oldest and grumpiest radical-lefty loudmouth. 12 tracks of state-smashing, bank-crashing, boom-bapping, mic-wrecking insurgency.
Und es ist wichtig, dass es solche Typen noch gibt.
Wenn "Elliptic", ein Song auf Vessels' im März 2015 erschienener LP, nicht schon im Jahr 2013 veröffentlicht worden wäre, dann hätten wir hier bereits und ohne große Bedenken den Song des Jahres 2015 küren können.
Anfangs hat man noch ein paar Sorgenfalten im Gesicht, das sei alles zu brav und bieder - bis man sich nach wenigen Minuten im dicksten, schönsten Groove der Welt wiederfindet, den Kopf während der Fahrt zum "Nagelstudio" (H.Schneider) vor Begeisterung auf das Lenkrad aus 100% gedrechselter Naturjute schleudert, mit blutiger und verbogener Nase zu seiner Beifahrerin "Uff, geiler Song!" näselt und als Antwort "Ha, dachte ich auch gerade!" zurückbekommt.
Es scheint, es ist zur Lebensaufgabe geworden, immer und immer wieder hektisch mit dem vor dauernder Liebkosung bereits ausgedünnten King's X Schlüpper zu wedeln und dabei laut "HÖRT MEHR KING'S X!" zu gröhlen. Jede Begegnung mit ihrer Musik, beispielsweise durch den Shufflemodus der Abspielvorrichtung, löst jedes Mal aufs Neue hysterische Freudenschreie aus - obwohl ich die Songs ja schon seit Jahrzehnten in und auswendig kenne. Gestern, Herr Dreikommaviernull erledigte dank Bundesliga und des Scheißvereins FC Schalke 04 mit extrem primaguter bodenlos beschissener Laune gerade den Wocheneinkauf, wählte der Digitaldateiabspieleumel auf der Rückfahrt den Titeltrack des 1994er "Dogman" Albums aus, und meinereiner drehte alle verfügbaren Knöpfe und Regler auf 11 - auch jene für die automatische Scheinwerferwaschanlage und die Sitzheizung, was besonders in Kombination und bei offenem Fenster "Spaß" machen kann. Der Altstadtkern Sossenheims ist in seiner Bausubstanz vielleicht nicht mehr im allerbesten Zustand, allerdings überlebte er auch die Vorbeifahrt der Golf'schen Spießerschüssel mit 800dB "Dogman"-Power augenscheinlich unbeschadet. Wenngleich natürlich Schäden an der Statik trotzdem möglich sein können.
Ich bin nicht der einzige, der immer wieder auf die Einzigartigkeit und Größe dieses Trios hinweist und zwei ganz besonders schöne Alternativen möchte ich heute präsentieren. Zum einen schwang sich Extreme-Gitarrenwunder Nuno Bettencourt mit seinem Huldigungstext in äußerst luftige Höhen auf (Danke an Jens fürs Finden und Mitteilen), zum anderen zeigt das darunter stehende Youtube Video (u.a.) einen erstaunlich gut sortierten Ritchie Blackmore, der hier sogar zugibt, dass Deep Purple nach dem Ausstieg Ian Gillans Ende der Achtziger Jahre tatsächlich dUg Pinnick in die Band holen wollten. Und der außerdem die Livequalitäten Pinnicks, Tabors und Gaskills mit dem wunderbaren Satz
"I don't think I would like to follow them on stage - they are one hell of a band."
adelt.
Hört mehr King's X!
Ok. I know you didn't ask... But if you did ask me, who is the most underrated rock band of all time? It would be the band who was fronted by this man right here. KINGS X.
Yes, they had previous releases, but when FAITH HOPE LOVE hit the scene in 89-90, I truly believe it was the right album at the wrong time. No one coming out of 80's rock and metal was ready for this. This band fell through the cracks of the historic transition between the Motley Crues to the Pearl Jams of the music scene. But I believe with every fiber of my being, that if FAITH HOPE LOVE had come out any later, it would have been a different story for Doug and the boys.
If I needed more proof, I got it when I hit play on their follow up DOGMAN, I nearly drove off the road I was so pumped. How do I know I'm right, because when you put on these albums today they don't age ONE BIT, that's the true sign of the classics. If FAITH HOPE LOVE was released in the last 10 years or even yesterday and I heard, "We are Finding WhoWe Are", on the radio?, I would be freaking out compared to what's out right now. KINGS X would be as big as MUSE is right now. I mean they are only a 3 piece, but if you told me Hendrix teamed up with Lennon and McCartney and released a heavy album laced with Soulful lead vocals, incredible harmonies, meaningful lyrics, groundbreaking guitar tone, the tastiest guitar solos, amazing musicianship, beautiful sounding production, I would say bullshit. But that's what I hear and feel when I hear KINGS X. And I was as blown away live, as they were truly who their albums said they were. And I can't be 100% sure, but if you ask Jerry from Alice in Chains, a great band of course, he may just confirm that that heavy drop Tuning with a side order of layered harmonies may have originally come from KINGS X. And if they truly got the support they needed at the time, who knows where their creativity would have taken us.
I know this is art, and at the end of the day my opinion is only my opinion. But at the very least if you don't already know, give it a shot. Have an affair with it. You may just agree.
