Dass mich orchestraler Postrock im Jahr 2015 wirklich nochmal kriegt, ist so absurd wie eine Lebensmittelindustrie, die dem Proletariat eine nach dem Verlassen des Enddarms umgehend tiefgefrorene Verhöhnung von Würde und Anstand zurück in den Verdauungstrakt drückt, und dabei habe ich schon die de facto einzig relevante Postrock-Kapelle - Achtung, Spoiler-Alert! - und ihr neues Album mit dem lieb gemeinten Hinweis ignoriert, sich die 28 Schleifen dahin zu schieben where it smells funny; nicht mal mit Trauersemmelkloß im Hals, sondern selbstbewusst wie eine "Brez'n" (Polt), auch weil die Zeit für ihre zur Schau gestellte urbane Waldschratintellektualität womöglich in der postkapitalistischen Gesellschaft wieder en vogue sein wird, in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur ist sie längst von der Realität überholt, in der Pose festgefroren, die erhobene Plastikfaust in die verpestete Luft gereckt. Von den Legionen uninspirierter Milchsemmelbands, die im Windschatten des Originals das Distortionpedal nicht mehr finden konnten, wollen wir gar nicht erst anfangen. Wer da immer noch den Schlüpper schwingt - da bekommt man ja fast Mitleid.
Esmerines drittes Album auf, klar: Constellation Records, blieb knapp unter meiner 25-Euro-Grenze für neue Tonträger, und ich bin wirklich ganz entzückt, dass dieser Blind-/Taubkauf den Weg ins Warenkörbchen gefunden hat. Das Quintett, das auf "Lost Voices" mit einer ganzen Reihe von Gastmusikern zusammenarbeitet, entspringt, man möchte fast ein "natürlich" hinzufügen, dem Umfeld des Muttertieres Godspeed You! Black Emperor und seines Ablegers A Silver Mt.Zion und nähert sich vor allem in den rockbetonteren und damit sehr intensiven Momenten des Albums deren Gestus und Gespür für Melodramatik auffällig nah an - und sei es nur wegen des allzuvertrauten Klangs des Instruments von Godspeed-Violinistin Sophie Trudeau. Die Instrumentierung von "Lost Voices" ist der größte Gewinn dieser Platte: Cello, Harmonium, Glockenspiel, Marimba, Vibraphon, Klavier, Darbuka, Riq, Ekonting, Hörner, Sarod und ein Kontrabass sorgen für soviel Theatralik, Opulenz, Schwere und trotz vereinzelt aufblitzender Parallelen zu den genannten Kapellen auch für eine Einzigartigkeit, dass mir das Abkanzeln des bewährten Strickmusters dieser Musik, diesem alten Spiel mit der Laut/Leise-Dynamik, dem behutsamen und minutenlangen Aufbau und der Grandezza gar nicht in den Sinn kommt.
Ein herausragendes Kollektivwerk, das einem toten Genre wenn nicht unbedingt neues Leben einhaucht, ihm dafür aber eine schöne Blutauffrischung verpasst. Wer hätte alleine das noch für möglich gehalten?
Das ist die Platte, die ich mir an Stelle der letzten Enttäuschung von Bonobo ("The North Border") gewünscht hätte. "Portraits" der beiden Engländer Chris Davids und Liam Ivory fischt stilistisch in durchaus ähnlichen Gewässern wie Simon Green: Lockere, nicht zu toughe Beats, eine sommerfrische Downbeat-Ästhetik in der Soundauswahl, soulig-laszive Gesangsstimmen - Musik für den Instagram-Filter "Hazy" und für die Generation der an Biermischgetränken nippenden Elektro-Indie-Gemeinde in Karohemden von H&M.
Zugegeben, das klingt mehr als nur eine Spur despiktierlich, aber immerhin habe ich auch zwei Karohemden von H&M und die Szenephysiker unter meinen Lesern wissen: minus mal minus ergibt plus. "Portraits" ist ein wunderbar stimmiges Sommeralbum zum in die Sonne blinzeln, mit eingängigen Pianomelodien, perfekt aus- und einbalancierten Stimmen wie beispielsweise Holly Walker in "Steal" oder auch Pedestrian in "The Clown", dazu einige echte Hits für den herzhaften Biss in eine saftige Limette - "Rituals" und das swingende "Home" machten mir meinen Sommer so richtig schön ölig, schwitzig und nackig, und als ich die Scheiben für die diesjährige Liste auswählte, musste ich gar nicht in den Untiefen der Sammlung herumwühlen: "Portraits" hielt sich bis in den Dezember wacker im Stapel neben dem Plattenspieler.
Prima "Songwriting" (Lena Meyer-Landruth) , prima "Fokus" (Jabadahat), prima "Stimmung" (Sven Väth).
Vor einigen Jahren erfreute sich der Blog Rezirezen - ein noch immer anerkennendes Nicken in Richtung Berlin - großer Beliebtheit bei Herrn Dreikommaviernull. Rezirezen widmete sich den schlimmsten Geschmacklosigkeiten der von der Plattentests.de-Redaktion verfassten Plattenkritiken und entblößte die stilistischen, sagenwiresmalhöflich: Unzulänglichkeiten von legendären Sahnesteifschreibern wie Armin Linder und Oliver "Das" Ding auf köstlich-amüsante Weise. Wenig später kamen auch noch die Reviews von der gerechterweise seit knapp sechs Jahren auf der virtuellen Müllhalde vor sich hingammelnden Popcultures.de-Redaktion an die Reihe und also Rezirezen vor die Bloggerflinte: das war sehr gewitzt und charmant geschrieben, und wer sich nicht so irre ernst nahm, konnte selbst als betroffener Autor darüber lachen - nur lachte eben keiner von ihnen. Was immer noch mehr über ebenjene als über Rezirezen aussagt.
Rezirezen hätte mittlerweile mit der alten Tante Spex seine helle Freude. Vielleicht. Über Ms.John Sodas neues Album "Loom" schreibt Christoph "wie Hose" Jacke:
Gegen eine Adiaphorisierung, also Entmoralisierung, im Sinne des Soziologen Zygmunt Bauman. Oder auch gegen den etwas weniger bedrohlichen Verlust einer Utopien offerierenden Popmoderne im Sinne des Journalisten und Zeitdiagnostikers Mark Fisher.
