Talking about Sommerplatte 2015: nicht wenige haben das quasi-Debut des britischen Produzenten Jamie XX in dieser Hinsicht auf dem Zettel. Nun muss man immer ein bisschen aufpassen, mit welchen Wölfen man heult - die im vorangegangenen Text zu Goerge Fitzgeralds "Fading Love" LP erwähnte Platte von Richard Davis ("Details") wurde wie gesagt mal prominent in der Intro aufs goldene Schild gehievt - wozu "Details" nichts kann, aber ob ich das dann wirklich hören möchte, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Mit Jamie XX verhält es sich ähnlich: der durch seine Zusammenarbeit mit Gil Scott-Heron positiv auffällig gewordene Jungstar zieht eine lange Reihe jugendlicher, pubertierender und entsprechend alkoholisierter Fans hinter sich her, die ihm nicht erst seit gestern hoffnungslos ergeben sind, auf Twitter emotionale Kalendersprüche aus dem Emo-Waisenhaus Sierksdorf-West aufsagen und "Kritik" für eine neue Biermixgetränk-Marke halten. Trotz aller Vorbehalte bietet "In Colour" allerdings tatsächlich überraschend tiefgehende und ganz besonders dem Artwork entsprechende farbenfrohe Sommermusik zwischen House, Pop und Soulmusik, die manchmal so grell positiv ist, dass man beim Hören fast die Augen zusammenpetzen muss, damit es gerade noch so aushaltbar ist.
Ich bin mittlerweile Lichtjahre vom Lebensgefühl jener Generation entfernt, die die Zielgruppe dieses Albums sein dürfte, aber "In Colour" vermittelt mir einen Geschmack dessen, welches Leben im Jahr 2015 zu führen ist, wenn einem die Welt gerade noch frisch zu Füßen liegt: Man twittert gefühlsduseligen Schwachsinn und schaut sich Beauty-Tutorials von und mit durch und durch widerwärtigen Menschen auf Youtube an.
Hach! Watt schön! Und wer ohne Midlife Crisis ist, der werfe die erste Faith No More Maxi-CD (1993).
Erschienen auf Yung Turks / XL Recordings, 2015.
P.S.: Auch wenn sich das Coverartwork in der Größe einer Schallplatte echt gut macht und das Album außerdem im CD-Format beiliegt, muss man strenggenommen von einem Kauf des Vinyls abraten: die LP ist "so fucking leise" (Blank When Zero) und mies gemastert, dass ich den Lautstärkeregler tatsächlich bis zum Anschlag (!) aufreißen muss - und trotzdem fehlt dem Sound dann immer noch jede Dynamik und jeder Elan. Ich habe Bootlegs, die besser klingen.
Nach der ungewöhnlichen Jam City Scheibe "Dream A Garden" haben wir mit George Fitzgerald den nächsten Kandidaten für eine von Clubgängern und Fans ausgeteilte Backpfeifenpolka. Fitzgerald wollte sich bewusst von seinen Dancefloorroots entfernen, hat mit "Fading Love" genau das geschafft und sich einen durchkomponierten, elektronischen Pop-House-Entwurf ausgedacht.
Melancholisch, bittersüß und sonnendurchflutet warten hier die schönsten Songs des Jahres auf dich, stilistisch gar nicht so irre weit vom trotz damaliger Empfehlung der Unterbelichtetenpostille Intro überraschenderweise immer noch anhörbaren Richard Davis Album "Details" entfernt, dafür aber mit mehr Sonne im Popo. Die Fangemeinde spaltet sich derweil in zwei Lager: die einen beschweren sich über langweilige Dürre, weil man zu "Fading Love" mit XTC und Meth nicht zwingend weiterkommt, die anderen lieben die Platte wegen ihrer unaufgeregten, gleichzeitig lebhaften und darüber hinaus romantischen Stimmung.
Herr und Frau (!) Dreikommaviernull haben "Fading Love" zwischenzeitlich zur Sommerplatte 2015 gekürt. Ganz bestimmt eines der besten Alben des Jahres.
