06.07.2014

Italian Fuzz




SANDRO BRUGNOLINI - UNDERGROUND

Keine Ahnung, was in den siebziger Jahren bei den sonntäglichen Gottesdiensten in Rom so alles in die Hostie eingebacken wurde, aber man darf es mir auch zuschicken, wenn's recht ist. Sandro Brugnolini, ein italienischer Komponist, Alt-Saxofonist, Jazzer und in all diesen Funktionen ganz besonders für Soundtracks zuständig, hat 1970 mit fast identischer Backing Band zwei Instrumentalplatten eingespielt, die mittlerweile beide Kultstatus besitzen: "Overground" wechselt dabei auch mal für ein bisschen Kleingeld den Besitzer und wurde einen Monat vor seinem Counterpart "Underground" veröffentlicht. Ebenjener ist nun wiederveröffentlicht worden und bietet einige Weirdo-Abfahrten in die Fliegenpilz-Zuchtanlange in Psych-Jazzhausen und Psych-Funkstadt. 

Die funkigen Bassläufe spielen Dich selbst in einer Telefonzelle schwindelig, die Gitarre von Silvano Chimenti (u.a. Zusammenarbeit mit Ennio Morricone, Gitarrist auf dem Soundtrack zu "Mein Name ist Nobody") tupft ein psychedelisches Netz aus Freejazz- und Wah-Wah-Fuzz-Sounds zusammen, darüber groovt der Beat einen Oberlippenschnauzer in jede Bikinizone. Ein dolles Ding - und der inoffizielle Anfang der progressiven, psychedelischen Musik Italiens. Und was kann bei diesen Songtiteln schon schief gehen:

Psichefreelico, Impressianico, Reiteratoico, Uauaico, Diacromeico, Africaneidico, Bacharachico, Respondico, Ciaciastico, Velocipedeico, Dimandico.





Wie ich eben gerade gesehen habe, ist "Overground" mittlerweile ebenfalls wiederveröffentlicht worden - allerdings ist selbst dieser Re-Issue mit 28 Euro unverschämt teuer.


Erschienen auf Sincro Edizioni Musicali, 1970.
Re-Issue erschienen auf Sonor Musiceditions, 2014.


04.07.2014

Dirty Schneewittchen



ESPERS - II


Erster Gedanke: Haha, Rollenspielmusik. Zweiter Gedanke: Räucherstäbchen. Dritter Gedanke: Licht aus, Hosen runter.

Abteilung "Wiederentdeckung". Espers aus Philadelphia hatten es anfangs gar nicht mal so leicht, die Schutzmauer einzureißen, die ich angesichts vermeintlicher Musik für Menschen, die in Rüschenhemden zum Lidl gehen und Totenkopfaschenbescher auf dem Wohnzimmertisch stehen haben, hektisch errichtet hatte. Und so ganz ist es ihnen auch immer noch nicht gelungen, wenn auch mittlerweile nur noch die Grundmauern stehen. Die zarten Akustikgitarrenklänge, das entrückte Stimmchen von Meg Baird, das Robin Hood-Cello, das durch die Songs schleicht, die knisternde Lagerfeuerromantik - bei allem Respekt, aber unter normalen Umständen halte ich sowas nicht lange durch.

Mit der Zeit begann allerdings das Zwiebelprinzip für die Band zu arbeiten, und die Songs begannen, ihre ganze Pracht auszubreiten. Espers arbeiten auf dem Nachfolger ihres selbstbetitelten Debuts aus dem Jahr 2005 großflächig mit dem ewigen Gezerre der Gegenspieler Licht und Schatten, die sie allerdings so fein miteinander verweben, dass sie keine Gegner mehr sind, sondern Partner. In conclusio: Es ist neblig hier. Ein bisschen esoterisch. Die teilweise bis zu neun Minuten langen Songs zeigen einen kruden Mix aus traditionellem Folk, dunklem, obskurem Siebziger-Jahre Progressive Rock und spiritueller New Age Musik. In "Cruel Storm" legt man sogar eine astreine Nick Drake Performance auf den Laser, die einem fast die Freudentränen in die Augen treibt, sofern man sich von dem allzu tief in Hippiegeschunkel verorteten Opener "Dead Queen" lösen konnte. Dies sind die Kehrseiten einer Platte, die im Grunde viel Potential hat, es manchmal sogar ausschöpft und trotzdem Assoziationen hervorruft, für die ich im Grunde Amnesty International anfunken müsste. Trotzdem gefällt mir das heute alles bedeutend besser als früher. Woran's wohl liegen mag?

Würden der mittlerweile mehrheitlich auf Schlössern und Burgen umherspringende Richie Blackmore und die bezaubernd unwirkliche Elfe Loreena McKennith eine akustische, dreistündige Version von Deep Purples "Space Truckin" auf Psychopilzen 'runterhobeln, vielleicht kämen wir dann ziemlich genau zu dem, was Espers im faszinierenden "Dead King" erbauen, in dem es in der zweiten Hälfte sogar mal laut wird. Oder im reichlich offen und nach Jam-Session klingenden Mittelteil des programmatisch betitelten "Mansfield And Cyclops", bei dem Greg Weeks die Les Paul Gassi führen und mit Feedback herumlärmen darf. Je öfter ich "Espers II" hörte, desto mehr entdeckte ich die Tiefe und Spiritualität dieser Platte. Ich werde mit zunehmendem Alter auch irgendwie komisch.

