CORONER - GRIN
"Don't you know you adore
An eagle with broken wings
Roses that never bloom
Wheels that never spin
Bells that never ring
Hands too far to reach"
(Coroner, "The Lethargic Age")
Coroner galten stets als europäisches Äquivalent zu einer Band wie Voivod. Beide Bands fanden ihre Wurzeln in der Ursuppe der aufkeimenden Speed und Thrash Metal-Bewegung der ersten Hälfte der 1980er Jahre, begannen aber sehr schnell damit in progressive, technisch ambitionierte Bereiche auszuschlagen. Künstlerisch waren sie damit der Konkurrenz in ihren jeweiligen Kontinenten immer zwei, drei Schritte voraus, kommerziell hingegen kamen sowohl Voivod als auch Coroner nie so recht über ein "Nischendasein mit Kultstatus" hinaus. Es ließe sich zwar darüber reden, ob sich Coroner jemals so weit aus der Komfortzone herauslehnten wie das kanadische Quartett auf Alben wie "Nothingface" oder "Angel Rat", aber spätestens mit ihrem 1989er Album "No More Color" war immerhin klar, es hier nicht mit einer Thrashkapelle von der Stange zu tun zu haben. Der 1991er Nachfolger "Mental Vortex" vertiefte die eingeleitete Entwicklung nicht nur hinsichtlich immer komplexer werdenden Arragements, die Band legte auch deutlich mehr Wert auf die im Thrash Metal oft brach liegenden atmosphärischen Zwischenebenen.
Mit "Grin" bekam jener Aspekt größeren Raum als jemals zuvor eingeräumt. Wurde ein Großteil der früheren Intensität vor allem durch die Mischung aus Geschwindigkeit und schierer Überforderung mittels diffiziler Kompositionen erzielt, verdichtet "Grin" den musikalischen Raum mit Monotonie und Groove. Und einer, man muss das so sagen, überaus strengen und dominanten Ansprache von Sänger Ron Royce. Wer sich früher demütigen lassen wollte, ging mal schnell aufs Straßenverkehrsamt, heute lässt man sich von Royce verbal auspeitschen - und zwar mit überzeugter Boshaftigkeit. Das ist zweifellos eine beeindruckende Performance, aber da muss man schon der Typ für sein.
Es mag zunächst ein bisschen widersprüchlich erscheinen, aber indem das Trio ihren Songs mehr Platz lässt, verstärkt sich gleichzeitig das Gefühl der Enge; ein Stilmittel, das sich Coroner ganz eventuell bei einer Band wie Ministry abgeschaut haben könnten, deren damals gerade aktuelles Album "Psalm 69" sehr erfolgreich Industrial mit Metal vermischte und zu einem der Meilensteine des damaligen Zeitgeists wurde. Im Grunde durchliefen Coroner eine ähnliche Entwicklung wie beispielsweise Sepultura von "Arise" zu "Chaos AD" oder auch Morgoth von "Cursed" zu "Odium", indem sie einen Ausweg aus der kreativen Sackgasse des klassischen Thrash und Death Metals suchten und ihn im Groove fanden. Coroner machten in dieser Hinsicht mit "Grin" möglichweise den größten Sprung, aber sie waren auch besser vorbereitet: die mit "No More Color" und "Mental Vortex" eingeleitete Entwicklung ist vor allem im Rückblick völlig plausibel und folgerichtig.
"Grin" ist tiefschwarz, kalt, abgründig, klaustrophobisch und unangenehm. Wer all das in seiner Essenz überprüfen möchte, ist eingeladen, sich dem am Ende des Albums platzierten Dreiklang aus "Paralized, Mesmerized", "Grin (Nails Hurt) und "Host" zu widmen.
A lesson in punishment.
Vinyl und so: Über die Erstpressung von 1993 darf man sprechen, wenn Aussicht auf eine schöne Erbschaft besteht, ansonsten versucht man es mit dem Reissue (Doppel-LP, grünes Vinyl) aus dem Jahr 2018 und ist mit schlappen 30 Euro dabei. Ich möchte hier allerdings darauf hinweisen, dass der Sound der letztgenannten Version signifikant angepasst wurde. Auf Discogs beschrieb ein Nutzer den Unterschied mit "komplett veränderter Ästhetik" und liegt damit ziemlich richtig. Die Bässe wurden deutlich reduziert, zeitgleich hat man die Mitten verstärkt. Das führt zu einem giftigeren Gitarrensound, einer heller klingenden Snare und einem dadurch insgesamt deutlich klareren, transparenteren Klangbild. Ob das dem Album nützt oder schadet, beantwortet das eigene Stilempfinden. Aber wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass es in erster Linie anders ist.
Erschienen auf Noise Records, 1993.

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