Schwer zu sagen, ob mir in den vergangenen Jahren ein Album untergekommen ist, das eine ähnliche große Lücke zwischen weitgehender Obskurität auf der einen und fanatischer Begeisterung bei Eingeweihten auf der anderen Seite vorweisen kann. Das Debutalbum dieses kontinentübergreifenden Projekts von Paul Murphy (u.a Bison und Labelchef von Claremont 56), Quine Luke und Patrick Wood (Phenomenal Handclap Band), Patrick Dawes (Groove Armada) und Alex Searle stand bei mir schon seit Veröffentlichung im Mai 2014 auf der Warteliste, und während ich noch darüber sinnierte, ob ich mir wirklich so blind und taub die Doppel-LP für 25 Schleifen oder doch zunächst eher den Download für ein Drittel rauslassen soll, hatte der bekannte und beliebte Stuttgarter Plattenladenmann Tommes "Akaliko" schon in seiner Top 10 Liste für das Jahr 2014 eingetragen. Nun, ein gutes Jahr später, ist die LP nur noch schwer (= im Tausch mit viel zu hohen Versandkosten) erhältlich, was immerhin die Entscheidung einfacher machte.
Wer "Akaliko" kennt, ist automatisch bekehrt.
Ich lebe jetzt seit mehreren Wochen mit dem Download von "Akaliko" und weiß jetzt: ich hätte es viel früher tun sollen. Andererseits passt die Platte zu den aktuellen Saharatemperaturen wie der berühmte Arsch auf den noch berühmteren Eimer, denn ein besseres Timing ist kaum vorstellbar. "Akaliko", übrigens das buddhistische Wort für "zeitlos", ist ein ein mit positiv geladenen Goldionen vollgestopfter, fluffiger Fliegenpilz-Psychedelic-Teig, ein bekifft-bedudelter Sonnenanbeterrock mit Groove, Funk, Groove, Funk und Groove. Und Funk. Es ist sowas wie der endgültige Soundtrack zum Leben von Jeffrey Lebowski zwischen frisch gemixten White Russians und frisch gedrehten Joints in der Badewanne bei 35°C Außen- und Innentemperatur. Zwischen Strohhut, einem aus dem halb aufgeknöpften Hemd herausquellenden Brusthaartoupet und einem 8-Tage-Bart. Nicht im Sinne von einem, der den unteren Teil von Laternenmasten im Frankfuert Gallusviertel ableckt, sondern schon stilvoll und echt, kauzig, bisschen verrückt.
Die Herzallerliebste bemerkt dagegen eine gewisse Cheesiness, die sich unter dem entspannten Liebesgetümmel tatsächlich desöfteren zeigt, und es damit strenggenommen gar nicht mehr so cool macht, aber zumindest meine diesbezüglichen Detektoren sind mit einem Blick auf die eigene Plattensammlung sowieso nicht überdurchschnnittlich gut ausgebildet. Heißt: ich finde das gar nicht schlimm. "Akaliko" ist unironische, sehr sonnige und unbeschwerte Musik mit einem über den Rücken getragenen Sack voll mit Glücklichmachern aus der Welt der Mykologie. Für den Tiefgang und das bewegte Leben. Alles rein natürlich. Natürlich.
Mit dem nahezu vollständigen Ausschluss von Dub Techno und folgerichtig bedeutend weniger Beats als bislang vom italienischen DJ-Duo Voices From The Lake gewohnt, ist "Live At MAXXI" beim Editions Mego Label endgültig besser aufgehoben als jemals zuvor.
Der Mitschnitt des im Oktober 2014 während der “Open Museum Open City"-Ausstellung in Rom aufgeführten Sets greift zwar weiterhin die bekannten aquatischen Motive der beiden Produzenten auf, verzichtet aber bis auf eine kurz vorbeihuschende Episode komplett auf strukturgebende Kopfnickwerkzeuge. Immer noch brilliant: der hypnotische Fluss der Kompositionen und ihre geschmackvolle Auswahl der Sounds; besonders letztere stechen aus dem mittlerweile unüberschaubaren Klumpen der Dark Ambient Gemeinde heraus und liefern bei aller kunstvoll arrangierter Abstraktion eine Idee von Licht und Wärme.
Der über die gesamte Spielzeit angesteuerte und inszenierte Höhepunkt "Max" belegt dies eindrucksvoll.
"Live At Maxxi" ist aktuell auch via Bandcamp auf jede erdenkliche Art zu konsumieren, das Sahnehäubchen aus Vinyl erscheint am 22.8.2015.
Valet ist zurück. Und Honey Owens ist damit ebenfalls zurück. Sieben Jahre nach ihremDebutalbum "Blood Is Clean", einer zwischenzeitlichen Fokussierung auf elektronische Clubsounds mit Ihrem Partner Rafael Fauria unter dem Namen Miracles Club und der Geburt ihres ersten Kindes im Jahr 2013, ist "Nature" das erste Lebenszeichen der Künstlerin aus Portland seit geraumer Zeit.
