EIN RUNDGANG DURCH DIE VINYLGEMEINDE
Mit Blitz und Donner in Herz, Hirn und Hose machte ich mich auf den Weg in die Kettengasse, wo The Record Store zu finden sein sollte. Ich kann mich an diese Station aus dem Jahr 2009 noch gut erinnern: der Laden hatte seine Türen seit 2005 geöffnet, der Besitzer war sympathisch und die Auswahl war grandios - so hielt ich beispielsweise "Ptah, The El-Daoud" von Alice Coltrane in der Erstpressung von 1970 in den Händen und entschied mich angesichts der aufgerufenen 40 Euro (natürlich) dagegen. Ich Vollarsch.
Im Jahr 2016 war davon nichts mehr zu sehen, im Wortsinn: The Record Store existiert nicht mehr. Zwischen einem veganen Café und einem Nagelmassagen-Shop gibt es keinen Platz mehr für Schallplatten - zumindest nicht in Heidelberg. 2011 zog der Record Store um und hat
nun in Freiburg seine Heimat gefunden.
Um die Ecke geht es zum
Pannonica in der Ingrimstraße 22, einem kleinen und wunderschön in den kleinen Gassen der Altstadt gelegenen Café, in das man zwei Meter Schallplatten in die Mitte des ersten kleinen Raumes gestellt hat. So toll, schön, charmant und meinetwegen stylish das auch ist, aber ein Plattenladen ist das nicht. Ich fühle mich etwas deplatziert und ziemlich fremd, bestelle zur Beruhigung (...) einen Espresso, wühle mich durch das wirklich krude zusammengewürfelte Repertoire aus Kraut, Rock, Soul, Experimental, HipHop und allerlei avantgardistischem Zeug und bleibe tatsächlich für volle zwei Minuten bei
Mickey Harts "Rolling Thunder" kleben und überlege mir einen Kauf (Ergebnis: negativ). Vorteil: den üblichen Flohmarktschrott gibt's hier nicht, und wer interessiert ist, kann die Scheiben auflegen und reinhören. Genau so wenig kann ich allerdings erkennen, ob die Auswahl wirklich bewusst kuratiert wurde, oder ob eine Granate in einem Plattenlager hochging, und die von der Detonation am weitesten weggeschleuderten Exemplare aufgesammelt und ins Pannonica gebracht wurden. In diesem Zusammenhang ist die Anmerkung wichtig und richtig, dass die überwiegende Mehrheit der Scheiben in einem überaus gepflegten Zustand ist.
Anyway, die Bedienung war sehr freundlich und niedlich, und es war am Ende wie mit einem paar frischer Unterhosen: am Anfang kratzen sie immer ein bisschen, aber später will man gar nicht mehr raus. Würde ich dort wohnen, ich wäre wohl Stammgast.
Die letzte Station heißt
Musikzimmer in der Untere Straße 10. Auf den ersten Blick macht der quadratische Laden hinsichtlich der Sortierung einen ganz guten Eindruck, und dass "To The 5 Boroughs" der Beastie Boys prominent in der Auslage präsentiert wird, allerdings zum gepfefferten Kurs von 89 Euro kann als Fingerzeig für das, was mich hier erwartet gewertet werden. Jedenfalls dachte ich das, aber auch hier holt mich die Realität ziemlich flott wieder ein: die Jazzauswahl ist noch ganz interessant, wenn auch quantitativ nicht gerade protzend, mit einigen schönen und selten anzutreffenden Stücken, die preislich dann aber auch wieder in diskussionswürdige Bereiche abdriften. Unter Punk und Indie finden sich einige Reissues von Refused, The Used oder auch Nirvana und ein bisschen Neuware, alles etwa zwischen 20 (kaum) und 25 Euro (häufiger) angesiedelt. Ich bekomme ein seltsames Zeitkapselgefühl und frage mich, ob die Heidelberger ex-Jugend von 2002 wirklich immer noch den ganzen alten Schrott kauft. Oder auch nur hört.
In den Neuheiten steht, pardon für die fehlende Differenzierung, nur alter Scheiß, im Hardrock/Metal Fach die üblichen Verdächtigen aus Doro, Bonfire und Whitesnake (Symbolbands). Unter "Rock/Pop A-Z" findet sich überaschenderweise "Rock/Pop von A-Z" und ich hätte jetzt noch gerne einen Espresso, weil mir schon bei "D" der Kopf auf eine Drönemeyer-Platte fällt. Oder war es erst bei "G"?
Zu meinem persönlichen Amüsemang stolpert ein Kunde in den Laden:"Ich habe gerade die Kraftwerk-LP im Schaufenster gesehen, die nehme ich bitte."
Fantastisch, es gibt noch Laufkundschaft! Doch, oh Schreck, er fängt das Diskutieren an!
"Ach so, das ist keine Originalpressung?" -"Nee. Die sind immer ziemlich schnell ausverkauft." -"Ahaaaa."
Bange Minuten des Abwägens vergehen, dann endlich:
"Ich nehm' sie."
Frankfurt-Sossenheim gratuliert.
Frankfurt-Sossenheim fährt anschließend mit durchgeweichten Schuhen, durchgeweichtem Hirn und platten Füßen zurück in die Mainmetropole. Mit gemischten Gefühlen. Ich hatte den Besuch vor sieben Jahren insgesamt positiver abgespeichert, aber vielleicht ist das auch nur einer romantischen Verklärung geschuldet. Die Zeiten für Plattenläden scheinen sich, zumal wenn sie ihre Zelte nicht gerade in urbanen Zentren wie Berlin, Köln, Stuttgart oder München aufgeschlagen haben, trotz des Vinyl Hypes nicht signifikant gebessert zu haben; nimmt man die Situation in Heidelberg als Maßstab, ist vermutlich eher das Gegenteil der Fall. Andererseits sollte nicht verschwiegen werden, dass mit dem Musikzimmer und dem Pannonica zwei neue Läden mit teils neuen Konzepten das Licht der Welt erblickten. Vielleicht liegt darin der Schlüssel für die Zukunft, um auf das veränderte Konsumverhalten von Musikhörern, dem demografischen Wandel innerhalb der Gesellschaft und die weiter voranschreitende Verästelung von Musikgenres, Künstlern, Formaten, Marketing, Marketing und vor allem: Marketing zu reagieren.
Die Zeiten ändern sich, die Welt ändert sich, die Menschen ändern sich. Warum sollte dann ausgerechnet das vor mehreren Jahrzehnten etablierte Konzept eines Plattenladens überleben?
Frage ich Sie!