Oder eben gegen Kochlöffel aus Eis oder Hirsebrei mit heißer Himbeerkacke, jedenfalls: wer Rezensionen ohne eine den Tisch anhebende Erektion verfasst, werfe den ersten Stein, aber ich würde den Herrn Zeitdiagnostiker gerne mal fragen, wie weit das Hirn auf halb acht gedreht werden kann, bis das Ei im Kopf wachsweich gegart ist.
Ich habe mich auch ohne Journalisten, Soziologen und Eierkocher sehr über "Loom" gefreut, immerhin das erste Album des Duos Stefanie Böhm und Micha Acher seit über neun Jahren. Seit 2006 gibt es immer diesen einen Moment in einem Jahr, an dem ich die damals erschienene Platte "Notes And The Like" aus dem Regal ziehe und sie für ein paar Tage, manchmal sogar Wochen, im CD-Player oder auf dem Plattenteller lasse. Es ist dann meistens Herbst oder Winter, und Ms.John Sodas Sucht nach den schönsten Harmonien, dem wolligsten Einkuschelfiepen, den heilenden Farben im grauen Netz und den bittersüßesten Texten ist in den dunklen und kurzen Tagen ein großer Trost. Auch für "Loom" heißt es, melancholisch am heißen Kakao zu nippen - und dennoch fühlt es sich falsch an, nur das große Kuscheln auszurufen: ihre Musik ist vor allem harmonisch komplexer gestrickt, als es auf das erste Hören erscheint und wirkt manchmal gar seltsam unwirklich und entrückt.
Wenn in den letzten Wochen am Abend eines diskussionswürdigen Arbeitstages der innere Ruf aus der Rumpelkammer der Seele unüberhörbar wurde, das Hirn möge sich doch bitte mal kurz ausklinken und ein Mini-Reset durchführen, dann waren diese angenehm kurzweiligen und wohltemperierten 35 Minuten "Loom" dieses wunderbaren Duos wie eine Therapie gegen den Wahnsinn.
Ich hab's mir anders überlegt, wir lesen uns doch nochmal in diesem Jahr. Keine große Sache, bitte gehen sie weiter, in ein paar Minuten jedenfalls, denn und aber: es gibt noch eine Kleinigkeit anzuschauen, because it's really freekin' funny.
Nachdem Jon Stewart den Vorsitz seiner "The Daily Show" vor wenigen Monaten an Trevor Noah abgab und die Sendung damit, zumindest in meinem Buch, sehr eindeutig gelitten hat (vielleicht brauchen sowohl mein Köpfchen als auch Noah und seine Redaktion auch einfach nur noch ein bisschen Zeit), bleiben mir aktuell nur noch John Olivers "Last Week Tonight" und Bill Mahers "Real Time" übrig, um auf die Gesellschaft und Politik auf der anderen Seite des großen Teichs zu blicken. Ein paar alte Videos und Gassenhauer des brillianten George Carlin sind auch immer mal wieder dabei, um das Verständnis zu erweitern, Aktualität kann hier aber nicht eingefordert werden - Carlin starb im Jahr 2008.
"Wir Deutschen können sowas nicht." (Harald Schmidt, 1995)
Harald meinte in seinem Kabarettprogramm im Düsseldorfer Kommödchen damals zwar die Verfilmung von klassisch-amerikanischer Screwball Comedy, würde vermutlich heute aber dasselbe zum Format einer politisch-satirischen Talkshow (wie Mahers "Real Time") oder eines satirisch-politischen Wochenrückblicks (wie Olivers "Last Week Tonight") sagen - was er strenggenommen auch schon tat: die "Heute-Show" im zweiten deutschen Staatsfernsehen mit Moderator Oliver Welke bezeichnete Schmidt als "volkstümliche Unterhaltung", weil sie lediglich vorgefertigte Meinungen bestätige.
"Es ist immer eigentlich zu Ende, wenn der eigene Sender sich das auf die Fahne heftet:"Guck mal, was wir uns trauen." - Da wird man also praktisch zu Tode umarmt." (Schmidt, 2014)
Ich halte es derweil mit Hans Mentz und seiner "Humorkritik" zur "The Daily Show": es sei nicht absehbar, dass in Deutschland ähnliche Formate wie in den USA möglich sein werden - aber ab 2019 könnte Jan Böhmermann damit beginnen.
Der konsequenteste Akteur der zuletzt stark ramponierten US-Late-Night-Sendungen ist in meinen Augen Bill Maher (hier und hier bereits belobhudelt). Maher ist aggressiv und polemisch, hat ein Ego in der Größe des verdammten Universums, nimmt sich selbst und seine Themen sehr ernst und hört sich selbst gerne reden - nicht die besten Kombinationen und nicht die besten Kopfnoten, zugegeben, aber ich finde ihn erstens sehr lustig und unterhaltsam und zweitens ist er vielleicht der einzige Fernsehstar, der in einer zu gleichen Teilen tabulosen und konservativen Medienlandschaft derart die große Klappe aufreißt - und der es auch kann; mittlerweile scheint es ihm auch wirklich scheißegal zu sein, bei wem er sich die nächsten Anfeindungen und Morddrohungen abholt. Trotzdem sitzt da immer noch ein Intellektueller, der sich in Rage redet und Mittelfinger und Fuck You's an Talkgäste, Publikum und Politiker verteilt: Maher ist selten plump, dafür immer durchdacht, sehr oft im Doppelboden, dabei aber immer sehr konkret, sehr aufrichtig. Und selbst wenn ich mit vielen seiner Ansichten nicht immer und grundlegend übereinstimme, beispielsweise sieht er Edward Snowden bedeutend kritischer, als ich es tue, ist er immer noch, und ich wiederhole mich: verdammt lustig.
Mitte des Jahres hatte Maher einen sehr erhellenden Clip in seiner New Rules-Rubrik, in dem es darum ging, wie die liberale Elite Amerikas aus Funk und Fernsehen mit Religion umgehe, und das Ergebnis war etwas überraschend: sie tut es gar nicht. Maher inszeniert sich geschickt als den einzigen Medientypen der USA, der sich als offener Atheist vor ein Millionenpublikum traut und sich gegen das Prinzip der Religion ausspricht. Das ist mein Bill Maher-Lieblingsclip aus diesem Jahr (und ja, ich habe alle anderen gesehen, keine Bange) und den will ich zu Silvester noch schnell mit Euch teilen.