Erschienen auf V2 Records, 2006.

02.07.2014

You Were Cool



THE MOUNTAIN GOATS - YOU WERE COOL

Sie begleiten mein musikalisches Dasein jetzt schon eine ganze Weile, die Mountain Goats um Sänger, Gitarrist und Texter John Darnielle. Vor sechs Jahren ließ ich mich angesichts einer grandiosen Darbietung des Hits "No Children" sogar zu einem "Es geht kaum größer." hinreißen und der unten anhängende Auftritt beim Newport Folk Festival im Jahr 2013 bestätigt die Jubelarie.

Es ist vor allem das bislang unveröffentlichte "You Were Cool" (startet bei 7:22), das mich einerseits leise wimmernd dahinschmelzen lässt, andererseits emotional komplett aufwühlt. Darnielle sagt, der Song sei einer ganz besonderen Person gewidmet, mit der er tatsächlich damals in der High School war, und er erzählt die Geschichte von zwei Außenseitern so rührend, dass es nicht nur ihn bei jeder Performance im letzten Drittel des Songs förmlich aus dem Sakko sprengt. Ich bin regelmäßig den Freudentränen nahe.


This is a song with the same four chords
I use most of the time
When I've got something on my mind
And I don't want to squander the moment
Trying to come up with a better way
To say what I want to say

People were mean to you
But I always thought you were cool
Clicking down the concrete hallways
In your spiked heels
Back in high school

It's good to be young, but let's not kid ourselves
It's better to pass on through those years and come out the other side
With our hearts still beating
Having stared down demons
Come back breathing

People were mean to you
But I always thought you were cool
Clicking down the concrete hallways
In your spiked heels
Back in high school

You deserved better than you got
Someone's got to say it sometime because it's true
People should have told you you were awesome
Instead of taking advantage of you
I hope you love your life now
Like I love mine
I hope the painful memories only flex their power over you a little of the time
We held on to hope of better days coming
And when we did we were right
I hope the people who did you wrong
Have trouble sleeping at night

People were mean to you
But I always thought you were cool
Clicking down the concrete hallways
In your spiked heels
Back in high school


Das ist aber noch nicht alles. Es lohnt sich, nach "You Were Cool" noch dranzubleiben: ein kleines Kind aus dem Publikum wünscht sich lautstark "Cubs In Five" aus dem Album "Nine Black Poppies", und Darnielle sagt

"You magnificent young person, we do not know this one as a group."

- der 1995 geschriebene Song über die Chicago Cubs, ein US-amerikanisches Baseball-Team, das trotz chronischer Erfolglosigkeit sehr beliebt ist und auch zärtlich "Lovable Loosers" genannt wird, ist zwei Dritteln der Truppe nicht bekannt. Aber sie schaffen es trotzdem, "Cubs In Five" für dieses Kind zu spielen.

Ein großartiger Moment.

they're gonna find intelligent life up there on the moon
and the canterbury tales will shoot up to the top of the best seller list
and stay there for 27 weeks

and the chicago cubs will beat every team in the league
and the tampa bay bucs will make it the way to january
and i will love you again
i will love you, like i used to
i will love you again
i will love you, like i used to


the stars are gonna spell out the answers to tommorow's crosswords
and the phillips corporation will admit that they've made an awful mistake
and bill gates
will single handedly spearhead the heaven seventeen revival


and the chicago cubs will beat every team in the league
and the tampa bay bucs will take it all the way to the top
and i will love you again
i will love you, like i used to
and i will love you again
i will love you, like i used to



Und - wie unfassbar cool sind bitte die Aufnäher auf Darnielles Jacke? Order From Chaos! Mercyful Fate! Sarcofago! SARCOFAGO! Da geht man doch kaputt?!




