07.01.2016

2015 ° Platz 18




ESMERINE - LOST VOICES


Dass mich orchestraler Postrock im Jahr 2015 wirklich nochmal kriegt, ist so absurd wie eine Lebensmittelindustrie, die dem Proletariat eine nach dem Verlassen des Enddarms umgehend tiefgefrorene Verhöhnung von Würde und Anstand zurück in den Verdauungstrakt drückt, und dabei habe ich schon die de facto einzig relevante Postrock-Kapelle - Achtung, Spoiler-Alert! - und ihr neues Album mit dem lieb gemeinten Hinweis ignoriert, sich die 28 Schleifen dahin zu schieben where it smells funny; nicht mal mit Trauersemmelkloß im Hals, sondern selbstbewusst wie eine "Brez'n" (Polt), auch weil die Zeit für ihre zur Schau gestellte urbane Waldschratintellektualität womöglich in der postkapitalistischen Gesellschaft wieder en vogue sein wird, in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur ist sie längst von der Realität überholt, in der Pose festgefroren, die  erhobene Plastikfaust in die verpestete Luft gereckt. Von den Legionen uninspirierter Milchsemmelbands, die im Windschatten des Originals das Distortionpedal nicht mehr finden konnten, wollen wir gar nicht erst anfangen. Wer da immer noch den Schlüpper schwingt - da bekommt man ja fast Mitleid.

Esmerines drittes Album auf, klar: Constellation Records, blieb knapp unter meiner 25-Euro-Grenze für neue Tonträger, und ich bin wirklich ganz entzückt, dass dieser Blind-/Taubkauf den Weg ins Warenkörbchen gefunden hat. Das Quintett, das auf "Lost Voices" mit einer ganzen Reihe von Gastmusikern zusammenarbeitet, entspringt, man möchte fast ein "natürlich" hinzufügen, dem Umfeld des Muttertieres Godspeed You! Black Emperor und seines Ablegers A Silver Mt.Zion und nähert sich vor allem in den rockbetonteren und damit sehr intensiven Momenten des Albums deren Gestus und Gespür für Melodramatik auffällig nah an - und sei es nur wegen des allzuvertrauten Klangs des Instruments von Godspeed-Violinistin Sophie Trudeau. Die Instrumentierung von "Lost Voices" ist der größte Gewinn dieser Platte: Cello, Harmonium, Glockenspiel, Marimba, Vibraphon, Klavier, Darbuka, Riq, Ekonting, Hörner, Sarod und ein Kontrabass sorgen für soviel Theatralik, Opulenz, Schwere und trotz vereinzelt aufblitzender Parallelen zu den genannten Kapellen auch für eine Einzigartigkeit, dass mir das Abkanzeln des bewährten Strickmusters dieser Musik, diesem alten Spiel mit der Laut/Leise-Dynamik, dem behutsamen und minutenlangen Aufbau und der Grandezza gar nicht in den Sinn kommt. 

Ein herausragendes Kollektivwerk, das einem toten Genre wenn nicht unbedingt neues Leben einhaucht, ihm dafür aber eine schöne Blutauffrischung verpasst. Wer hätte alleine das noch für möglich gehalten?




Erschienen auf Constellation Records, 2015. 

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