Und wer außerdem wissen will, warum der Auftritt des Trios beim ersten Woodstock Revival im Jahr 1994 so große Wellen schlug, sodass sich hinterher die Musikwelt einig war, den besten Auftritt des gesamten Festivals gesehen zu haben, der schaut sich den knapp vierzig Minuten dauernden Mitschnitt und hier ganz besonders die durchgedrehte und zehnminütige Jamsession "Moanjam" an.
Die Bild- und Tonqualität sind disksussionswürdig, aber mehr haben wir nicht.
Ich schrieb vor einigen Jahren zum "People Hear What They See"-Album des US-Rappers Oddisee, dass die Zeit für Klassiker wohl endgültig vorbei ist - der Pop bringt kein neues "Thriller" auf die Welt, im Hip Hop wird es kein zweites "3 Feet High And Rising" geben, im Metal wohl kein zweites "Kill 'Em All" und ob jemand nochmal so hart an den Türen zu Coltranes "A Love Supreme" oder Davis' unvermeidlichen "Kind Of Blue" rütteln wird, darf mit Recht ebenfalls in Zweifel gezogen werden. Das liegt natürlich niemals an der Musik selbst, sondern an den gesellschaftlichen Veränderungen unserer Welt im Allgemeinen, an jenen Veränderungen im Konsumverhalten und der außer Kontrolle geratenen Geschwindigkeit, mit der uns neue Gesichter und neue Stars vor die Nase gehalten und sogleich wieder durch deren Nachfolger ersetzt werden, im Besonderen. Hinzu kommt die durch Tools und Gadgets forcierte Individualisierung, eine unerschöpfliche Auswahlquelle und vor allem eine durch die neuen Medien professionell entwickelte Steuerung der Meinungsbildung, die gleichzeitig auf jede Nachhaltigkeit zwangsläufig verzichten muss, wenn sie sich weiter am Leben halten will.
Ab und zu sortiert sich jedoch der Untergrund und steckt zaghaft den Kopf in Richtung Höhenluft. Und ab und zu stellt sich dann dieses besondere Gefühl ein, irgendwas Großes sei gerade im Gange. Beziehungsweise und in diesem Fall: im CD-Player. Im Mai 2015 veröffentlichte der US-amerikanische Saxophonist Kamasi Washington sein Debut über Brainfeeder, das Label von Steve Ellington aka Flying Lotus; in Europa übernehmen die Damen und Herren von Ninja Tune dieses monumentale Werk des vierunddreißigjährigen Musikers.
"The Epic" ist ein knapp dreistündiges Spektakel des Jazz. Gespielt von einer zehnköpfigen Band, einem 32-köpfigen Orchester und einem zehnköpfigen Chor, gepresst auf drei Silberlinge. Das Hören dieses Brockens eine Herausforderung zu nennen, wäre blankes Understatement, und ich bin noch nicht mit mir einig, ob es naiv oder arrogant ist, im Jahr 2015 ein dreistündiges Album zu veröffentlichen. Gemessen an den Reaktionen im Internet scheint die Rechnung überraschenderweise aufzugehen - ähnlich wie im Falle "Black Messiah" von D'Angelo gibt es kein einziges schlechtes Wort über "The Epic" zu lesen, und knapp 100.000 Views der vierzehnminütigen Single (!) auf Youtube sprechen Bände.
Wenn die ersten Stimmen tatsächlich schon von einer Konsensplatte (mit Jazz drauf! Auf einem Indielabel! Im Jahr 2015!) sprechen, dann weiß der halbwegs orientierte: bitte Ohren spitzen. Sowas wird's so schnell nicht nochmal geben.
Am 29. Februar 1776 wurde bekannt gegeben, dass eine unverheiratete Latrine die Dorftrottel unter Vertrag nimmt. Am 1. April 1779 erschien das nach den drei Mitgliedern Tenören benannte Album "Penis, Holz & Mumps" mit drei ganz neuen Akkorden und sechsundsechzig ganz neuen Texten über Holz, Penen (Mehrzahl! Copyright Roberto Blanco!) und Holzpenen, darunter auch Humortsunamis wie "Arschmusik", der bumsfidele Busenjodler "Die Julia Glöcknerin von Mainz-Süd" oder musikalische Herzkranzgefäßverengungen wie "Der Kopp ist leer (und heiß)".
Dieser dampfende Misthaufen stieg gleich in der ersten Verkaufswoche von 0 auf Platz 00 der deutschen Misthaufen-Charts ein, was der bis dato größte Erfolg der drei kleinen Hämorrhoiden-Pritschen darstellt. Am 99. April 2112 traten die Dorftrottel zum wiederholten Male in einen Gehirnstreikin einen Hundeköttel in die CSU ein, nachdem sie am dritten Sonntag nach der gerüchteten "Ziegenparty" im kleinen Kreis zurücktraten (Schienbein, Straßenlaterne, Hundeköttel) und im beliebten Dorf-Puff "Himmelkönig" (sic!) die anwesenden Damen mit feministisch und medienkritisch gefärbten Gesprächsrunden über Frauenrechte (keine!), den neuesten Entwicklungen der Gehirnforschung (keine!), Humor, Geschmack und Anstand (keine, keine & keine!) zu Tode langweilten (Glück gehabt!).