30.06.2014

Falling In Love



SHEILA JORDAN - PORTRAIT OF SHEILA

Eine echte kleine Rarität, und das auf mehreren Ebenen. "Portraits Of Sheila" der US-amerikanischen Jazz-Sängerin Sheila Jordan ist eine von nur zwei Vocal Jazz-Aufnahmen, die Blue Note, das vielleicht berühmteste Jazzlabel der Welt, unter der Ägide der beiden Gründer Francis Wolff und Alfred Lion veröffentlichte (das andere stammt von Dodo Greene, heißt "My Hour of Need" und erschien im Jahr 1963 - wäre nebenbei gesagt auch mal schön, darüber zu schreiben, wäre es nicht?). Blue Note hatte bis zur Veröffentlichung von "Portrait Of Sheila" im Jahr 1962 die strikte Regel, keine Gesangsaufnahmen zu veröffentlichen. Nachdem Alfred Lion Jordan allerdings im Page Three Club in Greenwich Village live sehen und hören konnte, wurde die Regel zum ersten - und nach Dodo Greenes Album für die nächsten acht Jahre auch einzigen Mal gebrochen: 1970 hieß die Platte "Worth Waiting For..." und wurde von Joe Williams eingesungen; da war Blue Note aber schon an Liberty Records verkauft worden und Lion, der sich innerhalb der größeren Liberty-Organisation nicht zurechtfand, ab 1967 bereits in Rente. Heute sind die genannten Labels übrigens unter dem Scheißhausdach von Universal Music versammelt. Schon toll, diese globalisierte Weiterentwicklung.
"The more I heard her, the more moved I was by her extraordinairy talent." 
(Alfred Lion)

Jordan selbst, im Jahr 1928 geboren, lehnte bis zu dem Angebot seitens Blue Note jede Offerte für eine Aufnahme ab, weil sie ihre künstlerische Freiheit von den Label-A&Rs bedroht sah. Alfred Lion ließ ihr indes künstlerisch komplett freie Hand, sieht man davon ab, dass er Jordan von der Umsetzung der ursprünglichen Idee abriet, das Album ausschließlich mit Bass und Stimme einzuspielen. Es dauerte nach "Portrait Of Sheila" bis ins Jahr 1975, bis Jordan die zweite Platte unter eigener Führung veröffentlichte: "Confirmation" auf East Wind Records, einem 1977 aufgelösten Jazz Label aus Japan.

Als drittes Mosaik im angesprochenen Raritätenstadl fungiert zuguterletzt die Tatsache, dass Herr Dreikommaviernull das Album in sein Herz geschlossen hat, obwohl sich eine Jazzgitarre durch die 12 Kompositionen würmelt. Für mich ist das üblicherweise Grund genug, nicht mal im Ansatz Interesse auch nur vorzugaukeln, auf "Portrait Of Sheila" ist das etwas anders. Denn es ist in erster Linie Jordans umwerfende Stimme, die dieses Album prägt und es dirigiert, und es sind auch die Arrangements, gerade zwischen dem Bassspiel von Steve Swallow und Sheila, die hier jeden Ton angeben. Umwerfend ist in diesem Sinne das intime und auch irgendwie naive "Dat Dere", das tatsächlich nur mit Bass und Stimme eingespielt wurde. Mit welcher Elastizität und mit welchem Verve Jordan mit ihrer Stimme spielt, wie sie hüpft und immer wieder auf dem exakten Ton ankommt, wie sie kreiselt, spricht, klettert und wieder fällt ist besonders bei detaillierter Beschäftigung ein Hochgenuss. Es ist in diesem Zusammenhang keine große Überraschung mehr, dass ihre Stimme durch das Nachsingen der Trompete Charlie Parkers gestählt wurde. Wer "Dat Dere" hört weiß, was ich meine.

Ich erwähnte eben die Intimität und dies ist auch darüber hinaus ein gutes Stichwort. Besonders die Balladen ziehen mich in ihren Bann, so sparsam instrumentiert sie auch immer sein mögen. Die Produktion von Rudy van Gelder lässt ihnen so viel Luft wie möglich, die die Band, mit dabei sind neben Swallow außerdem Gitarrist Barry Galbraith und Drummer Denzil Best, nicht etwa im Sinne einer Überlast, sondern im genauen Gegenteil: im Weglassen von Noten ausfüllt. Hier entstehen die beeindruckendsten Momente dieser Aufnahme, wie beispielsweise in "Who Can I Turn To Now", einer feingliedrigen und doch so mächtigen, eindringlichen Komposition.

Wer nun eine Schwäche für alte Vocal Jazz Aufnahmen hat, übersehene Perlen des Blue Note Katalogs neu entdecken will oder auch nur den Unterschied zu dem Mainstream Gewäsch des heutigen Blue-Note-Universal-Major-Label-Holladrios erforschen möchte, dem hat das auf Reissues spezialisierte Label Heavenly Sweetness einen großen Gefallen getan: die Platten sind hübsch aufgemacht, klingen hervorragend und erscheinen auf schwerem 180 Vinyl. Zusätzlich sind es in aller Regel die übersehenen, längst vergriffenen Werke, die sich das Label zur Wiederbelebung ausgesucht hat, unter anderem auch das grandiose zweite (und leider letzte) Blue Note Album von Posaunist Grachan Moncur III "Some Other Stuff". Viele gute Gründe.


Erschienen auf Blue Note, 1963.
Reissue erschienen auf Heavenly Sweetness, 2014.