"Nature" ist nicht nur deshalb eine Überraschung. Valets Musik war immer an mehr oder minder klassischem Songwriting orientiert, dabei aber abstrakt, zerfasert und experimentell - und dieses sich daraus entwickelnde Spannungsfeld passte zu Kranky Records wie die Blüte auf die Rose. "Blood Is Clean" war eine eindringliche Seance aus Songwriter-Noise und Indie-Avantgarde, intensiv glühend, aber immer mit gebührender Distanz zum Gegenüber. Sirenenhaft lockend, und doch fast ängstlich. Was gut war, weil damit die süßliche Anbiederung der übrigen Indiegemeinde fehlte.
"Nature" ist indes von einem anderen Kaliber und es scheint, als hätte das Team Owens, Fauria und der Multiinstrumentalist Mark Burdon die Sounds und die Ideen der Zwischenstation vom Miracles Club einfließen lassen. "Nature" ist beeinflusst vom Spacerock und der Shoegazerszene der späten achtziger und frühen neunziger Jahre, ein dicht inszeniertes, aber dabei überaus melodisches, wirklich songorientiertes Album mit verhallt-schwebenden Gitarrenwänden, üppigen Sythieflächen, und einer Honey Owens, die aus den tiefsten Höhlen und den höchsten Himmelsphären zugleich monotone Gesangslinien aus frischer Zuckerwatte zusammenrührt. In meinem Herzen klingt das sehr versöhnlich, euphorisch wie bittersüß - und nur ein ganz kleines bisschen nach dem Ritt auf einem rosa Elefanten und einem Schluck aus einer verwunschenen Kokosnuss (mit einem kleinen Schuss LSD drin).
Nur damit wir uns richtig verstehen: selbst die vom Künstler oft distanzierte Clubszene kann manchmal ziemlich kratzbürstig werden, wenn die eigenen Erwartungen nicht erfüllt werden. Jack Latham darf das gerade mit seinem neuen Album "Dream A Garden" erfahren, denn der sich ursprünglich im House austobende Londoner hat sich von seinen Wurzeln radikal entfernt und setzt den Fans eine harte Nuss vor die Ohren. Statt satter und straighter 4/4 Bassdrum und futuristischem Dschingdarassabumm ist "Dream A Garden" zerbrechlicher und nur mit Spucke zusammengehaltener Post-Pop-Punk, mit Wave-Tupfern und Shoegaze-Streifen, dabei mehr The Cure (Songs) als My Bloody Valentine (Atmosphäre). Lathams Gesang ist unter dicken Layern aus gleichzeitig wuchtigem und fragilem Sound begraben, dazu stellt man hin und wieder überrascht fest, dass der so heiß geliebte Beat komplett fehlt.
Es ist kein sonderlich feines und sonniges Plätzchen, das sich der Brite hier zusammengeschleift hat, denn auf Schönklang hat er es ganz bestimmt nicht angelegt: "Dream A Garden" hat empfindliche Kratzer abbekommen, ist zerrissen, verletzlich und angreifbar. Keine Platte, die für einen unbeschwerten Sommer produziert wurde, aber dafür Musik, die mit einen merkwürdigen Nachhall auf die Welt da draußen nachdenklich macht.
Ein kurzer post-sonntäglicher Einwurf, weil's in der Gehirnbehausung gerade so schön vor sich hinkokelt:
Ibiza-Legende, Cafè del Mar-Erfinder, weltweit gefragter DJ: Wenn Du Deinen Sommer in der Hängematte im Grünen, bei Eiskaffee, eisgekültem Cuba Libre und außerdem neben einer Salmonellenofteismaschine verbringst und dazu einen Soundtrack brauchst, der in der lockersten Strandbar aller Zeiten spielt, dann empfiehlt Dein Lockerpeter von 3,40qm heute die neue Solo-LP von José Padilla.
"So Many Colours" ist das erste Studioalbum des Spaniers seit rund 15 Jahren und gemeinsam mit Henning Severud alias Telephones, Jan Schulte alias Wolf Müller, Tornado Wallace sowie Mark Barrot produziert - und auf Barrots Internationel Feel-Label ist das Album auch erschienen.
Bunte Farben, heißer Sommer, sonniger Pop, flache Atmung, keine Hose - alles keine Probleme für uns Premiumgörls und -tüps. Fahne auf Halbmast, Stimmen im Wind, Eiswürfel in den Ohren.
Die Platten dieses New Yorker Musikerkollektivs klingen, als seien sie alle im Rahmen von Frühstückssessions in den Hinterhofwohnungen Manhattans eingespielt worden: So viel Swing und so viel Soul, dazu eine eisgekühlte Eleganz und die Selbstverständlichkeit, mit der man diese Songs durch die Lüfte dirigiert - jedes Hören wird zu einem Ereignis.