Am Tag, als Lemmy Kramer, Quatsch: Kilmister starb, einen Rückblick auf das abgelaufene Jahr zu schreiben, ist eine undankbare Aufgabe. Zum einen könnte ich gerade dem Internet auf immer und ewig ein leises Adieu hinhauchen, um es danach mit all seiner breitbeinigen und schmalhirnigen Themenhopper-Wannabes in die Luft zu jagen, die zwischen "Eben gerade gekackt, Hurra!" bis "OH MANN, DER ROCKNROLL IST GESTORBEN! #RIP #LEMMY!" gerade mal zwei Blätter Klopapier legen können.
Zum anderen ist's dann schon auch die eigene Indifferenz, die mich so ein bisschen piesakt, in doppelter Hinsicht. Motörhead gehören seit Ewigkeiten zu meinem Leben, sie kamen zeitlich möglicherweise nur ganz knapp hinter Iron Maiden - und waren damit praktisch seit 1986 immer "da". Ich hörte vor allem in meinen jungen Jahren, und bis der Grunge meine Hormone neu einstellte, sehr regelmäßig ihre Platten, aber sie waren nie in der Liste meiner Lieblingsbands, eigentlich nicht mal in der Nähe. Es ist in diesem Zusammenhang merkwürdig, dass sich ausgerechnet ein ganz besonderer, wenn auch im Grunde völlig irrelevanter Moment bis heute in mein Gedächtnis gebrannt hat, und weil er, der Moment, so irrelevant ist, teile ich ihn gerne mit meinen Lesern, die natürlich wie diktiert und auf die Eins gespielt auch im mittlerweile fast vergangenen Jahr die besten Leser dieses so wunderbaren Internets sind und also waren: Herr Dreikommaviernull war lange Jahre, siebzehn, um genau zu sein, Roll- und Eiskunstläufer, und während ich nicht sicher bin, ob ich das hier i.S.v. "HIER" schon mal erwähnte, ist Zeit für die Feststellung, dass man es mir heute dank der trägen Masse rund um die Wohlstandsplauze nicht mehr so richtig ansieht, aber als ich mich im Jahr 1987 in der Berliner Eissporthalle in Wedding für meinen Kürvortrag (bei 39°C Fieber, Danke Mama!) mit einem Spaziergang durch die Halle mental vorbereitete, hatte ich tatsächlich das "Iron Fist"-Album von Motörhead im Walkman. Für die Generation der nach 1992 geborenen Leser: ein Walkman war ein Abspielger....ach, googelt die Scheiße doch selbst.
Und jetzt die andere Seite der doppelten Hinsicht: Ich empfinde Lemmys Tod nicht als außerordentlich bedrückend, was man mir bitt'schön nicht als Pietätlosigkeit misinterpretieren soll. Er hat's eben geschafft und ich gönne ihm wirklich seine verdiente Ruhe. Als sich Pete Doherty von den Libertines/Babyshambles die Innenseite seines Körpers mit Crack, Kokain, Alkohol und Heroin tapezierte und erschütternde Auftritte absolvierte, bei denen er kaum gerade stehen, geschweige denn -singen konnte, waren die "VOYEURISMUS!" und "DAS IST EIN HILFERUF!"-Schreie im Rahmen der Berichterstattung laut zu hören - wenn Lemmy, einst ein Baum von einem Mann, dank drei Litern Jackie-Cola pro Tag und einer seit 40 Jahren schön herangezüchteten Speed-Abhängigkeit mittlerweile als gebrechlicher Tattergreis auf die Bühne getragen werden muss, war's Kult und Kult und außerdem: Kult. "Geiler Typ, so will ich auch mal leben" (Ulf, 43, Hannover Rock Boys) beziehungsweise eben sterben. Ich selbst würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass die Aura dieser legendären Chaotentruppe manchmal eine sehr große Anziehungskraft hatte; Lemmys Autobiografie "White Line Fever" habe ich auch gleich mehrfach gelesen, aber ob das immer alles nur ein großer Spaß, oder am Ende des Tages nur Verklärung und Tragik war - wer will's beurteilen? Die Antwort ist simpel: Ich. Hier, jetzt und heute, mit einer rhetorischen Frage. Entzündet die Fackeln.
Ich habe jedenfalls heute Abend "No Sleep 'Til Hammersmith" aus dem Jahr 1981 auf den Plattenteller gelegt, um mich an Lemmy zu erinnern. Und es war gut. Und es ist gut, wie es ist.
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2015 war darüber hinaus an musikalischer Front erneut ein großer Spaß - was die Auswahl der nachkommenden besten 20 Alben des Jahres zu einem bösen Drama werden ließ. Was auch immer wieder die alte Leier ist, je sais, mais non: DIESES MAL war's WIRKLICH UNERTRÄGLICH und die SCHMERZEN, die ein oder andere Platte draußen VOR DER TÜR, IM KALTEN Großstadtdschungel Sossenheims (SOSSENHEIM!) stehen zu lassen, waren größer ALS "sonst". Immerhin war die Top5 schon ab Juni in Stein gemeißelt. Muss man auch erstmal schaffen.
Außerdem auffällig waren die sich immer schneller ablösenden Phasen, in denen ich nur auf ein ganz besonderes Genre Lust hatte und daneben fast keine andere Musik akzeptierte. Ganz finster, zumindest stilistisch, war es im August/September mit der hier freimütig dokumentierten Sleaze und Hair Metal-Phase, worauf für drei Wochen lediglich ein sanftes Rauschen aus Klang folgte, bevor ich im November überraschenderweise die Doom Metaller von Solitude Aeturnus wiederentdeckte. Dazwischen je zwei Wochen Jazz und Indiegeplucker. Das sind Mischungen, "ich sag' es Ihnen." (Hildebrandt)
Das erste Halbjahr, ganz besonders der Frühling und der brüllend heiße Sommer, stand dagegen im Zeichen von Soul, Hip Hop und elektronischer Musik - es haben sich tatsächlich einige Alben herauskristallisiert, die auch über das Jahr 2015 hinweg und trotz des ubiquitären Zuschiss mit Musik, Medien und Meinungen für mich wichtig sein werden. Die besten 20 Platten aus dieser Gruppe werden hier in den kommenden Tagen vorgestellt. Aus Tradition. Fuck Tradition.
Privat stand vor allem die zweite Jahreshälfte im Zeichen von großen Veränderungen - es betraf zwar "nur" die bis dato ungeliebte Arbeitswelt, aber ganz ehrlich: der damit einhergehende Stress reicht mir für die nächsten fünf Jahre. Ich wechselte also den Arbeitgeber und entfernte mich freiwillig aus der hübsch eingerichteten Komfortzone aus Homeoffice, netten Kollegen und ziemlich sattelfesten Bewertungen in eine weitgehend unerschlossene und sehr herausfordernde Umgebung. Wer mich nicht erst seit diesem Text kennt weiß, was das mit mir und vor allem meinem Angstzentrum anstellt, aber es hat jetzt, nach knapp drei Monaten, den sehr deutlichen Anschein, als habe ich die richtige Entscheidung getroffen.