27.06.2014

Zurück in die Zukunft



ALICE COOPER - BRUTAL PLANET

Ich bin zugegebenermaßen nicht über Gebühr mit dem Oevre von Alice Cooper vertraut. Die ollen Kamellen haben mich selbst in der Zeit nicht gejuckt, in der ich noch dachte, jede Plattensammlung müsse aus Prinzip mindestens ein Album der Beatles, Deep Purples oder Led Zeppelins ausweisen, und nach seinen beiden erfolgreichen und unvermeidlichen Werken "Trash" und "Hey Stoopid" habe ich den von Mama und Papa Vincent Damon Furnier genannten Sänger auch flugs wieder aus den Augen verloren - mit einer Ausnahme: sein im Jahr 2000 erschienenes Album "Brutal Planet" machte mir zur Jahrtausendwende und für den Zeitraum von ein paar Wochen verflucht viel Spaß. Auch 14 Jahre später sind es immerhin noch eine Handvoll Songs, die mich nonchalant zum Mitwippen provozieren.

Sechs Jahre nach dem 1994er Album "The Last Temptation" versuchte Alice offensichtlich den Industrial/Alternative Markt zu knacken. Als Produzent holte er sich Bob Marlette ins Boot, der sich zuvor schon einen Namen mit Rob Halfords "Industrial-Light"-Projekt 2wo gemacht hatte und zur damaligen Zeit einen ähnlichen Ruf hatte wie Bruce Dickinson Kumpel Roy Z: aus eher traditionellen und teils abgehalfterten Rock- und Metalmusikern modern und taufrisch klingende Hipster-Opas zu formen. Als Gitarrist fungierte außerdem der spätere Marilyn Manson Axtschwinger John 5 aka John Lowery für Alice' Jungbrunnen-Experiment. Trotzdem war "Brutal Planet" im Grunde viel zu spät dran für den Industrial Boom, und wäre Cooper ähnlich im Gedächtnis-Pleistozän des Heavy Metal vergraben gewesen wie beispielsweise Rob Halford, dann hätten ihn die von Metal-Betonköpfen geworfenen Kübel voller Scheiße ähnlich hart getroffen wie die Judas Priest-Ikone. Cooper war indes nie der Vorzeigemetaller. Cooper war Rocker und Entertainer, meinetwegen auch für weite Teile der Metalszene eine Legende, darüberhinaus - stilistisch - aber im Grunde irrelevant. Somit war die einzige milde Strafe, die das Publikum gegen "Brutal Planet" aussprach weitgehende Ignoranz. Und das hat die Platte, by any means, nicht verdient.

Wenn man das stilistisch offensichtliche und auch ein bisschen peinliche Kalkül außer acht lässt und einzig die Songs und die eigenen Ohren entscheiden lässt, dann kann "Brutal Planet" ordentlich frischen Wind ins Cooper'sche, von Desmond Child und Mainstream-Balladen ausgefranste Repertoire blasen, denn er klang niemals härter und kraftvoller und ernsthafter als auf dieser Platte. Das tief in den Knien hockende, groovende Riffing, die zum Teil programmierten, mechanischen Beats und die kalte, strenge Atmosphäre kann man zwar auch auf Marilyn Manson-Platten hören, Cooper ist aber einer vom alten Schlag, einer, der Melodien schätzt. So zeigt sein 21.Studioalbum einen fast perfekten Spagat zwischen moderner Frische und den klassischen Wurzeln seiner Karriere: hinter jedem Aggroriff steckt eine satte Hookline, hinter jedem eisfrischen Ambossschlag ein großer Melodiebogen, der die Wolkendecke aufreißt. Und Pathos. Pathos finden wir auch eine ganze Menge. Nicht immer von Vorteil, wie ich hinzufügen möchte.

Man kann das für einen damals 62-jährigen Altrocker vermutlich durchaus deplatziert und kläglich finden, keinen Zweifel gibt es indes an der Kohärenz und an dem roten Faden des Konzepts: "Brutal Planet" ist sorgsam austariert und hat mit dem auch aktuell immer wieder in seinen Livesets auftauchenden Titeltrack, "Sanctuary", "Blow Me A Kiss", "Eat Some More" und dem fantastischen "Cold Machines", ein ultimativ provoziertes Manson-Rip-Off, nur mit Struktur, Melodie und Substanz, mindestens fünf Songs, die aus meiner persönlichen Sicht sein übriges mir bekanntes Repertoire klar in den Schatten stellen. Wenn man nicht gerade zu "Poison" oder "Burning Our Beds" am Rumfummeln ist, versteht sich. Minuspunkte gibt es nur für die Texte, denn: oh boy! Klischee reiht sich an Klischee und trotz durchaus ernster und valider gesellschaftlicher Themen wie Hunger, Krieg, Depression und Konsum, bleibt Alice nur an der Oberfläche und gammelt am Allgemeinplatz herum. Das ist nicht so schlimm, dass es einem die Platte verhagelt, und die Zielgruppe war vermutlich sowieso schon damit entweder heillos überfordert oder zu Tode gelangweilt, aber das hätte schon alles einen Funken schlauer gemacht werden dürfen. Andererseits: der Mann ist strengreligiöser Republikaner. What to expect?




Erschienen auf Spitfire, 2000.