Im Kontext mit der entstehenden Intimität und der stilistischen Ausprägung der Songs von Bandleader Stephane Ronget, ist auch "Kiss Kiss Double Jab" eine perfekte Platte sowohl für das ausgiebige Sonntagsfrühstück als auch für den gemeinsamen Liebesabend mit Knabberspaß im Glas bei Rotlicht und Kerzenschein (rote Kerzen gehen auch). Wie schon auf dem letzten Album "The Brooklyn Butterflies Sessions" wird groß aufgespielt: Sängerin Lili Cooper ist eine bekannte Musicalsängerin und Schauspielerin, am Altsaxophon spielt Gaststar Gary Bartz, die Bürgerrechtlerin Sonia Sanchez rezitiert zu den Kompositionen Rongets zwei Gedichte und auf dem Vorgänger sang immerhin kein geringerer als Jazzmütze Gregory Porter.
Wenn ich jetzt noch erwähnen darf, dass DJ-Legende Gilles Peterson Fan der Truppe ist, ist's natürlich überflüssiges Namedropping, aber die Zielgruppe kann spätestens jetzt wirklich blind zuschlagen.
Sich Probleme zu machen, gehört zugegebenermaßen nicht nur zu meinen herausragenden Eigenschaften als zwischen Lohnarbeit und Teilzeitpunkrocker umherdackelnder Mensch des Web 2.0. Es gibt darüber hinaus praktisch nichts, was in meinem Leben einfacher zu erledigen wäre, denn Stoff für einen schönen Wutanfall gibt's en masse; und wenn alles zu dolle Licht und Liebe ist, dann genügt im Zweifel ein aufmerksam zur Kenntnis genommener Leserkommentar auf der virtuellen Heimat unserer Qualitätsmedien oder ein in vollem Bewusstsein angeschauter Werbeblock der fernsehmedialen Verblödungsanstalten, zu denen mir bisweilen nichts weiter einfällt, außer die eigene Denkvorrichtung mit größtmöglichem Schmackes auf die Kante des Wohnzimmertischs zu knallen, weil Schmerz bekämpft bekanntermaßen Schmerz und Feuer bekämpft Feuer - das kenne ich von der zweiten Platte der Intellektuellenband Metallica.
Nun ist's aber geradewegs, wie so beinahe alles um uns herum, systemisch so fein eingedreht und ausgezwirbelt, dass any promotion tatsächlich good promotion ist, und wo es mindestens angebracht wäre, jedem, also wirklich jedem moralisch degenerierten Gehirnauszuzzler, der auch nur im mikroskopisch kleinsten Ansatz mit der Entwicklung, Herstellung und Vermarktung des sogenannten und ausschließlich vom hinterletzten Zellgerumpel konsumierten "Pizzaburgers" zu tun hat, einem brutalstmöglich ausgefeilten Quadratsonderquatsch von Doofen für Doofe, denen man beiderseits mindestens 37 Stunden pro Tag einfach nur die Fresse polieren will, einfach für, äh - 37 Stunden pro Tag die Fresse zu polieren, und man das im Sinne der Aufklärung, der Mentalhygiene und der gesellschaftlichen Intellenzoptimierung (sic!) mit gigantomanischem Druck in den Volksschwellkörper hineinpressen will, damit das Leben für uns alle besser, schöner und toller wird, dann gibt's konsequenterweise in 9 von 10 Fällen die Frage "Pizzaburger? Issen ditte?" und am Ende fressen's den von echten Nihilisten ersonnenen Wohlstandsscheißdreck auch noch. Was wurde also erreicht? Die Twittertimeline wird in Folge geblockter und damit künftigen ex-Follower schmaler - was grundsätzlich zu begrüßen ist, aber die Marketingabteilung bei Dr.Doofkopp Oetker freut sich Ende des Jahres über 340% Boniausschüttung ein zweites Loch in den Pöter.
"Theorien über Konsumkritik in der postkapitalistischen Gesellschaft", von Howard Carpendale und Sascha Hehn, Frankfurt, Brummsummsel Verlag, 2015. Bitte, Danke, Rechnung folgt.