Vorstellung der Dimensionen unseres Universums gefällig? Bock auf ein bisschen Hypnose und Wegtreten? Ist die Drogenabstinenz nochmal überdenkenswert? Ist veganer Eiersalat wirklich als Badezusatz zu gebrauchen? Und: raucht Pumuckl wirklich Meister Eders Schnurrbarthaare?
3,40qm empfiehlt zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen die Kombination aus Campari und O - Quatsch: die Kombination aus dem unten eingebetteten Video, das Dir im Rückwärtsgang die Galaxie zeigt, also zumindest die, die in etwa der Größe eines Tempokrümels in der Arschtasche Deiner verwaschen Pimmelklemmer-Jeans (1984, C&A) entspricht, und dem leider nur per Ausschnitt verfügbaren Smasher von Fuck Yeah! - "Mount Julip". Letzterer ist die B-Seite der aufMusik Krause erschienenen "Pritch EP" und ich darf an dieser Stelle den erhobenen "Mimimimi"-Zeigefinger in Richtung des Labels schicken, weil Snippets wirklich total balla balla sind.
Jedenfalls ist "Mount Julip" ein ansonsten knapp neunminütiger, schmutzigschöne Gedanken provozierender Sci-Fi-Smasher mit perfektem Spannungsbogen, der, in Endlosschleife und mit 280dB abgespielt, eine Kochshow für Klingonen vor dem geistigen Auge abspielen lassen kann (demnächst auf ZDF Neo, Moderator ist Joachim "Aldebaran" Bublath) und wie Katze auf Klo zu der Reise durch den Weltraum passt.
Eine halbe Ewigkeit ist es her, als ich zuletzt neue Besen meiner Abstellkammer meines Plattenregals in kleineren Häppchen als üblich vorstellte. Der Vorteil eines nicht gelesenen Blogs ist ja auch, dass die Beiträge so lang sein können, wie sie wollen (beziehungsweise: wie ich will).
Koketterierei, is' schon recht. Tatsächlich hatte ich bereits im letzten Jahr Edition 13 komplett fertig geschrieben, dann aber gemerkt, dass die Texte schon wieder so ausufernd umfangreich waren, dass sie als Einzelposting besser aufgehoben waren. Ich laber' und schreib' zuviel. Wer immer noch durchhält: Hut ab!
In den letzten Wochen fanden einige Exemplare neuer Schallplatten den Weg in die Sossenheimer Hood, warum also nicht hier und heute und also praktisch: jetzt?! Wenn ich primagut motiviert bin, folgt Teil 14 vielleicht schon total bald.
TROPICS - RAPTURE
Ich bin mir noch nicht sicher, aber das könnte wirklich eine große Enttäuschung werden. Bekanntermaßen werden Enttäuschungen auf meinen virtuellen Seiten sehr selten erwähnt, in diesem Fall muss es aber wegen meiner großen Erwartungshaltung, ganz besonders nach dem immer noch tollen "Parodia Flare"-Langspieler aus dem Jahr 2011, leider doch sein. Dabei war vor dem Auflegen noch alles super: ich war heiß wie ein dampfender Pfannkuchen mit frischen Erdbeeren auf diese Platte, ein prima Cover, wunderbar weiß-marmoriertes Vinyl, was sollte hier schon schiefgehen? Der britische Alleskönner Chris Ward hat sich allerdings auf "Rapture" vom schwülen und schwülstigen Hedonistenpop, der sich mit Sonnencremebowle und qualmenden Tramalzäpfchen am Schwackeln hält, verabschiedet und stattdessen einen unterkühlten und wimmernden Elektropop ins Campingzelt gelassen, der nicht nach Strand und Leben und Liebe, sondern nach Schneefall, Ingwertee und Strickpullover aus gedrechselten veganen Usambaraveilchen klingt. Wir sprechen im Herbst nochmal über "Rapture", bis dahin frage ich mich (und Euch!): Musste die Abfahrt in Richtung der Legionen von emotional verdorrten und dabei seltsamerweise aalglatten Soundfummlern wirklich sein? Passt alles nicht together.
Erschienen auf Heavenly Sweetness, 2015.
WAR ON WOMEN - WAR ON WOMEN
Zur Selbstauskunft: Hardcore Punk made by some Baltimore feminists. Als Vorband von Propagandhi tourte das Quintett 2013 durch Europa und überzeugte mich beim Gig in Köln zumindest insofern, als dass ich das 10-Inch Debut als Erinnerung mit nach Hause nahm. Wo "Improvised Weapons" noch etwas unrund lief, ist das selbstbetitelte zweite Album ein riesengroßer Schritt nach vorne. Bis auf eineinhalb dezent schnarchige Punkstandards ist "War On Women" eine kratzbürstige, intensive, komplexe, technisch überraschend anspruchsvolle Hardcorescheibe mit nicht nur wichtigen, sondern auch durchaus provokanten Texten von Sängerin Shawna. Ich habe drei, vier Durchgänge gebraucht, um mich in den manchmal nur eineinhalb Minuten langen Songs zurechtzufinden, seitdem wandert das schicke rote Vinyl immer öfter auf den Plattenteller. Eine geile Platte, die auf jeder Ebene meilenweit vom zahmen Allerweltspunkrock entfernt ist.
Erschienen auf Bridge 9, 2015.