Nichtsdestotrotz hat all das zwei signifikante Auswirkungen: Januar bis Juni sind ein großes, tumbes, schwarzes Loch, das auch nach konzentriertem Nachdenken nicht bedeutend heller werden will, Juli bis Dezember ist ein wirrer und verwirrender Hagelschauer aus Angst und Aufbruch, Verzweiflung und Euphorie. Und auch wenn die Zeit so rast wie noch niemals zuvor, muss ich dringend ein paar Sachen im Auge behalten: die Rockstarkarriere mit Blank When Zero, die Kopfhörerabende vor dem Plattenspieler (beziehungsweise vor meinen beiden, tollen, ehefräulichen Weihnachtsgeschenken aus dem Hause Nubert) und den Durchzug im Kopf.
Um es mit Peter Lustig zu sagen: Abschalten. Von mir aus alles und immer öfter.
Im Sommer musste an diesem einen Tag die Sonne wohl besonders stark über dem Stuttgart Kessel brennen. "Chinese Democracy" stand für 20 Euro im Second Hand-Spezialfachgeschaft für Tonträger herum, hatte einen riesigen Knick in der oberen rechten Ecke und ein kleiner Teil des Vinylrands war auch noch aus der ersten Platte herausgebrochen. Mein Hirn, vermutlich längst zu einem 180°C Umluftofen mutiert, gab mir den Feilschbefehl, ich handelte den Tresenmann noch auf 15 Schleifen runter - und stolzierte wie Pepé le Pew zurück ins Hotel und zuvor mit dem skeptisch dreinblickenden Herrn Jens auf die Terrasse eines Stuttgarter Restaurants. Das war kein Schnäppchen, die Platte gibt es mit ein wenig Glück zum selben Preis noch neu und ungeöffnet im Weltnetz. Aber das Weltnetz ist nicht der Plattenladen, und im Weltnetz scheint die Sonne auch nicht so stark, dass sie einem das Dach verwellt.
Das alles wird noch ein Eckchen absurder, wenn ich jetzt noch bekenne, die CD-Version des Albums, die ich natürlich kurz nach der Veröffentlichung im Winter 2008 hektisch kaufte, in der großen CD-Verramschung schon 10 Monate später wieder für den Preis von ganzen vier Euro aus dem Regal schmiss. Ich behaupte nicht, dass ich noch alle Tassen im Schrank habe, aber ich kann es erklären.
Vielleicht.
"Chinese Democracy" gehört zu meiner Generation. Genau genommen gehört das Warten auf "Chinese Democracy" zu meiner Generation. Und deren Säulen waren eben nicht nur die heiligen drei Könige "Nevermind", "Ten" und "Dirt", selbst durch den Heroinschleier des Grunge erkannten wir auch noch die einst kräftigen, jetzt dank des rauhen Seattle Klimas etwas ramponierten Pfeiler "Appetite For Destruction" und "Use Your Illusion". Und die von Jack Daniels, Marlboro und Haarspray benebelten Typen, die zu "November Rain" die ein oder andere Träne verdrückten und sich zu "Welcome To The Jungle" an Kronleuchtern über die ausgelassen feiernden Partygäste schwangen, fieberten immerhin in den ersten Jahren nach der vorläufig letzten Veröffentlichung "The Spaghetti Incident?" trotz der abgewanderten Aushängeschilder wie Slash, Izzy Stradlin und Duff McKagan dieser Platte entgegen, knietief und mitten im Alternative- und New Metal-Schlamm stehend, leicht orientierungslos. In der zweiten Hälfte der Neunziger kippte dann die Stimmung: immer wieder angekündigt, immer wieder mit festen Releaseterminen versehen - immer wieder verschoben. Und verschoben. Und wieder verschoben. "Chinese Democracy" wurde zum Running-Gag. Irgendwie spürten wir auch, dass die Zeit für Guns N' Roses vorbei war, denn die neuen Helden hatten andere Namen und andere Kleider. Und sie machten andere Musik, ganz andere Musik. Axl bekommt bestimmt eh nichts mehr auf die Kette, ganz alleine auf weiter Flur und ohne seine alten Sidekicks sowieso nicht. Völlig durch, der Typ. Diese Drogen. Dieser Alkohol. Schizophren soll er ja auch sein. Oder bipolar. Irgendwas im Kopf halt. Das wird nix mehr. Wir müssen weiterziehen.
Und irgendwann waren Guns N'Roses, war "Chinese Democracy", war Axl Rose vergessen. Wer spielt da eigentlich gerade? Ist doch egal! Gibt's die überhaupt noch? Ist doch egal! Die haben ja neulich ein großes Festival gespielt. Echt? Ist doch egal. Und es stimmt, irgendwann war es wirklich egal. Weil man eben tatsächlich weitergezogen war. "Chinese Democracy" nützte die Indifferenz nichts. Längst zu einem Mythos geworden, einem Sinnbild für gescheiterte, an Drogen und Alkohol zerbrochene Rocker, für verblasste und verklärte Erinnerungen, für Größenwahn und Verschwendung. Und natürlich für eine enttäuschte Generation von Rockfans, die mit dem diffusen Gefühl kämpfen musste, auf eine tragische Art betrogen worden zu sein. Das kann in einem Umfeld, in dem der mächtige weiße Ritter des Rock regiert und das auf einer zwar inszenierten, aber doch aufrichtig vorausgesetzten Ehrlichkeit und Loyalität aufbaut, nur in die Hose gehen.