Ein ähnlich zu beobachtendes Phänomen ist die seit einigen Jahren andauernde Diskussion über den Star der wenigstens deutschsprachigen Veganerszene Attila Hildmann, der tatsächlich nicht erst seit gestern jedem, der auch nur mit einem Hauch Empathie und Klarsicht ausgestattet ist, durch permanenten Protz und despiktierliche Aussagen über diejenigen, die unverständlicherweise seine Bücher kauften, negativ auffiel. Nach seiner erfolgreichen Darstellung einer tief nach vorne gebeugten Werbehure für Porsche inklusive eines ultrapeinlichen, zweieinhalb quälende Minuten dauernden "Ich hab' den Längsten!"-Werbefilms - er will ja immerhin nach Hollywood und nicht etwa nur nach Castrop-Rauxel - und vor allem angesichts seiner jeder Beschreibung spottenden "Vegangsta"-Videoreihe auf Youtube, merken ein paar Menschen mehr, dass sie möglicherweise seit Jahren von einem Schwachstromelektriker mit Vermarktungsdiplom an der Nase herumgeführt wurden.
"Sex sells einfach." (A.Hildmann)
Als mein Zorn angesichts seiner flachen, in furchtbar peinlichem Englisch erzählten, latent sexistischen und mit Gewaltszenen kokettierenden "Vegangsta"-Videos und derbemitleidenswert naiven Rechtfertigung mittels des beliebten "Das ist ein Kunstprojekt und ihr seid eben alle zu doof und versteht das nicht!" - Arguments einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, und ich am Frühstückstisch der Herzallerliebsten davon erzählte, dass man darüber doch mal locker schreiben könnte, wo nicht müsste, bekam ich den Kopf mit veganem Leberwurstersatz gewaschen: über so einen schreibe man nicht, vor allem würde man dann doch dieser ins Youtube-Bild gegossenen Superscheiße auch noch eine weitere Plattform geben, und könne ich es denn außerdem verantworten, dass vielleicht junge Menschen auf "Vegangsta" aufmerksam werden?
Disclaimer: folgendes Video verursacht Schmerzen.
Letzteres ist konkret in meinem Fall natürlich Kappes, denn ich habe keine jungen Leser, weil die jungen Leute außer ganzseitigen Werbeanzeigen für den Pizzaburger generell nichts mehr lesen, gar nichts, nada, niente - aber der Rest ist natürlich valide: was juckt's die Eiche, wenn sich die Sau an ihr reibt? Ich lebe seit jetzt skandalösen 38 Jahren bestens ohne direkte Verbindung zu dem aufgepumpten Berliner Gernegroß, der neulich übrigensweitere Sympathiepunkte sammeln konnte, als er Jamie Oliver als zu fett bezeichnete, um uns Deutschen etwas von gesunder Ernährung zu erzählen, und habe meine zweieinhalb Jahre als Veganer ohne eines seiner megakomplizierten Rezepte ("Hier ist eine Pita, da tu' ich jetzt Tomatenmark und ein paar Champignons aus der Dose drauf, mhhhmmm, Pizza ist fertig!") verbracht.
Es gibt primagute vegane Kochbücher von primaguten Menschen, ich brauche seine "Wieg'n Dschellensch" (Hildmann) ganz bestimmt nicht. Ist es das also wirklich wert?
Hildmann vertritt die vermeintlich dunkle Seite des Veganers: er legt vor allem wert auf Gesundheit und Fitness und verbindet diese beiden Schwerpunkte mit einer veganen Ernährung. Dafür lässt er sich regelmäßig mit Quellbizeps und Waschbrettbauch ablichten, bezeichnet die vegane Ernährung in erster Linie als "Diät" und hält von Fragen zur Ethik, zur Moral und zum gesellschaftlichen Umgang mit Tier und Umwelt nicht so irrsinnig viel, jedenfalls nicht im Vergleich mit seinem Kontostand. Das alleine bietet vor allem im emotional ordentlich aufgeheizten Milieu genügend Spielraum für Kritik, und dass da einer seit Jahren auf Veganerkönig macht, sich zeitgleich die Ledersitze in der klima- und ressourcenschonenden Studentenschüssel von Porsche vor Selbstgeilheit vollsabbert und Menschen, die aus den erwähnten ethischen Gründen die vegane Lebensweise bevorzugen, herabsetzend als "Müsli-Jürgen" und ungewaschene Waldmenschen bezeichnet, bringt mich auch an die Grenzen dessen, was ich in meinem Wertesystem noch unter jener Rubrik einsortieren würde, in der sich die verwirrten Unsympathen austoben dürfen. Die sind halt da, man hat Mitleid, aber lässt sie ansonsten links liegen.