THEESATISFACTION - EARTHEE
Das zweite Album von Catherine Harris-White und Stasia Irons ist im Vergleich zumVorgänger "Awe Naturale" eine Spur ätherischer und spiritueller ausgerichtet. "Earthee", ebenfalls auf Sub Pop veröffentlicht, erscheint vor allem auf der B-Seite wie eine moderne Version alter Shanti-Mantras von Alice Coltrane, verschachtelt und progressiv, dabei aber sanft- und sanftmütig. Jazz und kein Jazz, Soul und kein Soul, Hip und doch irgendwie kein Hop. Cool - und gleichzeitig uncool. Theesatisfaction balancieren immer noch auf der Trennlinie zwischen Avantgarde und Popkultur, wohlwissend, dass sich beides nicht zwangsläufig ausschließen muss, und wirken in der Folge, als hätten sie sich selbst im vollem Bewusstsein in diesen toten Winkel manöveriert. "Earthee" ist angenehm aufgeheizt, angenehm schräg, manchmal fremdartig, fast außerirdisch.
Ich hatte es schon mal an anderer Stelle dieses Blogs erwähnt, dass ich Exodus beinahe immer eher so semigut fand. Zum einen komme ich mit den Stimmen der beiden langjährigen Sänger Steve "Zetro" Zouza und Rob Dukes ganz und gar nicht zurecht, dazu gab es immer wieder redneck'sche Patriotenaussetzer, "Support Our Troops"-Gepose und darüber hinaus mehr als nur ein schwaches Album - unvergessen in dieser Beziehung das bodenlose "Force Of Habit" Werk aus dem Jahr 1992, nach welchem dann auch sehr folgerichtig das vorläufige Karriereende eingeläutet wurde. Es ist wenigstens in meinem Buch einfach eine sehr unsympathische Band mit einem unangenehm großen Spritzer Selbstüberschätzung. Ich will die für gewöhnlich nicht sehen. Oder hören.
Und weil wir gerade dabei sind, was ich gar nicht so gerne mag und weil es außerdem inhaltlich so superangenehm hier hin passt: ich bin in der Regel auch kein großer Freund von Livealben.
Womit genau jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem wir zumindest für die nächsten Zeilen, das bisher geschriebene über den Haufen werfen sollten. Trotz meiner Aversion hat die Band drei dicke Steine bei mir im Brett - und diese dicken Steine heißen "Bonded By Blood", "Another Lesson In Violence" und vor allem, als verbindendes Element, Paul Baloff.
"Heavy must stay together, all others must die." (Paul Baloff)
Baloff war von etwa 1981 bis 1986 der Sänger der Truppe, bevor er wegen seines enormen Alkoholkonsums und der daraus resultierenden unprofessionellen Einstellung an die frische Luft gesetzt wurde. Baloff war es demnach auch, der das bereits 1984 aufgenommene und erst ein Jahr später veröffentlichte Exodus-Debut "Bonded By Blood" einsang - einer der ganz großen und legendären Genreklassiker. Gitarrist Rick Hunolt sagte mal, man habe in der Anfangsphase besonders die Entwicklungen in der Punk und Hardcoreszene aufgegriffen und sie zu Metal transformiert. Und Dead Kennedy Jello Biaffra fuhr Baloff sogar mal nach einem Konzert in seinem Auto nach Hause. Man kann diesen Einfluss des Punk auf "Bonded By Blood" noch erahnen, er zeigt sich ganz besonders in der aggressiven Stimmung und der grundlegenden Intensität des Albums.
"Talk minus action equals nothing." (Paul Baloff)
Nachdem der zuvor bei Testament ausgestiegene Zetro ab dem zweiten Album "Pleasures Of The Flesh" am Mikro stand, die Band ab 1988 beziehungsweise 1990 sogar auf dem Major Capitol Records landete, und schwache Werke wie "Impact Is Immanent" und das erschütternd orientierungslose "Force Of Habit" das Tagelicht erblickten, die sowohl kommerziell als auch künstlerisch einem Offenbarungseid gleichkamen, befand sich die Band, die sich darüber hinaus mit ernsten Drogenproblemen herumschlug, in einem zerstörerischen Treibsandszenario wieder - und knipste das Licht aus.
"Give it up! This ain't no Arsenio Hall show, DESTROY SOMETHING!" (Paul Baloff)
Baloff, nach seiner Demissionierung zeitweise obdachlos und bis zum Hals in einem Misthaufen aus Drogen, Alkohol und Wahnsinn stehend, wurde nach der Auflösung seiner Nachfolgeband Piranha (das Demo produzierte übrigens ein gewisser James Hetfield; im Netz mit drei Klicks zu finden), im Jahr 1996 von Gitarrist Gary Holt kontaktiert, um Exodus wieder zum Leben zu erwecken. Baloff sagte sofort zu. "Another Lesson In Violence" ist, sieht man von der semioffiziellen DVD "Double Live Dynamo" ab, leider das einzige Zeugnis der neuerlichen Zusammenarbeit: die Band balancierte auch nach dem Comeback immer haarscharf an der Grenze zur spontanen Selbstentzündung entlang und es liegt vielleicht nicht nur am gleichen Anfangsbuchstaben des Nachnamens, dass das Gitarrenduo Hunolt/Holt den Beinamen "The H-Team" mit sich herumtrug. In Anlehnung an die Aerosmith-Staubsauger Perry und Tyler war auch von den "Toxic-Twins des Thrash" die Rede. Vor allem Hunolt, dem die Band auf einem späteren Album und nach dessen Ausstieg sogar den Song "Deathamphetamin" widmete, grub sich Mitte der 90er Jahre tief in die US-Techno und Raveszene ein, inklusive allem, was man sich in Pillen- und Pulverform in den Körper prügeln konnte. Dieses Kreuz hatte die Band also in die neue alte Inkarnation mit herübergeschleppt. Der andere Grund, warum Exodus kein Kapital aus der Reunion schlagen konnten, ist ein tragischer: nach allerlei Labeldiskussionen, die unter anderem dafür sorgten, dass der Vertrag mit Century Media aufgelöst wurde, was die Band erneut handlungsunfähig werden ließ, und einigen weiteren Versuchen, neue Songs zu schreiben, erlitt Paul Baloff einen Hirnschlag, an dem er kurze Zeit später im Krankenhaus von Oakland in Kalifornien starb. Die Folge: Exodus holten Zetro wieder in die Band und ersetzten ihn später durch Rob Dukes, der wiederum nach einigen Jahren von Zetro ersetzt wurde.