Als "Chinese Democracy" tatsächlich nach über etwa fünfzehn Jahren Produktionszeit und geschätzten Kosten in Höhe von über dreizehn Millionen Dollar im November 2008 erschien, hagelte es Schimpf und Schande seitens der Presse und der Fans. Ich habe es in meinen 30 Jahren als Musikbesessener noch nie erlebt, dass eine Platte eine so umfassende, fast weltweite Ablehnung erfuhr, die sich in der Schnittmenge von "Das wird bestimmt ganz grauenvoll schlecht." und dem ganz tief im Unterbewusstsein vergrabenen Wunsch nach der Rettung des Rock darstellte. Aber bekam "Chinese Democracy" jemals wirklich eine Chance? Ich glaube nein. Diese Platte hätte nicht gewinnen können; es hätte vielleicht niemals den richtigen Zeitpunkt der Veröffentlichung gegeben. Selbst in den neunziger Jahren war es eigentlich schon zu spät. Ich habe mit meinem neuerlichen Kauf im Sommer 2015 den wenigstens für mich richtigen Zeitpunkt erwischt, denn ich hatte immer das Gefühl, dass, haben sich die Aufregung und die Enttäuschung gelegt, haben sich die Wunden wieder geschlossen, mehr hinter "Chinese Democracy" steckt. Dass es etwas zu Entdecken gibt. Dass das Album kolossal unterbewertet ist. Und tatsächlich: man hört mit sieben Jahren Abstand klarer. Nebenbei darf man sich auch mal schnell klar machen, wie lange sieben Jahre sind: der erste offizielle Albumstream wurde auf der - Achtung, aufgepasst: MYSPACE Seite der Band freigeschaltet.
MySpace. Laugh to come.
Ich war indes auch schon 2008 nicht so irre enttäuscht wie manch anderer. Es war eben "Uff, Rockmusik", noch dazu verpackt in einem überlangen Album - und gerade in meiner, sagen wir mal: experimentellen Phase im Jahr 2008 riss mich sowas wirklich nicht vom Hocker. Musikalisch hatte ich bis dato wahrlich Schlimmeres gehört; im Falle von "Chinese Democracy" und der seit Jahren damit in Verbindung gebrachten Schreckgespenster wie "Industrial Rock" und "Alternative Rock" hatte ich sogar weitaus Schlimmeres erwartet. Die Band schrieb in den jahrelangen Sessions insgesamt über 60 Songs für drei geplante Alben und nahm die für "Chinese Democracy" ausgewählten Tracks bis zu sechs Mal neu auf. Die Liste von Produzenten, die über die Jahre verteilt mal auf dem Mischpult-Thron saßen, ist eindrucksvoll lang und enthält unter anderen Namen wie Roy Thomas Baker, Bob Ezrin, Andy Wallace, Youth, Moby, Mike Clink und Tim Palmer, während die Aufzählung der beteiligten Engineers hingegen gar das Format dieses Blogs sprengen würde. Man besuchte für die Aufnahmen ganze 15 Studios und buchte Gastmusiker wie Dave Navarro, Sebastian Bach und Brian May, der 1999 ein Solo für "Catcher In The Rye" einspielte, das sich letzten Endes nichtmal auf der Platte befindet. Gerüchten zufolge wurden bis zu 250.000 Dollar pro Monat für Equipment verprasst, und Geffen entfernte das Album 2005 gar komplett von ihrem Veröffentlichungsplan:
"Having exceeded all budgeted and approved recording costs by millions of dollars, it is Mr. Rose's obligation to fund and complete the album, not Geffen's."
Bassist Tommy Stinson hob in Bezug auf die lange Wartezeit in einigen Interviews Axl Rose' demokratischen Anspruch für das Songwriting hervor:
"It's a lengthy process because you have to get eight people to basically write a song together that everyone likes.
Und ein beteiligter Engineer sagte zu Rose' Perfektionismus:
"Axl wanted to make the best record that had ever been made. It's an impossible task. You could go on infinitely, which is what they've done."
Das Image von Axl Rose, er sei ein peinlicher Redneck, ein kaputter Diktator, ein Faulpelz, der die letzten Jahre mehr mit Drogen und Frauen beschäftigt war als mit Musik, muss nach der Beschäftigung mit den Geschichten, die diese Platte umranken, sicherlich neu gezeichnet werden. Schwieriger Typ, labil, größenwahnsinnig, zu Kurzschlusshandlungen neigend? Kann sein. Ein musikbesessener, sensibler Künstler, ein manischer Perfektionist mit großer kreativer Kraft und einer genauen Vorstellung davon, wie seine Band und seine Musik klingen soll? Ganz bestimmt. Dafür holte sich Rose über die Jahre die creme de la creme in seine Band. Rein musikalisch rauchen die neuen Guns N' Roses alleine mit den Gitarristen Bumblefoot und Buckethead einen gewissen Saul Hudson in der Pfeife, ganz besonders Buckethead spielt einige geradezu umwerfende Soli auf dieser Platte, zum Beispiel auf "There Was A Time", nachzuhören auf dieser Instrumentalversion:
Die größte Überraschung auf einem über weite Strecken brilliant komponierten Album ist allerdings die Zeitlosigkeit des Songmaterials und damit war nun wirklich nicht zu rechnen: geschrieben und aufgenommen vor der Jahrtausendwende, lässt sich bemerkenswert wenig Patina finden. Selbst die elektronischen Spielereien, die sowieso deutlich zurückhaltender eingesetzt wurden als man es durch die Berichterstattung im Vorfeld erwarten konnte (die allerdings auch nur die durch Leaks veröffentlichten Songs kommentierte, die, wir lernten es einige Zeilen weiter oben, zig Mal neu arrangiert und aufgenommen wurden und sich somit durch mehrere Stadien durcharmorphelten), haben zwar noch einen Hauch der 90er Jahre im Atem, sind aber streng genommen so gut eingepasst und bearbeitet worden, dass wir weit davon entfernt sind, die Songs auf dieser Basis zeitlich einordnen zu können. Das ist keine altbacken klingende Platte. Und es ist auch keine hypermodern klingende Platte - diese eine Handvoll Gitarrenriffs, die einen ganz dezenten Industrial Rock-Charakter in der DNA haben, wobei wir auch gerne darüber diskutieren können, ob Industrial Rock 2008 noch so schrecklich "modern" war, sind vernachlässigbar und auch hier: in ein durchaus klassisches Rockkonzept eingesetzt worden. Alle seitens einer auflagen- und sensationsgeilen Presse geschriebenen Übertreibungen in diese Richtung sind kompletter, unseriöser, quatschbekleckerter Bullshit.
Ich kann nicht sagen, dass ich Fan von Guns N'Roses bin. Die Band ist heute mehr Marke als Musik, wirkt live weniger kraftvoll als wie die am Nasenring durch die Manege gezogene und fast stoisch agierende Sensation (mit den drei Köpfen), zieht damit dementsprechendes Prosecco-Paradise City-Publikum an - und dass einer wie Rose diesen Rock'n'Roll-Krempel immer noch mit macht, mit Cowboyhut und -stiefeln, zerrissenen Jeans, Sonnenbrille und Beer'n'Barbecue Wampe, nimmt manchmal durchaus tragische Züge an. Dass man vielleicht trotzdem mit dem ein oder anderen Vorurteil gegenüber der Person Axl Rose auf der einen, und ganz bestimmt gegenüber dieser Platte auf der anderen Seite aufräumen kann, soll, darf und muss, ist in meinem Buch völlig legitim.
