25 Alben sollten es am Ende des real existierenden Excel-Massakers werden und ich kann freudig weißen Rauch aufsteigen lassen: es ist vollbracht! Zwischen Discogs-Sammlung, Jahresbestenlisten, Plattenregal und Alzheimer werde ich diesem Blog wenigstens für eine kurze Zeit wieder ein bisschen Leben (und außerdem viele der so innig geliebten Tippfehler) einhauchen - und ich nahm darüber hinaus die Übung gleich zum Anlass, ein wenig über die letzten zehn Jahre zu reflektieren. Das war nicht immer einfach. Manches aus jener Zeit erscheint emotional heute weiter von mir entfernt zu sein, verblasster und undurchdringlicher als die gefühlsmäßige Standleitung in die romantisch verklärte Adoleszenz in den 1990er Jahren, und das wirft bei entsprechender Chraktereigenschaft unangenehme Fragen aufs Tableau. Die Zäsur des Jahrzehnts war sicherlich mein Jobwechsel im Jahr 2015, der im Prinzip mein bisheriges Leben auf den Kopf stellte. Wer belastbares Beweismaterial sucht, findet es in den seitdem deutlich zurückgegangenen Beitragszahlen auf diesem Blog; ein Umstand der mich nicht gerade mit Stolz erfüllt. Offensichtlich konnte ich mich 2016 noch irgendwie durchbeißen, aber bereits ein Jahr später musste ich immer öfter die weiße Flagge in das Alltagsgetöse halten, und ich sehe leider nicht, wie sich das ohne stattlichen Lottogewinn künftig ändern ließe. Was indes Hoffnung macht: auch wenn die Frequenz der geschriebenen und hochgeladenen Texte sank, ist überhaupt und immerhin noch eine Frequenz vorhanden! Das klingt im mehr oder minder gut verschleierten Subtext fatal nach "Es war ja auch nicht alles schlecht!", dabei ist's ja nicht anderes als ein bereits ordentlich ausgefranster Strohhalm, an den ich mich immer noch klammere. Es ist schon alles ziemlich verrückt.
Dabei macht mir das Schreiben immer noch sehr viel Spaß, vor allem, weil es die Auseinandersetzung mit der Musik "fördert und fordert" (Schröder). Das Problem dabei: auch wenn es die Qualität öfter als mir lieb ist nicht unbedingt vermuten lässt, so ist für meine Texte ein ziemlich großer Aufwand notwendig. Die Recherche, das Sammeln der Gedanken, die unzähligen Textentwürfe, die andauernden Überarbeitungen - und all das im Zeichen des allgegenwärtigen Kleinkriegs mit der Prokrastination und der sowieso immanenten geistigen Limitierung - machen praktisch jeden Beitrag zur Mut- und Kraftprobe. Und wenn dann noch die Zeit fehlt, und die fehlt wirklich fucking immer, schmeiße ich schon beim bloßen Gedanken an den zu erwartenden Krampf beim Ringen nach Worten, nach Stil und Eleganz das Handtuch. Ein Rückblick auf die letzten zehn Jahre machte mir deutlich, dass ich höchstens 10% der in dieser Zeit geschriebenen Texte für einigermaßen erträglich halte, im Sinne von "ohne gröbere Fremdscham bis zum Ende des Artikels lesbar". Der Rest ist oft halbgar recherchiert und hölzern formuliert, vielleicht immer gut gemeint, aber selten wirklich gut gemacht. Einiges überarbeite ich im Stillen teils noch Jahre später, wenn ich mal wieder über ganz besonders furchtbare Peinlichkeiten stolpere; ich habe schon Beiträge nochmal komplett neu geschrieben, die vermutlich wirklich niemand mehr jemals lesen wird, aber ernsthaft: ich kann das doch so nicht stehen lassen!