"Just remember one thing: we couldn't do this shit without you guys. We would just be heavy without anybody to watch." (Paul Baloff)
"Another Lesson In Violence", aufgenommen im März 1997 im Torocadero Club in San Francisco ist für mich - genreübergreifend - eines der zehn besten Livealben aller Zeiten. Die Setlist besteht ausschließlich aus den königlichsten Songs des Thrash Metal, angefangen bei "Bonded By Blood", "A Lesson In Violence", "Exodus", "And Then There Were None", "Piranha", "Strike Of The Beast" bis hin zu "Pleasures Of The Flesh", einer atemberaubenden Version von "Seeds Of Hate" und dem alten Demoklassiker "Impaler", dessen Riffs der damalige Exodus-Gitarrist Kirk Hammet einst mit zu Metallica nahm. Der Sound der Liveaufnahme ist in seiner Breite und Dichte für die damalige Zeit eine Sensation - freilich wird man im Studio sicher den ein oder anderen Regler bedient haben, und ob Baloff, der auf der Bühne auch gerne mal seine Einsätze und Texte vergaß, die 70 Minuten tatsächlich so beeindruckend einwandfrei absolvierte, sei auch mit einem Fragezeichen versehen. Songs und Sound sind also herausragend. Das folgende Video von "A Lesson In Violence" (mit Machine Heads Rob Flynn als Gast) stammt von genau jenem Gig und ist neben zwei, drei weiteren Tracks irgendwie auf Youtube durchgesickert. Vielleicht hat Century Media ja irgendwann nochmal ein Einsehen und einigt sich mit der Band auf eine vollständige Veröffentlichung.
Was "Another Lesson In Violence" indes zu einem echten Klassiker macht, ist die unbändige Energie eines Paul Baloff, der hörbar auf Hochtouren läuft und regelmäßig mit animalischen Schreien seiner eigenen Begeisterung Ausdruck verleiht. Der in Instrumentalparts aus dem Off "SO FUCKING HEAVY" oder wie vom wilden Affen gebissen "YEEEEEEEEAAAAAAAAAAAHHHHHHHHH" ins Mikro röhrt. Baloff war ein Wahnsinniger, nicht immer nur im besten Sinne, aber auf der Bühne katalpultierte ihn dieses positive Rowdytum trotz stimmlicher Unzulänglichkeiten in die Höhen der allergrößten Thrash-Shouter und -Entertainer. Alleine seine Ansagen, von denen ich in diesem Posting einige dokumentiere, sind hochunterhaltsam und passen in der Ausprägung eines asozialen Monsters mit Herz bestens zu der Backing-Band, die sich gleichfalls in einen wahren Rausch spielt und die Rohheit ihrer Anfangstage bei aller Souveränität beibehalten hat. "Another Lesson In Violence" zeigt eine Band, die trotz des fortgeschrittenen Alters ihrer Mitglieder, in ihrer schieren Ausgelassenheit tatsächlich radikal und gefährlich wirkt.
"This song is older than shit, heavier than time." (Paul Baloff)
Die neunziger Jahre waren kein gutes Jahrzehnt - weder für den Metal im Allgemeinen, noch für den Thrash Metal im Besonderen. Herausragende Momente nach 1992 sind rar gesäht - Sacred Reichs Spätwerk "Heal" aus dem Jahr 1995, oder Invocators "Weave The Apocalypse" von 1993 sind derer zwei - wer indes für die zweite Dekadenhälfte nach hochklassigem Thrash sucht, sollte sich ein paar Wochen Zeit nehmen, etwas relevantes zu finden. Oder man nimmt sich meine Ausführungen zu Herzen, investiert 15 Kröten für "Another Lesson In Violence" und erkennt nach dem ersten Durchgang, dass dieses Livealbum der Grabstein für ein Genre war, das sich trotz der eine Jahre später aufstrebenden jungen Wilden wie Municipal Waste, Gama Bomb oder Warbringer in den nuller Jahren aus künstlerischer Sicht bis heute nicht mehr von dem Niedergang in den frühen 90ern erholen sollte.