Ich mag diese Platte. Sie ist gut. Sieht Slash übrigens ähnlich. Also Haken dran.
"It's a really good record. It's very different from what the original Guns N' Roses sounded like, but it's a great statement by Axl... It's a record that the original Guns N' Roses could never possibly make. And at the same time it just shows you how brilliant Axl is." (Slash)
Vor drei Jahren schaffte es das unter dem Projektnamen Orcas veröffentlichte Debut von Thomas Meluch aka Benoît Pioulard und Rafael Anton Irrisari bis auf Platz 4 meiner Jahresbestenliste - ein verbritzelt-verträumter Ambient-Pop mit einer Stimme, die entfernt Erinnerungen an die Shoegaze, Pop und Postpunk Helden der 80er und frühen 90er Jahre ins Gedächtnis zauberte und musikalisch große Melodieentwürfe fast schon klaustrophobischen Intimitäten zur Seite stellte. 2014 erschien "Yearling", und unter normalen Umständen hätte ich mir die Platte ganz bestimmt bereits wenige Tage nach der Veröffentlichung ins Regal genagelt - aber offenbar waren die Umstände nicht normal. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich glaube, "Yearling" machte mich nach den ersten Höreindrücken nicht sonderlich wuschig. Vielleicht ist mir aber auch nur wieder im Moment des Testhörens eine Laus über die Leber gelaufen. Oder ich hatte kurz zuvor einen Tweet von Erika Steinbach gelesen und der Tag war damit sowieso schon im Totalarsch.
Durch den sehr ergiebigen Winter Sale beim Berliner Mailorder A Number Of Small Things, wurde ich wieder auf "Yearling" aufmerksam, riskierte zur Sicherheit nochmal ein Öhrchen - und war umgehend verzückt. Werde ich nun doch wirklich alt?
"Yearling" zeigt sich im Vergleich zum Debut leicht verändert. Das Duo holte sich zum einen partielle externe Unterstützung von Efterklang's Martyn Heyne (Gitarre und Piano) und Telekinesis' Michael Lerner (Schlagzeug), zum anderen haben die beiden Köpfe Meluch und Irrisari die Extreme breiter ausgerollt: Die Pop-Arrangements sind im Sinne "Spirit Of Eden"'scher Talk Talk klarer strukturiert, die Melodien eingängiger und selbstbewusster. Herausragend in dieser Hinsicht sind beispielsweise "Half Light" und "An Absolute", in deren Harmonien man sich bei aller Cheesiness bis zum Haaransatz eingraben möchte. Die turmhohen Ambient-Eisbrecher Irrisaris hingegen sind konzentrierter und wirken ernsthafter, relevanter als auf dem Debut. Alleine das fast neunminütige "Tell" setzt als offiziellen Abschluss ein dickes Ausrufezeichen hinter seine Arbeit auf "Yearling", und die beiden Bonustracks "Flutter" und "Point Sur" existieren nur, um mir damit Recht zu geben.
Ich weiß nicht, was letztes Jahr genau mit mir los war - oder, um es herumzudrehen: was jetzt mit mir los ist. Vielleicht ist's die vorweihnachtliche Besinnlichkeit und die damit verbundene Aussicht auf ein paar ruhige Tage mit angezogener Handbremse, um dem Stress, der so ein Jobwechsel mit sich bringt, zu entkommen. Ich weiß jetzt schon, dass "Yearling" sich in dieser Zeit oft auf dem Plattenteller drehen wird.
Ich darf einen sehr schönen Nachschlag in Sachen Colleen präsentieren.
Die Website She Does Podacst, betrieben von den beiden Dokumentarfilmerinnen Elaine Sheldon und Sarah Ginsburg, kümmert sich in den produzierten Podcasts um kreative Köpfe aus der Medienwelt: Musikerinnen, Schauspielerinnen, Autorinnen, Künstlerinnen.
Each episode centers around an intimate conversation yet digs deeper into each woman's background, philosophy and process through artful audio documentaries soundtracked by music made by women.
In der aktuellen Ausgabe haben die beiden einen interessanten und einfach großartigen Bericht über Colleen, ihre Arbeit, ihre derzeitige Heimatstadt, und ihre Musik zur Verfügung gestellt.
Ob es "Captain Of None" in meine Jahresbestenliste schafft, ist noch nicht entschieden - was auch gleichzeitiger Hinweis auf die mich jedes Jahr aufs Neue komplett überfordernde Herausforderung ist, dieses Bündel toller Musik am Ende des Jahres zu sortieren und zu bewerten. Und an dieser Herausforderung werde ich auch 2015, und damit wie in den vorausgegangenen Jahren bis spät in den Dezember hinein, kläglich scheitern. Aber immerhin habe ich damit eine Aufgabe, "etwas Eigenes" (Loriot) und bin "von der Straße weg" (Mutti).
Colleen ist das Pseudonym von Cecile Schott, einer aktuell im spanischen San Sebastian lebenden französischen Multiinstrumentalistin, die mit ihrerViola da gamba und ihrer Stimme ein mystisches und fremdartig wirkendes Album zusammengebastelt hat, das sich stilistisch weit in Richtung Einzigartigkeit lehnt. Irgendwo zwischen Avantgarde und Popmusik, mal offensichtlich durchkomponiert, mal vogelfrei experimentierend, im Grunde nicht zu dechiffrierende Spurenelemente von Dub, mediterraner Kultur und sogar Krautrock aufgreifend. Schotts Stimme würde der Engländer ohne mit dem Guinnessfass zu zucken als "haunting" beschreiben, und er läge damit ausnahmsweise goldrichtig.
Ich habe "Captain Of None" gerade in den vergangenen Tagen ein ums andere Mal auf den Plattenteller gelegt. Zum sonntäglichen und mehrere Stunden dauernden Frühstück bei grauem Novemberschleier vor der Tür war es eine bemerkenswert stimmige Erfahrung und ein passender Soundtrack. Hat sicherlich ein paar Plätze aufgeholt.