Auf der anderen Seite kann ich generös Hildmanns positiven Einfluss auf die vegane Szene (und die darüber hinaus) anerkennen - er hat zweifellos zu der guten Entwicklung beigetragen, wegen der sich Veganer heute nicht mehr nur mit Papiertüte über dem Kopf in ein Restaurant setzen müsssen. Und dass Erfolg nicht dazu führt, überall mit offenen Armen empfangen zu werden, ist auch klar. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Zudem habe ich selbst nicht zu selten die Erfahrung gemacht, von genau den Menschen, die sich über nichts und gleich drei Mal nichts Gedanken machen, verbal angeschissen zu werden, weil auf meiner vor 8 Jahren gekauften Laptoptasche das Herstellerlogo auf einen kleinen Lederriemen gedruckt wurde. Und weil man völlig verblendete Veganer mit Doppelmoral eben am einfachsten mit dieser eigenen Gewissensreinigung abkanzeln und decouvrieren kann, indem man also die Bewertung des eigenen Lebenswandels auf den Kopf und jene der anderen dafür ins Güllefass kippt, damit der Schmerz im Dachgeschoss nicht all zu unerträglich wird, ist das auch in meiner Realität ein oft beobachtetes Phänomen. Will ich mich wirklich auf die selbe Stufe mit diesen Typen stellen, die aus ihren 40qm Couchlandschaft immer alles sofort torpedieren, unfair argumentieren und selbst den Arsch nicht hochbekommen?
Nein, will ich nicht.
Aber muss man den Medialchaoten, den Lautsprechern, den Machos, den Aufgeblasenen, den Unaufrichtigen, den Denunzianten, den Respektlosen und den schmerzhaft Arroganten wirklich immer und überall alles kritiklos durchgehen lassen?
Ende Juni 2015 hat das Portal indyvegan.org die seit längerer Zeit kursierenden Gerüchte um Strongman Andreas Hordan aufgegriffen, wonach Hildmanns rechte Hand in Sachen "Vegangsta" nicht nur wegen seines "Ruhm & Ehre"-Tattoos, sondern auch wegen weiterer verbaler und relativ eindeutiger schriftlicher Ausfälle mehr als nur leichte Tendenzen und Kontakte zum Rechtsradikalismus pflegen soll. Der in den Videos von Hildmann als „Müsli-Jochen-Klatscher“ und später als „Hippie-Smasher“ auftretende Hordan darf mittlerweile und dank der detaillierten Recherche des Indievegan-Teams als überführt gelten, eindeutig rassistische, islamfeindliche und antisemitische Statements abgegeben zu haben. Zu seinem Vokabular gehören "widerlicher Musel" und "verfilzter Affe" als Bezeichnung für einen Moslem, sowie "Herr Affe" für US-Präsident Obama. Oh, "Gutmensch" lässt sich auch finden.
"Aus dem Instrumentarium reaktionärer Ideologien ist fast alles dabei. Verschwörungsthesen, Rassismus, Xenophobie, Antisemitismus, Homophobie, Verteidigung von Reichsbürgerideologen und Ableism. Dass das Rechtspopulistinnen-Buzzword „Gutmenschen“ auch mehrfach dabei ist, wundert uns mit Blick auf Hordan und sein Umfeld nicht. Wir haben vergeblich nach Argumenten gesucht, dabei jedoch leider nur Kommentare gefunden, die Hordan gegen einen „Nazi“-Vorwurf verteidigen, der von uns nicht gemacht wurde. Zudem fanden sich eine Reihe von Beleidigungen gegen unsere Autorinnen." (Indyvegan.org)
Und schon könnte man wieder argumentieren, dass Hildmann den ganzen Wirbel selbst inszeniert hat, denn jedes halbwegs größere Klatschportal (u.a. Stern.de, siehe oben) schrieb über den vermeintlichen Skandal, "Vegangsta" war in aller, wenn auch schlechter Munde. Und außerdem muss ich auch völlig nüchtern das weiter oben erwähnte "Was juckt's die Eiche..." Zitat nochmal verwenden, nur dieses Mal in die andere Richtung: Hildmann ist nach wie vor der Vegan Christ Superstar, weiterhin sehr erfolgreich und hat immer noch Tausende loyal ergebener Fans - was wird's ihn jucken, dass ich hier mein virtuelles Wohnzimmer vollkotze?
Inhaltlich bleibt sein Auftritt natürlich trotzdem auf jeder Ebene völlig inakzeptabel.
Und darüber soll ich nicht schreiben?
"Und das ist voll schlimm, dass so asoziale Typen so 'ne Asi-Lobby sich gebaut haben und man traut sich nicht mehr, was zu sagen." (Olli Schulz)
Ein Konzeptalbum über Wrestling. Können wir also jetzt auch abhaken.