Dass "Another Lesson In Violence" dabei ausschließlich Songs aus den achtziger Jahren präsentiert, darf man getrost als Beleg werten. Was es nicht besser macht.
Es dauert zwar noch ein paar Wochen, aber angesichts der hyperrasenden Zeit, ist's praktisch übermorgen: Blank When Zero, Deine sympathische kleine Punkband, hat die Gelegenheit bekommen, am20.August 2015 die US-Hardcore Band War On Women zu supporten, und das ist toll. Und toll auch. Aber vor allem: toll.
Wir freuen uns ja wirklich immer noch über jeden Gig, den man uns anbietet und dabei ist es egal, ob wir dafür 1000 Kilometer fahren müssen und für ein gut halbstündiges Set schlappe 14 Stunden unterwegs sind, um am Ende einen Satz Briefmarken (80 Pfennig, 1993) als Spritgeld in die Hand gedrückt zu bekommen. Wir wissen, dass wir musikalisch etwas kratzbürstig sind und vielleicht nicht in jedes Billing so ultrasmooth reinpassen, wir wissen auch, dass ein Veranstalter nicht damit rechnen kann, dass wir 50 Zuschauer im Schlepptau haben - wenn wir noch sowas wie "Freunde" haben, dann sind die entweder nicht in unserer unmittelbaren Nähe oder liegen an einem Samstagabend vom andauernden "Schaffe Schaffe, Häusle baue!" total erschossen im Rohbau des neuen Eigenheims. Eigentlich so wie wir das auch tun, nur ohne Eigenheim. Und nicht nur am Samstagabend.
Insofern sind wir immer darauf angewiesen, dass jemand genau vor diesen Faktoren keine Angst hat und uns stattdessen trotzdem irgendwo mit dazuholt und uns für dreißig Minuten auf eine Bühne lässt. Denn wir wissen andererseits auch, dass das fortgeschrittene Alter durchaus ein Segen sein kann: man sieht vieles lockerer als früher, plant jede Konzertreise generalstabsmäßig durch, damit erstens bloß nix daneben geht und wir zweitens nicht unpünktlich sind, nimmt lieber drei neue Sätze Gitarrensaiten und -kabel mit, um nicht bei anderen schnorren zu müssen, gegessen wird daheim, getrunken wird meist mitgebrachtes Wasser und auf die Nerven gehen wir auch niemandem - zumindest nicht vor und nach unserem Auftritt. Außerdem wissen wir mittlerweile auch, wie wir die täglich neu dazukommenden Schmerzen nach dem Aufstehen am schnellsten wegkurieren können. Das Alter und die daraus resultierende Erfahrung kann also auch ganz entspannt sein.
Cornelius von Keep It A Secret Booking war in dieser Hinsicht schon seit den Anfängen von Blank When Zero tiefenentspannt und buchte uns regelmäßig für kleine, aber sehr feine Konzerte. Unerschrocken und dabei immer sehr, sehr großzügig. Ein prima Kerl, mit viel Vertrauen (und natürlich: Geschmack). Und dieser prima Kerl hat nun auch für den War On Women Gig an uns gedacht. Für uns ist sowas wie Weihnachten. Und wenn jemand in der Ankündigung auch noch so schöne Sachen über uns schreibt, dann ist auch noch gleichzeitig Ostern.
Ich frage mich gar nicht mal so selten, ob es überhaupt Menschen gibt, die "New York Is Now" schätzen. Ich kenne niemanden, der Ornette Colemans Album von 1968 wirklich in sein Herz geschlossen hat - dafür ist es allerdings in der genaueren Betrachtung emotional viel zu distanziert, ich wäre um ein Haar gar versucht zu sagen, es ist gefühlskalt. Nun verbindet mich mit Colemans Stil seit jeher eine Art Hassliebe, und wo ich seine Experimentierfreudigkeit und seinen Humor mag, so empfinde ich seinen Stil immer als bewusst hakelig und seinen Ton als krude und unförmig. "New York Is Now" ist hierfür keine Ausnahme. Schon der Opener "The Garden Of Souls" ist in der kompletten Anlage schleppend und in sich verschoben, zerfasert. Dabei ist das Line-Up der von Francis Wolff für das Blue Note Label aufgenommene Session ein Hingucker, wenn nicht -hörer: die Rythmusabteilung mit Elvin Jones an den Drums und Jimmy Garrison hat sich Coleman vollständig von John Coltranes legendärsten Bandgefüge gemopst, dazu kommt mit Dewey Redman ein versierter und wieselflinker Tenorsaxofonist, der mit Coleman als Leader bis ins Jahr 1972 noch bei sechs weiteren Arbeiten an dessen Seite sein sollte. Das Lineup mit Garrison und Jones hielt immerhin noch für ein weiteres Album "Love Call", das aus den selben Session wie "New York Is Now" entstand.
Ich habe über die letzten Jahre einen Narren an dieser Aufnahme gefressen, obwohl es nicht immer ein reiner Genuss ist, "New York Is Now" zu hören. Zum einen, und das mag seltsam klingen, aber wer ohne Knick im Hirn ist, der werfe den ersten Operationsbericht, mag ich schlicht den Albumtitel. "New York Is Now" ist unmittelbar und urban, klingt nach Aufbruch und Revolution. Zum anderen ist mir das Coverartwork mit der Großaufnahme Colemans und Garrison mit Zigarette im Hintergrund ans Herz gewachsen - in der aktuellen Wiederveröffentlichung als Vinylversion erscheint das Cover noch größer und einnehmender. Und das Backcover mit Blick auf die Skyline New York und mit den erloschenen Leuchtbuchstaben des Hotel Manhattan trägt viel zur Stimmung dieses Albums bei.