Eine merkwürdig ungreifbare, aber dafür hochinteressante Musik. Ist leider selten geworden auf Thrill Jockey.
Wer mich länger als dreikommaviernull Tage kennt, wird wissen, dass der feine Herr Blogger in so mancher Hinsicht einen an der Ratsche hat, und ich möchte sogleich beruhigen: wir gehen nicht alle Punkte einzeln durch, denn dafür reicht die Zeit (dieses Planeten) nicht aus - ein Blick in meinen Badezimmerschrank genügt, um sich verstört die Murmel zu kneten. Ich liebe Parfum und alles, was damit zu tun hat, weil das total "punk" (M.Cyrus) ist und meinen kritischen und subversiven Spirit optimal widerspiegelt. Und weil es natürlich ein dekadenter Quadratscheiß ist. It's a satanic scent thing you wouldn't understand. Period!!!einself
Ich habe natürlich, um die Angriffsfläche noch weiter zu vergrößern und weil's eh schon scheißegal ist, eine Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterkollektion: spritzig-grünes für den Frühling, ein bisschen mehr Tiefe mit Zitrus im Sommer, gräulich vor sich hin moderndes für den Herbst und süße, opulente Gewürzbomben für die Temperaturen unter 5°C und Schneefall. Nun ist's aber so: natürlich könnte ich ein frisch-feines Frühlingsnichts auch im Dezember verwenden. Oder ein tonnenschweres Nebelhorn aus Vanille, Patchouli und Leder (huch: nicht vegan!) bei 38°C im Schatten. Aber ich bin ja nicht bescheuert, beziehungsweise eben doch: es geht sich halt partout nicht aus. Ich fühle mich damit einfach nicht wohl; es ist, als würde man morgens nonchalant zur Bushaltestelle laufen und hätte vergessen, sich eine Hose anzuziehen. Oder man trägt eine Unterhose aus kratzender Wolle - was man auch und ganz besonders aus hygienischen Gründen viel öfter machen sollte. Und warum geht's hier die ganze Zeit um Hosen? Und um Parfum? Geht's denn immer nur ums Bumsen? Klare Antwort: log'n!
Bei Musik geht es mir ganz ähnlich, allerdings ist hier die emotionale Verbindung zum von der Novemberdepression geplagten Stammhirn eine transparentere, wenn nicht logischere: Zartbesaiteter und weichsemmeliger Indiepop mit Fistelstimme kommt mir in den hellen Zeiten des Sommers, in denen ich das Leben noch ein bisschen mehr liebe als sowieso schon, ganz bestimmt nur sehr selten auf den Plattenteller. Wenn es draußen aber schon um halb fünf dunkel ist, und der durch die engen Gassen Sossenheims gepeitschte Nieselregen zärtlich am Gehsteig festfriert, und die Kanne Jasmintee allem Schlechten und Verdorbenen dieser Welt als Schwert der Empathie und des verbrannten Gaumens entgegengehalten wird, während die Heizung ("WAS? DU MACHST DIE HEIZUNG SCHON AN? IM NOVEMBER? BONZENSPIESSER! PUNKROCK ALAAF!") verzweifelt versucht, die über der Wäscheleine hängende Katze zu trocknen ("WAS? DU TROCKNEST DEINE KATZE AUF DER WÄSCHELEINE? HAST DU KEINE MIKROWELLE, DU REAKTIONÄRER SPASTI?"), dann passt sich der ausgewählte Soundtrack nach einem intellektuell erfüllenden Arbeitstag dem pathosgebleichten, melancholischen Blick auf die Netflix-Auswahl an. Und dann kann man auch mal zartbesaiteten, weichsemmeligen Indiepop mit Fistelstimme hören. Und lieben.
Skallander kommen aus Neuseeland, bestehen aus Matthew Mitchell und Bevan Smith und ihr drittes Album erschien überraschenderweise auf Type Records - einem Label, das sich für gewöhnlich dem experimentellen Spektrum von Noise-Avantgardisten widmet. Skallanders Musik flutscht dagegen aus einem anderen Universum auf den Plattenteller: eine superweiche Samtflauschmusik aus akustischem Indiepop mit spätsommerlichen, in den Herbst hineinrutschenden Farbtönen - melancholisch und nachdenklich, dabei aber nicht dunkel, sondern tatsächlich eher sonnengereift. Ich könnt's im Juli nicht hören, aber vielleicht ist es die Erinnerung an laue Sommerabende mit Mojito, Mücken und Mumus, die mich im November zu einem sabbernden, willenlose Stück Kräutertofu macht. Manchmal, wie in "Time Is Only A Revolution" linsen aufgrund der Gesangsharmonien sogar die verfluchten Beatles durch milchig-angelaufene Fenster, was kein Problem ist, wenn du die Beatles nicht magst: selbst ich kann darüber hinweg sehen und sogar die Vorzüge goutieren.
Ich habe das Album übrigens blind gekauft, denn bei diesem wunderbaren Artwork musste ich einfach zugreifen. Und ich wusste: schlecht kann das nicht sein.
Hatte übrigens recht.
Und weil's gerade so schön passt, mein Parfumtip zu dieser Platte: Parfumerie Generale - Cozé
Im September 1999 begann ich eine Ausbildung zum Verlagskaufmann bei der Frankfurter Rundschau. Ich hatte fast arschlange Haare, die mal rot, blau oder grün waren, trug ausschließlich Shirts meiner Lieblingsbands mit halboffenen Karohemden und hielt Schröders SPD und Fischers Grüne tatsächlich für die politische Zukunft Deutschlands, wofür man mir heute "nach strengen Maßstäben" (Schäuble) noch eine reinhauen müsste, aber ich war jung, doof und hatte offenbar als logische Konsequenz eine rot-grüne Hirnwasserabsenkung. Jedenfalls: im selben Monat veröffentlichte der Frontmann der zwischenzeitlich aufgelösten Grungepioniere Soundgarden sein Solodebut. Ich kaufte es, weil ich am 3.6.1999 eine Frau kennenlernte, die Chris Cornell den Reißverschluss seiner superenganliegenden Jeans mit den Zähnen hätte aufmachen können, hätte man sie in seine Nähe gelassen. Vermutlich wäre Cornell auch einfach nur die Hose weggeflogen, hätten ihre Blicke ihn getroffen, und weil ich erstens so ein kleines bisschen spätpubertär eifersüchtig war und zweitens in ihre Jubelarien einstimmen wollte - weniger wegen seiner der Inhalt seiner Jeans, als wegen seiner, man sieht's mir nach: Musik - studierte ich "Euphoria Mourning" in den kommenden Wochen sehr eingehend.