25.06.2014

All My Angels Are Right

CYNE - ALL MY ANGELS ARE RIGHT

Die US-amerikanische HipHop Band CYNE, erstmalig selbst für einen großen Genre-Skeptiker wie mich positiv mit ihrem sensationellen "Evolution Fight"-Album (City Center Offices, 2005) in Erscheinung getreten, hat viel zu lange fünf Jahre nach ihrem letzten Werk "Water for Mars" mit "All My Angels Are Right" endlich den Nachfolger fertiggestellt.

Cyne agierten leider immer unter dem Radar und inhaltlich sind sie sowieso wie aus einer (besseren) Zeit und Welt geplumpst. In HipHop Maßstäben blubbern hier sogar noch Urschlamm und Vulkanlava um die Wette. Das Quartett lehnt sich musikalisch ziemlich weit aus dem Fenster - kein hyperexperimenteller Kram, für den man ein Atomphysikstudium braucht, aber Cyne sind hochmusikalisch und wildern in allem, was die Musikgeschichte hergibt. Dazu gibt es politische, gesellschaftskritische Texte. Was die Frage provoziert, warum man auf solch ein Album fünf Jahre warten muss; immerhin fünf Jahre, in denen das gesamte deutsche HipHop-Horrorkabinett ihre unterbelichete Güllehaufen alle fünf Minuten auf den Markt wirft.

Hinsichtlich der Vibes hat sich die ein oder andere ihrer DJ-Platten verschoben - CYNE erinnern auf ihrem sechsten Studioalbum weniger an bunte Golden Age-Zeiten wie noch ansatzweise auf "Evolution Fight", dafür futuristischer, dunkler, nachdenklicher. Ein Gedankenreflex sagt mir in dem Zusammenhang, dass "All My Angels Are Right" eher in die Wintermonate passen könnte und tatsächlich klingt es ein bisschen so, als sei die Band  aus ihren all zu bunten Kinderschuhen herausgewachsen.

Ich werde über die Platte zu einem späteren Zeitpunkt sicherlich noch das ein oder andere Wort verlieren, für den Moment möchte ich vor allem das Artwork loben, vielleicht das coolste, schönste und beste was 2014 bislang zu bieten hatte.










Erschienen auf Hometapes, 2014

23.06.2014

Methadon-Funk



THIRD COAST KINGS - WEST GRAND BOULEVARD


Solange die derzeit beste Neo-Funk-Combo der Welt, Orgone aus Kalifornien, nicht mit einer neuen Platte um die Ecke kommt, muss ansatzweise gleichwertiger Ersatz her. Mein letzter Besuch bei den Stuttgarter 2nd Hand Records-Jungs, eine Art Druckraum für süddeutsche Vinyljunkies, brachte eine frisch aufgezogene Spritze Deep Funk in die (Einkaufs)Tüte: "West Grand Boulevard" ist das zweite Album der Third Coast Kings aus Michigan. 

Die Coverästhetik könnte geradewegs aus dem Vorspann einer Krimi/Polizeiserie der 70er Jahre gemopst worden sein, die Widmung auf dem Backcover, mit diesem Album besonders dem Detroit Sound der sechziger und siebziger Jahre nachzueifern und ihn damit zu ehren, sowie das Bandfoto ließen mich aufmerksam werden. 2nd Hand-Rainer wirkte um 5 Minuten vor Ladenschließung zwar etwas müde, als er "Hab' in einen Song reingehört,  hat mich jetzt nicht sooooo umgehauen." sagte, öffnete aber liebenswürdigerweise die Versiegelung und ließ mich noch schnell ein Ohr riskieren. Nach 2 Minuten war für mich alles klar. 

"Shut up and take my money!"

Das Nontett spielt auf "West Grand Boulevard" einen über weite Strecken lässigen, manchmal - und vor allem bei den Songs mit Gesang - aber durchaus eindringlichen Mix aus Deep Funk, R'n'B und Soul und gesellt sich damit zur Gruppe der aktuell recht erfolgreichen Soul'n'Funk Clique um Sharon Jones, Charles Bradley, den Monophonics, den Dap Kings oder den Soul Investigators. Es mag legitim sein. dazu empört "Pastiche!" zu rufen, und es ist immer etwas fragwürdig, die Kopie derart markant zum manchmal einzigen Stilmittel zu machen; noch dazu warten vermutlich noch Legionen vergessener Perlen wirklich alter Soul und Funk Musik darauf entdeckt zu werden. 

Solange mir das Hören und die Auseinandersetzung mit solchem Sound einerseits soviel Spaß machen und ich andererseits darüber immer wieder förmlich dazu getrieben werde, auch nach den genannten alten Perlen zu tauchen, kann ich davon nicht wirklich genug bekommen. "West Grand Boulevard" ist ein starkes Album geworden. Seit fünf Wochen in der Heavy Rotation.

Ein Hinweis an Vinylfreunde: leider fehlt der Platte ein Downloadcode - wer sich die Songs auch für unterwegs auf die Ohren knallen lassen will, muss wohl oder übel nochmal sieben Schleifen für den Bandcamp-Download investieren. Da die Band offensichtlich nicht Schampus aus goldenen Badewannen schlürft, kann man das schon mal machen. 