Es ist im Prinzip wie bei meiner selbstgemachten Musik. Ich nehme seit 1998 Platten auf und schreibe seitdem sowohl eigene Texte als auch eigene Musik und es gibt praktisch keine veröffentlichte Song- und Textsammlung, für die ich nicht ohne Zögern einen Atomkrieg anzetteln würde, auf dass dieser selbst ausgedachte Schmonz endlich vaporisiert und also vom Antlitz der Erde getilgt wird. Da arbeitet man Jahre an sowas, nimmt es unter gröbsten Anstrengungen auf, ist exakt für zwei Minuten glücklich - und ist sprichwörtlich beim ersten Schritt aus dem Aufnahmestudio soweit, sich auf der Heimfahrt den finalen Baumstamm auf der Landstraße auszusuchen - wie konnte ich diese eine Melodie denn bitteschön so scheiße singen?! Warum habe ich denn da zwei Mal die gleiche Strophe gesungen? Fucking hell, die Gitarre ist verstimmt! Aber mein Über-Ich in einem Paralleluniversum war beim initialen Gedanken offenbar der Meinung, dass es sich doch auch prima mit halber Kraft fahren ließe - und ließ bei der Erkenntniss glatt einen fahren. Die stetig voranschreitende Mediokrität der eigenen Umwelt hat ja auch sein Gutes, das Feigenblatt zur Abdeckung der eigenen Mittelmäßigkeit kann mithin nicht groß genug sein.
Genug mit der Selbstkasteiung, sprechen wir lieber über Musik. Denn musikalisch betrachtet war es das beste Jahrzehnt aller Zeiten, stilistisch ein möglicherweise gar zu gleichen Teilen konsistenteres und eklektischeres als das vorangegangene. Ich denke, die folgende Auswahl er 25 besten, tollsten und geliebtesten Platten kann diese These bestätigen. Ich fühle mich mittlerweile in dem Spannungsfeld der nachwievor manischen und so unabhängig wie nur möglich durchgeführten Suche nach neuer Musik und dem immer wieder vollkommen erfüllenden Abtauchen in bekannte und längst auf dem Olymp stehende Alben ganz wohl - es gehört zum fast täglichen Ritual, sowohl das eine, als auch das andere in meinem Leben zu begrüßen. Auch wenn der Drang, sich wegen latenter Überforderung immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen, durchaus vehementer spürbar ist als noch vor fünf Jahren. Im Moment halte ich den Gegenwind noch aus.
Und dieser letzte Satz ist vielleicht eine etwas krude Einleitung für eine Textreihe, die sich explizit mit der Vergangenheit auseinandersetzen soll. Da haben wir's wieder: einmal nicht nachgedacht, schon kommt nur "Mumpitz" (Matthias Breusch) raus.
Auf die nächsten zehn Jahre Mumpitz.
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ATHEIST - JUPITER
Atheist haben mit "Jupiter" ein Album eingespielt, das qualitativ nahtlos an ihre ersten drei Klassiker "Piece Of Time" (1989), "Unquestionable Presence" (1991) und "Elements" (1993) anschließt. Mir fällt sonst keine andere reformierte Metalband mit entsprechender Fallhöhe ein, die das erreichen konnte - was vermutlich auch der Grund dafür war, im Oktober 2010 und damit also kurz nach dem Release des mich, Zitat: "wuschig" machenden Vorabstracks "Second To Sun" darüber zu phantasieren, dass mich das kurz darauf zu veröffentlichende Album ganz sicher nicht so mitnehmen werde wie ihre Frühwerke. Gebranntes Kind, und so. Und zack, zehn Jahre später hat's mich geradezu mit- und weggerissen. Technisch so anspruchsvoll wie eh und je, kraftvoll und kompromisslos, dazu mit der so typischen (für Atheist) wie ungewöhnlichen (für das Genre) Eingängigkeit ausgestattet, ist "Jupiter" der nächste Meilenstein im Schaffen dieser einzigartigen Band - auch wenn die Experimentierfreudigkeit meines Lieblingsalbums "Elements" beim Comeback in der Grastüte vergraben blieb. Gerüchte über ein neues Album halten sich seit Jahren hartnäckig, tatsächlich hat man im Jahr 2018 sogar einen neuen, weltweiten Plattenvertrag unterzeichnet, aber abseits einiger Tourneen auf der anderen Seite des großen Teichs, hat sich bislang leider nichts getan. Wenn "Jupiter" ihr Schwanengesang bleiben sollte: ich kann damit bestens leben.
Erschienen auf Seasons Of Mist, 2010.