Es liegt selbstverständlich auch eine große Faszination in der Musik, die mich das Album sehr regelmäßig aus dem Regal ziehen lässt, aber hier wird die Erläuterung schwieriger. Vielleicht ist es die dunkle Aura der Aufnahme, die so anziehend ist. Vielleicht ist es das diffuse Gefühl, als wären alle Beteiligten in einer Art Traumwelt gefangen gewesen, als die Bänder mitliefen. Vielleicht kamen Garrison und Jones wirklich nicht mit dem Stil Colemans zurecht, waren herausgefordert und musste so reagieren, wie sie es nicht gewohnt waren. Thom Yurek schrieb dazu, dass insbesondere Elvin Jones den Eindruck mache, als wüsste er wegen des reduzierten Tempos nichts mit sich anzufangen. "New York Is Now" ist eine aufgerauhte, alles andere als zugängliche Session postmodalen Jazz, der rythmisch wie so oft bei Coleman im Blues verharrt, gleichzeitig im Aufbrechen von Harmonien und im Experimentieren mit melodischen Elementen immer an der Stelle zum Free Jazz entlangschlingert.
Nächster Hotspot also: das Parallel in der Brabanter Straße 2-4. Haben die bösen Stimmen im bösen Internet recht? Geht hier wirklich die Schallplattenwelt und die Musikkultur unter?
Nach einer guten halben Stunde wissen wir: fast alles Kappes. Zwar könnten wir auf dem Fußboden locker eine Lebertransplantation durchführen und bei dem Raumkonzept von Transparenz und Fläche kommt nicht wirklich Stimmung auf, und wer auf der Suche nach Schnäppchen ist, sollte auch besser einen Bogen ums Parallel machen, legt man für Neuware doch fast immer zwischen 20 und 30 Steine auf den Tisch des Hauses - inklusive einiger absurder Ausreißer nach oben. Dafür ist der Laden aber in nahezu jedem Genre prima sortiert. Vor allem im Raritätenfach dürfte das ein oder andere Herz höher schlagen. Manchmal auch ganz besonders das Herz von Deinem Bankberater. Auf meine drei nervigen Fragen reagierte der Mann hinter dem Tresen total freundlich und konnte mir sofort Auskunft geben. Buchstäblich auf den letzten Drücker finde ich das seit langer Zeit gesuchte Debut von Gil Scott-Heron, die Gedichtsammlung "Small Talk at 125th And Lenox" als Reissue für günstige sagenhafte 15 Euro - sowas geht hier also auch. Guck' an.
Einmal um die Ecke laufen und schwupps! stehen wir auch schon im Groove Attack (Maastrichter Straße 49) - allerdings stehe ich erst mal schön wie der Storch im Salat, weil außer T-Shirts, Jacken, Hosen und Schuhen nicht viel zu sehen ist. Vor allem keine Schallplatten. Der nette Tresenmensch weist mir den Weg in den Keller, dort steht das schwarze Gold. Und wie es da steht.
Auch hier überrascht mich das Repertoire sehr positiv, denn im Grunde ist das mein physischer Wunschzettel meines bevorzugten Dealers Mailorders. Ich bin baff. Das Groove Attack führt in erster Linie sehr viel Hip Hop, und davon sehr viel Neuware. Alle wichtigen Labels, alle wichtigen Neuheiten, alle wichtigen Wiederveröffentlichungen - es ist alles da. Neben dem zweiten Schwerpunkt, der auf elektronischer Musik, Techno und Drum'n'Bass liegt, gibt es Spurenelemente von Brazil, World, Kraut, Indie, und Punk. Es fällt mir wirklich schwer, den "Shut up and take my money!"-Reflex zu unterdrücken, verantwortlich dafür, dass ich es letztlich doch kann, ist mal wieder die Preisgestaltung. Hier geht es im Vergleich zu den anderen besuchten Läden schon nochmal zwei bis drei Euro nach oben, wohlwissend, dass das nicht immer am Inhaber liegen muss. Die neue (Einzel-)LP von L'Orange beispielsweise, erschienen auf der Mello Music Group, kostet absurderweise auch via Versandhandel 25 Euro, und exakt zu jenem Preis steht sie auch im Groove Attack. Bei anderen Titeln muss man bei den aufgerufenen 27 oder 28 Euro schon mal kurz durchschnaufen. Und dennoch, will ich eine Platte unbedingt und habe sogar das Glück, sie im Laden zu finden - ohne Versandschrott, ohne Bezahlung via Hitler-Paypal und ohne eine arme Socke von DHL durch halb Deutschland zu hetzen, damit ich mir eine überteuerte Schallplatte anhören kann - dann bezahle ich gerne den Sondergroschen des Einzelhandels. In vollem Bewusstsein, das Problem des heißlaufenden Markts und der schwindelerregend schnell aufsteigenden Preisspirale damit gerade nochmal anzufeuern. Wie man es macht, ist es verkehrt in diesem Schweinesystem. Was genau der Grund dafür sein könnte, dass uns der Dreck noch nicht vollends um die Ohren geflogen ist. Unkraut vergeht halt nicht.