Erschienen auf Record Kicks, 2014.

21.06.2014

Yasiin Gaye: The Return



YASIIN GAYE - THE RETURN (SIDE TWO)

Im März dieses Jahres legte ich meinen heiß und fettig geliebten Lieblingslesern bereits den ersten Teil von Amerigos Gazaways Mash-Up "Yasiin Gaye" glühend ans eiskalte Herzchen, ein immer noch völlig brillianter Mix aus den Raps von Mos Def und der Musik von Marvin Gaye. Ein Blick auf meine Last.fm Statistiken zeigt darüber hinaus, dass ich in den letzten sechs Monaten keine andere Musik so oft hörte wie die des kleinen DJs aus Amerika - und da sind die Vinylrotationen noch nichtmal mit eingerechnet. 





Ich war überrascht von der Ankündigung des zweiten Teils "The Return", der mittlerweile zum Download bereitsteht. Keine Überraschung gibt es indes bei der Qualität des zweiten Teils. Ganz ehrlich: man muss das gehört haben. Es macht einfach so verfickt viel Spaß. 

Außerdem erwähnenswert: das Artwork von Drew Dernavich schreit nach einer Veröffentlichung auf Vinyl. Es wird traditionell noch etwas dauern, aber vielleicht erbarmt sich ja jemand. 

Wie bei allen Releases von Amerigo gilt auch hier: be quick - die Schallplattenindustrie hat schon wieder die Anwälte von der Leine gelassen.

Unter der unten verlinkten Bandcamp-Seite lässt sich das Album erneut kostenlos herunterladen. 




20.06.2014

Me and McDoom



PROPAGANDHI - POTEMKIN CITY LIMITS

We have no sponsors because we're not fucking posers (but we would take a ride in Dexter Holland's multi-million dollar private jet that he's christened Anarchy Airlines, which clearly honours the spirit and vision of a long history of people who have struggled and often died fighting concentrations of wealth and power. Pretty fly for an asswipe!


This record not brought to you by George Soros.

And I vote you most likely to clutter your language with so much deadwood that no amount of pruning will reveal your intensive, protracted campaign of saying nothing at all. Your daydreams of black tie affairs at Rideau Hall. Your acceptance speech. Your dramatic pause. Don’t forget to thank those bitter ex-musician cum embedded rock-journalists frantically applauding the latest artist-formerly-known-as iconoclast, giddy from the fumes of a fresh defection, moping to the maudlin beat of a hat rack rhythm section, a tacit understanding of mutual non-aggression enjoyed by every nauseating do-nothing functionary.
("Fedallah’s Hearse")


The opening track, "A Speculative Fiction," won the first annual ECHO Songwriting Prize from the Society of Composers, Authors, and Music Publishers of Canada (SOCAN). The band pledged to use the $5000 prize to make donations to the Haiti Action Network and The Welcome Place, an organization in Winnipeg (which they'd previously done volunteer work for) which helps refugees start new lives in Manitoba.


"Probably my favorite of our records, too." (Glen Lambert)

I fuckin’ love that one rock video where that fucking jack-ass mohawked millionaire prances around by far the worst sausage party on earth, where by mere chance he’s caught on film shaking hands with an incredibly diverse collection of patriotic skins. I like the message it sends: With a Rebel™ yell, Just Do Exactly What You’re Told. One million douche bags can’t be wrong?

“When did punk rock become so safe?” You’ll excuse me if I laugh in your face as I itemize your receipts and PowerPoint your balance sheets.

I hear this year’s Vans Warped Tour is “going green!” I guess they heard that money grows on trees. Hope they ship all those shitty bands overseas like they did the factories.

Music’s power to describe, compel, renew … It’s all a distant second to the offers you can’t refuse.

Anyone remember when we used to believe that music was a sacred place and not some fucking bank machine? Not something you just bought and sold? How could we have been so naïve? Well, I think when all is said and done, just cuz we were young doesn’t mean we were wrong.

And I’ll rock back and forth on this two-bit hobbyhorse ‘til she splinters and gives way. I’ll tend the flowers by her grave. And whisper her name. If anyone out there understands can I please see a show of hands just so I know I’m not insane? Ever get the feeling you been played? Well, that’s rock for sustainable capitalism and you know, we may face a scorched and lifeless earth, but they’re accountable to their shareholders first.

That’s how the world works.
("Rock For Sustainable Capitalism")


Booklet art by Sue Coe (graphicwitness.org/coe).