Diese Frau, der trainierte Leser ahnt es, ist auf den heutigen Tag genau für sage und schreibe 13 Jahre mit dem Autor dieses Blogs verheiratet, und selbst wenn sie Cornell tatsächlich heute immer noch den Reißverschluss mit ihren Zähnen aufmachen wollen würde, und davon ist bei Gott oder sonstwem ziemlich sicher auszugehen, liebe ich sie noch immer. Und immer mehr.
Dass diese Platte eine ganz besondere Bedeutung für uns hat, ergibt sich aus der langen Odyssee, die wir hinter uns bringen mussten, bis wir uns am 6.12.1999 erstmals am Nürnberger Hauptbahnhof hochoffiziell in den Armen lagen; eine Odyssee, deren Verlauf schmerzhaft war und vor allem von großer Unsicherheit geprägt wurde, und die wir mit "Euphoria Mourning" als heilenden Soundtrack begingen. Unvergessen die trüb-verschwommenen Tage in den Büros der Rundschau, in deren Bürofluren ich tatsächlich zum ersten Mal mit IHR telefonierte, die Nervenzusammenbrüche, weil um mich herum alles zusammenbrach, die schlaflosen Nächte, die Zigaretten, der Alkohol, das Chaos in meinem Kopf. Ebenso unvergessen sind die durchgechatteten, durchgemailten und durchtelefonierten Nächte voller Liebe und Verzweiflung, in denen zwischen totaler Agonie und funkensprühender Euphorie jede Emotion ihren Platz fand. Und der herzzerreißend gesungene Titelsong im Hintergrund, der einerseits die schwache Hoffnung auf einen in ferner Zukunft auftauchenden Funken Licht versprach, andererseits natürlich auch bestens dazu geeignet war, sich in seinem Leid zu suhlen.
Seltsamerweise haben wir beide das Album schon länger nicht mehr gehört und erst kürzlich, als es erstmals auf Schallplatte erschien, kam es wieder, zeitlich durchaus angemessen, ins Bewusstsein zurück. Es ist auch 16 Jahre später noch eine beeindruckende Sammlung von intensiven und dabei sehr ungewöhnlich komponierten Songs.
Untrennbar mit der Vergangenheit verbunden. Untrennbar mit dem Leben verbunden. Untrennbar mit der Liebe verbunden.
Die Stone Temple Pilots hatten besonders zu Beginn ihrer Karriere keinen leichten Stand. Peal Jam, Nirvana, Soundgarden und Alice In Chains hatten das große Mainstreamfeld des Grunge bestellt, auf dem sich goldene Schallplatten im saloppen Vorbeigehen pflücken ließen, und als das Quartett aus San Diego 1992 mit ihrem Debut "Core" praktisch umgehenden großen Erfolg hatte, war die Angriffsfläche der Journaille riesig: eine Imitation des Grunge, Epigonen, Trittbrettfahrer, substanzlose Kopisten. Die Fans ließen sich davon nicht abhalten, die Kapelle bis an die Spitze zu spülen - "Core" ist alleine in den USA über 8 Millionen Mal verkauft worden, der Nachfolger "Purple" schaffte es bis auf die Nummer 1 der US-amerikanischen Billboardcharts, die Singles "Plush" und "Creep" sind in jeder Lebensdiskografie der damaligen Generation einbetoniert. Insgesamt stehen über vierzig Millionen verkaufte Tonträger auf dem Deckel - und Erfolg begünstigt eben Neid. Vor allem in Deutschland waren viele Schreiber, gerade aus der traditionell bestens unsortierten metallischen Ecke, besonders schlau und attackierten die Band wo sie nur konnten. Was die Truppe natürlich gerechtermaßen einen feuchten Dreck interessierte, zumal in Amerika die größten Konzerthallen ausverkauft waren und die Kassen über mehrere Jahre hinweg sehr konstant und in süßesten Tönen klingelten. Ebenfalls gerechtermaßen.
Mich hat die Kritik gleichfalls nie interessiert - es war MEINE Zeit und die Stone Temple Piots begleiteten mich durch die erste Liebe, durch die daraus entstehenden großen Enttäuschungen, durch die Pubertät, in der das Chaos im Schädel regiert, durch die vermeintliche Rebellion. Durch durchgequatschte Nächte mit Freunden, die einem wichtig waren, die Discoabende in der Frankfurter Batschkapp, den ersten Rauchrausch. Die Besetzung des elterlichen Wohnzimmers, das Verschütten eines eigenhändig zusammen gemischten schwarzen Cocktails auf dem cremefarbenen Perserteppich von Mutti, der anschließende Lachkrampf von 12 Freunden. Die Stone Temple Pilots gehörten zu meinem Leben in den neunziger Jahren, in denen im Rückblick alles noch einfacher, unverbrauchter, naiver und unbeschwerter war. Wie eben praktisch alles im Rückblick immer einfacher, unverbrauchter, naiver und unbeschwerter erscheint - nur dass die gelebte und damit vergangene Realität immer eine andere war: gar nicht so hell und fröhlich, nur manchmal bis sogar überaus selten unbeschwert.
Dass es Musik über 20 Jahre nach dieser so bemerkenswerten und prägenden Zeit gelingt, mir das Gefühl einer Unbeschwertheit zurück in die 90qm Businesskasperhausen zurückzuballern, bekommt heute Abend einen bitteren Beigeschmack.
Scott Weiland, Sänger der Stone Temple Pilots und später der Frontmann von Velvet Revolver, ist am vergangenen Donnerstag gestorben. Und wie es schon bei den Heimgängen von Kurt und Layne war, geht damit auch ein Teil meiner Erinnerungen.
no label, no distro, no one in-between us. these will never be re-pressed or re-issued. there are no sound samples and no previews. i ask you to trust me, as i trust you. i hope we can return to music being a true and new experience.
the most involved, complete, and intense album i have ever made - over a two-year span, on two continents, this is, for me, the zenith of my ambient sound, and voice, to date.
(Brock van Wey)
Man mag das als betuliches, überambitioniertes, exklusivitätserigiertes Künstlergewäsch halten. Man kann andererseits die Aufrichtigkeit eines sensiblen und emotionalen Menschen bewundern.
Es ist wie beiLee Reed: die Guten sind die Verrückten. Dabei sind die Verrückten die Guten.
"Safety In A Number" läuft seit einer Woche auf Endlosschleife.