Wir verlassen das Groove Attack ohne neue Lieblinge. Nicht fair für einen echt prima sortierten und durchdachten Laden, aber wir haben keinen Geldschisser zu Hause auf der Terrasse stehen. Man mag mir die Unsachlichkeit verzeihen, hier trifft's im Grunde die falschen Jungs. Guter Laden, alle hingehen, Daumen hoch.
Der Abschluss wird nochmal ein Schmankerl. Wir holen die Herzallerliebste aus der Kölner Konsumhöllenmeile heraus, sprechen noch schnell ein Treffen mit dem Oberlehrer ab und fahren Richtung Ehrenfeld. Hier haben Blank When Zero immerhin schon drei Mal gespielt und ich habe in völlig vernebeltem Kopf Tool live gesehen. 1997. Trotz Feuchtigkeits- und Nachtcreme fällt nicht nur an dieser Stelle auf: ich bin alt.
Ein alter Hase ist auch Jochen Sperber, der Inhaber von Normal Records (Heliosstraße 6). Über Jahrzehnte war der Laden in der Kölner Innenstadt eine Institution, bevor Jochen 2010 frustriert und schwer gezeichnet vom ewigen Kampf gegen Saturn und Media Markt, gegen das Internet und gegen die Pfeifen, die bei ihm stundenlang Platten anhörten und sie dann um die Ecke beim Elektro-Allrounder kauften ("Ich möchte nie wieder in einem Plattenladen arbeiten.") das Handtuch schmiss. Dass der Mann trotzdem nicht ohne Schallplatten und ohne den Kundenkontakt leben kann, entdeckte er Ende 2014 und erweckte Normal Records wieder zum Leben. Die Location alleine ist schon der Hit: in einem Hinterhof in Ehrenfeld wird eine kleine Laderampe hochgekraxelt und man steht in dem niedlich eingerichteten "La Boite Gourmande", der ersten Kölner Konserverie mit Café. In der Durchgangstür entdeckt man sie dann schon: die Schallplatten. Es ist mittlerweile ein toller, sonniger Frühlingstag. Die Stimmung ist so heiter wie das Wetter. Gute Menschen. Plötzlich ist irgendwie alles gut.
Jochen ist ein sehr sympathischer und offener Typ, dem man problemlos für ein paar Stunden zuhören könnte. Sein Leben hat er in der Plattenladenpause in ein Buch hinein geschrieben, das nur noch redigiert und mit einem Cover versehen werden muss. So philosophieren wir uns alle für eine gute Stunde durch die Gesellschaft, durch Schallplatten, durch Konsum, durch Musik und wir entdecken, dass alles miteinander zusammenhängt. Jochen sagt, er will sich wieder auf das konzentrieren, was für ihn zählt: echte Musik. Und echte Beratung.
"Das was einen guten Händler auszeichnet, ist seine fachliche Kompetenz und sein ahnen von dem was ich mögen könnte. Beratung eben. Genau das möchte ich wieder tun. Beraten. Das was in den letzten Jahren in meinen vorherigen Läden immer seltener wurde." (Facebook, 11.Januar 2015)
Die Plattenauswahl ist übersichtlich, aber das macht nichts. Dafür ist man gar nicht in erster Linie da. Ich habe die Zeit in dem Laden sehr genossen - man lachte und scherzte, philosophierte, schaute sich nebenher ein paar Platten an, war erstaunt, legte ein paar zum Anhören auf den Plattenteller, blättert in den ebenfalls ausliegenden Büchern, schwätzt weiter...die Zeit verging wie im Fluge. Und fündig wurde ich auch nochmal: die The Sea And Cake-Sammlung ist nach dem Erwerb von "Two Gentlemen" nun tatsächlich komplett und endlich steht nun "Cavale" von ihrer Quasi-Vorgängerband Shrimp Boat auf dem Bandaltar in meinen 3,40qm Luft, Liebe und Musik.
Toll. Danke Simon! "Des wär' aber net nöödisch geweese!" (Henni Nachtsheim)
Um ein Haar noch toller: ich entdecke "Moment Returns", das 2004er Album von der australischen experimentellen Jazzband Triosk auf Vinyl. Die 2007 leider aufgelöste Truppe ist nicht nur geographisch mit den irren The Necks vergleichbar, auch musikalisch haben die beiden Truppen durchaus Parallelen, wenngleich die Nacken etwas verspielter und tatsächlicher jazziger sind, wo Triosk noch ausgeprägter der Elektronik und dem Ambient verfielen. Eine beeindruckende Platte, jedenfalls.
Wir nehmen gemeinsam in der Sonne sitzend noch Ingwer-Bier und Kaffee zu uns und lassen uns die Sonne auf den Pelz scheinen.
Auch wenn es in der angenehmen, unbeschwerten Atmosphäre schwer fällt, müssen wir los. Es ist Feierabendverkehr und wir haben noch gut zwei Stunden Fahrt vor uns. Wir eisen uns gaaaanz langsam los und verlassen Köln in Richtung Heimat.
Ein toller Tag mit tollen Platten und tollen Menschen.
"Der Plattenladen ist nicht tot - er riecht nur etwas komisch." (Flo Zapfhahn)