Superbowl patriots cheer half-time propaganda, fake titties, tooting trumpets. “FREEDOM” is in lights and is shitting itself out of Post-Hippy “Call me Sir” Paul McCartney’s multi-millionaire fucking mouth. Machine guns raised. Kegs secure. Beers held high! The (Presidential) Liar is in the house. Bono’s in the house! We’re DOOMED! FUCKING DOOMED! FUCKING DOOMED! FUCKING DOOMED! FUCKING DOOMED! FUCKING DOOMED! FUCKING DOOMED!
("Superbowl Patriot XXXVI (Enter the Mendicant)")


For Christ sakes let’s stop eating animals already! Have no fear – within days the thought of eating their bodies will seem similar to fishing a shit out of the toilet for supper. There will always be those that will try to discourage you or even try to make you feel foolish or cliché. But that never mattered to us before, did it?



Erschienen auf G7 Welcoming Committee/Fat Wreck Chords, 2005


P.S.: Ich danke Simon und Marek für die Vinylausgabe von "Potemkin City Limits". Die Platte ist sowohl musikalisch als auch textlich eines der größten und beeindruckendsten Statements harter Musik, die Band als solche eine große Inspiration und ein großer Motivator, ein Vorbild in Sachen Konsequenz, Kompromisslosigkeit und Aufrichtigkeit.



19.06.2014

Anarchische Abendunterhaltung


WHILST - EVERYTHING THERE WAS WAS THERE


Genau nach meinem Geschmack ist diese 5 Track-EP des schottischen Kollektivs Whilst. Geschlüpft in den Green Door Studios in Glasgow, "an all-analogue, community-minded recording space in the city's West End" (residentadvisor.net), klingt jede Nummer, als sei sie völlig losgelöst von der zuvor gehörten entstanden. Zwar ist jeder Track in sich homogen, obwohl stilistisch nun auch beileibe keine Stangenware, aber wenn der Einstieg mit "Goya's Skull" straight-bangend in den Club spurtet, der Nachfolger "Untitled From North Africa" sich verspult in Jazz- und Funkgrooves eindreht, "Umgebung" New Wave, Krautrock und Punk miteinander vermählt, und mittels deutsch gesprochener und spitz gekreischter Worte wie "Anarchie", "Sehnsucht", "Erlösung", "Anarchische Abendunterhaltung" (!) und "Es ist getan" ziemlich geil arty erscheint, "Wee Moth" für eineinhalb Minuten den Freejazz-Wahnsinn aus dem Käfig lässt und "Postcards From A Robot" experimentelles Quietschen, Ratschen, Piano und eine Menge Raum bietet, dann ist das sehr unterhaltsam, spannend und ohne jeden Zweifel empfehlenswert. Wer auch immer dahintersteckt - das ist eine primagute EP. Und es ist der Beweis dafür, dass man ab und an die Kommentare aus dem Internet doch lesen sollte. Ohne den folgenden Eintrag wäre ich niemals auf "Everything There Was Was There" gekommen:

"Where the hell did this come from? Whilst pack more ideas into the 18 brain-scramblingly brilliant minutes of this EP than most artists manage in a career. Almost too good to be true."

Damn right.




Erschienen auf Optimo Music, 2014.

18.06.2014

Multi-Minimalist



DIGGS DUKE - OFFERING FOR ANXIOUS

Es artete beinahe in peinlich hektisches Gerenne aus, um noch ein Exemplar von "Offering For Anxious" zu ergattern. Die Mailorderextremität HHV.de bemerkte vorsorglich, dass es nur eine Platte pro Bestellung und Besteller gäbe, was immer ein sicheres Zeichen dafür ist, sich besser ein wenig zu beeilen. Was außerdem zur Kaufentscheidung trotz kompletter Ahnungslosigkeit darüber, was mich hier erwartete, beitrug: Gilles Petersons Label Brownswood Recordings steckt dahinter und so schlecht kann das also nicht sein. Plus: Brownswood gehen mit ihren Vinylausgaben traditionell sehr sparsam um.

Der erste Duchgang war etwas ernüchternd, aber das lag an meiner Erwartungshaltung, die vermutlich auf extrasmoothen Souljazz hoffte. Ein paar Tage später drehte sich "Offering For Anxious" nochmal mit etwas mehr Freiraum im Oberstübchen auf dem Teller und siehe da: Begeisterung machte sich breit. Diggs Duke ist ein Multiinstrumentalist aus Washington DC, der auf seinem Debutalbum praktisch alles im Alleingang aufbaute. Er schrieb die Songs, er spielte sie selbst ein, er produzierte und mischte sie und dann bastelte er auch noch das Cover selbst. Ein Freak aus dem Bilderbuch, ein hochmusikalischer noch dazu. Duke verzwirbelt in nur 24 Minuten Jazz, Hip Hop, Folk, Soul und Spaceship-Electronica zu einem äußerst schwer zu durchschauenden Potpourri aus fünfzig Jahren Musikgeschichte. Dabei bleibt er erfrischend unkonkret: von Songs im herkömmlichen Sinne kann keine Rede sein, und kaum ist eine schöne Hookline in dieser brodelnden Suppe aufgetaucht, versinkt sie auch schon wieder auf Nimmerwiedersehen im Kurzzeitgedächtnis, im Beatgeschepper, in Flying Lotus'schen Weirdo-Abfahrten, die die Tiefe des Raums ausloten. Wie weit kann man in Sachen avantgardistischer Dekonstruktion gehen, ohne die Seele zu verlieren? Vielleicht exakt so weit.