Der junge John Darnielle, immer noch der fast einzige aus der Riege aktueller Singer/Songwriter, den ich in meinen 3,40qm Luft, Liebe und Musik mehr als nur dulde, hatte mit dem jungen Florian nicht nur die Jugendliebe für den Heavy Metal gemein, wir teilten uns darüber hinaus auch die jugendliche Faszination für Wrestling. Inhaltliche Zusammenhänge zwischen diesen beiden Subkulturen können nicht ausgeschlossen werden.
Darnielle liegt nicht falsch, wenn er in den Liner Notes besonders den moralischen Aspekt des Wrestlings in den Vordergrund schiebt, wie er die Sehnsucht nach Gerechtigkeit betont und wie sie einer verlorener Seele Kraft und Trost spenden kann. Darnielles Wrestlingzeit endete, als er 13 war. Da begann ich gerade, mich nach Gerechtigeit zu sehnen. Um diese toll erzählten Geschichten hat das Trio Darnielle, Hughes und Wurster eine oftmals sehr introvertierte Musik gebastelt, ein Spürchen abwechslungsreicher als zuletzt, aber mit den üblichen zwei, drei Hits.
Was dieses Mal vermutlich wegen der Story fehlt, ist die Weite in Darnielles Musik - dieses Gefühl, als schaue man einen amerikanischen Roadmovie, nach dem man ihn, sein Land und die Menschen, die er auf seinen Reisen trifft, besser kennt. Das wurde auf "Beat The Champ" gestrichen, aber immerhin mit manchmal pieksender, weil selbst bekannter Introspektion ersetzt.
Hier ist "The Legend Of Chavo Guerrero". And don't be afraid of pop music, 'cause it's good for you.
Die Wiederentdeckung einer Legende. Das erste Album seit fünf Jahren scheint die Band aus Los Angeles geradewegs in jene Erfolgssphären zu führen, in welchen sie eigentlich schon seit knapp 30 Jahren zu Hause sein müsste - und das nicht nur bei zwei Handvoll "Piepels" (Schwiegermutter), die sowieso schon zur eingeweihten und loyalen Fanbase zählen. Es gibt praktisch niemanden, der "Win Hands Down" nicht wenigstens mit anerkennendem und wohlmeinendem Kopfnicken quittiert, die Regel sind indes geradewegs Begeisterungsstürme. Als hätten Metalfans jahrelang auf genau dieses Album gewartet. Ich kann es ihnen nachfühlen, aber dazu später mehr. Und selbst die Herzallerliebste protestiert bedeutend leiser, als sie es bei anderen Heavy Metal Bands für gewöhnlich tut (Nudelholz, Stabmixer, Androhung von Beischlafentzug).
Armored Saint haben sich schon vor über 20 Jahren von der Vorstellung verabschiedet, die ganz großen Erfolge zu feiern. Als der Fünfer nach ihren von Kritikern und Musikerkollegen gefeierten, aber von der breiteren Öffentlichkeit weitgehend ignorierten US Metalalben in den 1980er Jahren und vor allem der beeindruckenden Hitsammlung "Symbol Of Salvation" aus dem Jahr 1991 immer noch kein kommerziell verwertbares Bein auf den Boden bekam, nahm Sänger John Bush das lukrative Angebot der New Yorker Anthrax an, den kurz zuvor gefeuerten Joey Belladonna am Mikrofon zu ersetzen - und Armored Saint waren Geschichte. Das gute Comebackalbum "Revelation" aus dem Jahr 2000 muss im Rückblick als vermeintlich letztes Aufbäumen verstanden werden, was jedoch so schnell wie erfolglos wieder zu den Akten gelegt wurde.
