11.06.2016

Roots Bloody Roots




TYRONE WASHINGTON - ROOTS


Aufmerksame Leser von Dreikommaviernull und jene mit einem guten Erinnerungsvermögen besinnen sich vielleicht noch an meine warmen Worte zur großartigen "BLACK FIRE! NEW SPIRITS!"-Zusammenstellung aus dem vergangenen Jahr und an den dort erwähnten Namen Tyrone Washington:

Das intensivste Stück von "Black Fire! New Spirits!" ist sicherlich "Universal Spiritual Revolt" von Tyrone Washington. Ein zunächst ausgelassen beginnender funky Jazztune, der urplötzlich in einen wilden Orkan mit Glocken, irrem Gebläse und "Freedom!, Freedom!" Geschrei umschlägt und am Ende wieder beschwingt in das Eingangsthema wechselt, als wäre nichts geschehen. "Universal Spiritual Revolt" hat eine unbändige Kraft, laut abgespielt kann man während dieser neun Minuten kaum stillsitzen. Washington nahm Ende 1967 sogar eine Platte für das Blue Note Label auf ("Natural Essence"), spielte Sessions mit Jackie McLean, Woody Shaw und Herbie Hancock - wenngleich die "Train Wreck Sessions" genannten Aufnahmen mit letztgenanntem nie offiziell veröffentlicht wurden - und verließ nach seiner letzten, 1974 erschienenen Platte "Do Right" und der Konvertierung zum Islam die Musikwelt.

Das erwähnte Blue Note-Album Washingtons "Natural Essence" habe ich mir mittlerweile auf Vinyl gegönnt: eine hochinteressante, weil vordergründig klassische Blue Note-Post Bop Jazzplatte der späten 1960er Jahr, die aber in der detaillierteren Auseinandersetzung mit einem ungewöhnlichen Twist in den Kompositionen überrascht. Von den beiden Nachfolgern "Roots" und "Do Right" ist bislang leider nur erstgenannte als wahrscheinlich unautorisierter Repress auf Vinyl wiederveröffentlicht worden, für den Schlusspunkt "Do Right" muss selbst für die 2006 erstmals erschienene CD schon etwas tiefer in die Tasche gegriffen werden. Für die Original-LP sollte man inklusive der Versandkosten nach Deutschland einen dreistelligen Betrag einplanen. Aber vielleicht kommt auch hier bald das Counterfeit.


In der Zwischenzeit ist nun auch immerhin der Counterfeit von "Roots" bei mir eingetroffen und liegt regelmäßig auf dem Plattenteller. Erschienen 1973 auf Perception Records, einem obskuren und mysteriösen Label, das nur für etwa fünf Jahre bestand und praktisch nichts für die Nachwelt hinterließ. DJ Spinna wird im Zuge seiner Perception-Retrospektive (siehe Mixcloud Link weiter unten) wie folgt zitiert:

“There’s no tapes, no multi-tracks or masters. Everything on the compilation for the most part came off of records, so something happened somewhere."





Washington war schon zu Blue Note Zeiten ein kritischer Geist. In den Liner Notes zu "Natural Essence" ist folgender Abschnitt zu finden, wohlgemerkt aus dem Jahr 1968:

“Man has lost himself in technological and materialistic creation. We can offer music as a new currency in a sense, and if man can dig that, then he might be able to save himself from suicidal mass destruction.”


Die Liner Notes von "Roots" sucht man dagegen vergebens. Stattdessen gibt es nur folgende zwei Sätze zu lesen:

“Liner notes on this album are totally unnecessary. Tyrone Washington is incredible.”


Die letzte bekannte Aufnahme Washington ist auf dem Roswell Rudd Album "Blown Bone" zu hören, aufgenommen im März 1976 und erschienen im gleichen Jahr auf Philips Records. Bob Washington, der in einer Kundenrezension (!) auf der Übersee-Seite von Amazon (!!) angibt, Tyrones Bruder zu sein, sagt, dass der Tenorsaxofonist mit den großen Karrierechancen sich 1976 komplett aus der Musikszene zurückzog und seinen Namen in Bialar Mohammed änderte, um seitdem seine religiösen Überzeugungen in Newark, New Jersey zu verbreiten. Weiterführende Informationen zu seinem Verbleib sind rar, um nicht zu sagen: nicht existent.

"Roots" ist auf mehreren Ebenen ein überaus interessantes, zwischen Post Bop, zarten Free Jazz Ausläufern im möglicherweise prophetischen Abräumer "1980",  Frühsiebziger-Soul und unausgesprochenen politischen Statements hin und her pendelndes Album. Der Einstieg mit der Coverversion von Stevie Wonders "You Are The Sunshine Of My Life" gerät noch beschwingt. Aber der Schein trügt, denn schon mit dem folgenden "Spiritual Light of the Universe" segelt das Quartett mit dem Bassisten Stafford James, Schlagzeuger Clifford Barconadhii und Pianist Hubert Eaves in abseitigeren Gewässern: melodisch abgedunkelt und ein verzwicktes und ungewöhnliches Arrangement, das schon nach fünf Minuten den Kreis wieder schließt und zum Ende kommt. 

Das vielleicht bekannteste Stück Washingtons ist "Submission". Der die A-Seite von "Roots" abschließende Tune wurde mehrfach von Hip Hop Acts gesampelt, unter anderen von Ikone Madlib - damals noch unter seinem Alter Ego Quasimoto - im Jahr 2000 für sein "Return of the Loop Digga" oder auch von A Tribe Called Quest für "Can I Kick It? (Spirit Mix)".




Wer also in die Arbeiten einer der mysteriösesten Musiker der 1960er und 1970er Jahre hineinschnuppern will - ein musikalisch hochinteressantes, nach dem Aufkauf von Liberty entstandenes Blue Note Album mit gleichfalls attraktiver Besetzung ("Natural Essence"), ein vergessenes Album auf einem obskuren Jazz/Rock-Label von 1973 ("Roots") und ein letztes Werk mit künstlerischem Befreiungsschlag ("Do Right") sowie dem selbst gewählten Abtauchen ins religiöse Nirwana - ist mit Tyrone Washington bestens bedient. 




Und hier die "Natural Essence"-LP in voller Länge:




Erschienen auf Perception Records, 1973.


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