Zehn Jahre später, Bush war mittlerweile von den völlig desolaten Anthrax vor die Tür gesetzt worden, um gemeinsam mit dem Heimkehrer Belladonna der Nostalgie ein Ständchen zu blasen, erschien etwas überraschend "La Raza" - eine umwerfende und erholsam organisch produzierte Platte, die eine Band zeigte, die zwar den Drang, die großen Tofufleischtöpfe zu erreichen mittlerweile aufgab, aber dafür hörbar ohne jeden Druck groß aufspielte. Hauptsongwriter, Produzent und Bassist Joey Vera, der die Jahre zuvor unter anderem mit Fates Warning und Tribe After Tribe arbeitete, hatte seinen alten Kumpels ultralockere Metalsongs mit tonnenweise Hooklines und Feeling vorgelegt, die zu gleichen Teilen zwingend und unaufgeregt klangen. Große Teile der Szene zuckten auch für "La Raza" nur ratlos mit den Schultern, was unter dem Eindruck von klanglich heillos aufgepimpten Metalproduktionen, die die Hörgewohnheiten besonders der nachwachsenden Generation in den letzten 15 Jahren in eine phantasie- und seelenlose Ecke drängte, beinahe legitim erscheint: "La Raza" wurde vermutlich nicht nur gefühlt in Veras Schlafzimmer eingespielt und auf dem Gästeklo abgemischt, und wer seine Lauscher von dem ganzen sonstigen überproduzierten Dreck derart ausgiebig manipulieren ließ, konnte schon der Ansicht sein, dass der Platte etwas die Durchschlagskraft fehlt. Wer allerdings noch wusste, wie ein echtes Schlagzeug oder eine simpel vor sich hin brutzelnde E-Gitarre klingt, und außerdem noch die verblasste Erinnerung an Sänger hatte, die wirklich singen können, wer darüber hinaus große, offene Melodiebögen, klassisch-hochwertiges Songwriting und Groove nicht für cheesy, unnütz und veraltet hält, der warf sich für dieses wunderbare Album in den Staub. So tat's auch meine Wenigkeit, natürlich erst kerzengerade vier Jahre nach der Veröffentlichung, aber für ein solches Erlebnis hätte ich auch gerne doppelt so lange gewartet.
Fünf Jahre nach diesem Geniestreich erschien vor wenigen Wochen nun "Win Hands Down", dank einem Schippchen mehr Druck und Härte ein rassiges, zeitloses, modernes und zugleich klassisches Metalalbum, das nicht nur qualitativ zum großen Kultklassiker "Symbol Of Salvation" aufschließt, sondern auch hinsichtlich des Songwritings einige Parallelen aufweist: so ist "Muscle Memory" das "Last Train Home" des Jahres 2015, und "Dive" die moderne Variante der Ballade "Another Day". Der im Vordergrund stehende Star dieser Platte ist natürlich Sänger John Bush, der längst seine Kreise in jener Champions League Gruppe zieht, in der auch ein Bruce Dickinson, ein Ronnie James Dio und ein Ron Halford spielen. Trotzdem erscheint es falsch, nur den begnadeten Metalsänger Bush hervorzuheben, denn das siebte Studioalbum ist genau wie der Vorgänger in erster Linie eine Gemeinschaftsarbeit von fünf absoluten Könnern, die sowohl technisch als auch in der Interpretation und feiner Nuancierung ihrer Musik zu den ganz großen Ausnahmemusikern der Metalwelt zählen.
"Win Hands Down" macht zwei für mich ganz fundamentale Punkte klar: zum einen kenne ich keine andere Band, die ihren vermeintlichen Höhepunkt vor gut 30 Jahren hatte und auch heute noch soviel Feuer, Kraft und Leidenschaft versprüht wie diese taufrisch klingende Truppe. Man kann es Armored Saint nicht hoch genug anrechnen, dass sie trotz chronischer Erfolglosigkeit noch immer derart vehement für ihre Musik brennen. Man kann also auch mit 50 noch so geil klingen - und das macht außerdem Hoffnung für die eigene Bandkarriere.
Zum anderen: schon sehr lange frage ich mich angesichts meiner andauernden Ablehnung gegenüber aktuellem Metal, ob ich einfach so scheiße geworden bin und mich so verändert habe, dass ich diesen seelenlosen, billig hingeklatschten, überproduzierten, kalkulierten, risikoarmen Dreck, der seit mindestens 15 Jahren die Szene überschwemmt und verstopft und sich trotzdem immer noch verkauft wie preisreduziertes Klopapier aus naturbelassener Jute, nicht mehr ertragen kann. Oder ist es wirklich die Musik, die sich zu diesem seelenlosen, billig hingeklatschten, überproduzierten, kalkulierten, risikoarmen Dreck entwickelt hat, der sogar aus sicherer Entfernung so unerträglich erscheint wie eine neue Talkshow für Johannes "Bumsi" Kerner - und jetzt habe ich endlich die Antwort: Es ist die verkackte Musik! ES IST DIE VERKACKTE MUSIK!
Dafür hat es einfach nur diese umwerfende, unfassbar viel Spaß machende, mit links und einem breiten Grinsen aus dem Ärmel geschüttelte Platte gebraucht.
In diesem Sinne ein ganz ernst gemeintes: Danke, Jungs!