Erschienen auf Brownswood Recordings, 2014.

17.06.2014

Fifa La Revolucion

Ich muss nochmal flott nachtreten.

Über die seitens des ZDF selbsternannte Satiresendung "Die Anstalt", als Nachfolger zur "Neues aus der Anstalt" Reihe seit Anfang 2014 monatlich ausgestrahlt, kann man sicherlich einiges zum Meckern finden und es ist auch kein Geheimnis, dass das Format des Vorgängers, insbesondere mit dem Weggang des großen Georg Schramm als Partner von Urban Priol, einige Federn lassen musste. Nichtsdestotrotz war ich speziell bei den letzten beiden Ausgaben der Anstalt im April und Mai überrascht, wie gut sich die beiden neuen Protagonisten Max Uthoff und Claus von Wagner mittlerweile eingespielt haben. Zusätzliche Pluspunkte sammelte die Sendung bei mir durch eine von ZEIT Herausgeber Josef Joffe eingereichte Unterlassungserklärung  an das ZDF, weil Claus von Wagner in der Sendung vom 29.April 2014 auf die Verbindungen von Qualitätsjournalisten zu elitären Zirkeln aus Wirtschaft und Politik und den daraus vermeintlich resultierenden Interessenkonflikten hinwies:




Plump und polemisch (= genau meine Kragenweite) könnte man jetzt laut "Ha! Getroffene Hunde bellen!" rufen, aber das Thema ist natürlich - wie dummerweise so vieles auf dieser Welt - bedeutend komplexer. Der oben verlinkte Heise-Artikel stellt die Komplexität in diesem Sinne sehr anschaulich dar.

Die aktuelle Ausgabe der Anstalt aus dem Mai 2014 befasst sich beinahe ausschließlich mit der Fußball-WM in Brasilien und passt deshalb bestens zur vorangegangenen Motzattacke meinerseits.





14.06.2014

Fairplay'n'Foul

Es ist ein moralisches Dilemma, in dem vermutlich nicht nur ich gegenwärtig stecke, und es ist praktisch unlösbar - was die Situation für einen, der es wenigstens für das eigene Wertesystem immer 100% richtig haben will, nicht substantiell verbessert.

Einerseits mag ich Fußball, also das Spiel an sich. Die Taktik. Den Kampf. Meinetwegen auch den vermeintlichen Pathos, wenn es um das Team geht, als dessen Anhänger oder Sympathisant man sich bezeichnet. Mein Vater hat mich zur Frankfurter Eintracht geführt, und das nicht nur im übertragenen Sinne. Mein erstes live angeschautes Spiel der Eintracht im damals noch unter dem Namen Waldstation firmierenden Tempel des Dramas ging 1985 gegen Werder Bremen. Es war ein furchtbares 0:0. Da war ich sieben oder acht Jahre alt, konnte aber schon mit meiner Mini-Fahne in der Hand "WAS IST GRÜN UND STINKT NACH FISCH? WERDER BREMEN!" singen, sehr zur Belustigung der anderen Besucher der Haupttribüne. Mein Vater hat gelacht, meine Mutter zischelte mir ein empörtes "FLORI!" zu, bevor sie meinem Vater mit vorwurfsvollen Blick aus blitzenden Augen "Von mir hat er das nicht!" an den Kopf warf. Damit war ich der Eintracht verfallen. Ein paar Jahre später stand ich in jedem Heimspiel im Block H. Und ich genoss das, ich schaute mir immer alles ganz genau an. Jeden Spieler, jeden Spielzug. Da hatte von "Event" noch niemand etwas gehört, da ging man ins Stadion, um Fußball zu gucken und um mitzufiebern. Damals waren dann zwar auch nur 20000 Fans im über 60000 Menschen fassenden weiten Rund, gerne auch mal nur 8000, wenn es an einem nasskalten Mittwochabend im November, Nieselregen, 4°C, gegen attraktive Gegner wie Bayer Uerdingen ging und man noch dazu von einer Niederlage ausgehen konnte. Aber die 8000 gammelten dann nicht in der Loge herum und schaufelten sich vor dem Breitbildfernseher sitzend frittierte Schweinehaxen rein.

Wird nur das Spiel betrachtet, ist in meinem Buch eigentlich immer alles in Margarine - auch wenn immer öfter dreißig Grottenkicks toleriert werden müssen, um wenigstens ein Mal ein packendes, spannendes, mitreißendes Duell mitzuerleben.

Törichterweise hört das Spiel nicht nach den 90 Minuten auf. Noch weniger als sonst in der Bundesliga, wenn die Horden besoffener und emotional völlig krankhaft aufgeheizter Deppenkommandos aufeinander losgehen, hört es nach den 90 Minuten in diesen Tagen auf, in denen die Weltmeisterschaft in Brasilien läuft. Seit einem Jahr werden alleine schon die Vorbereitungen mit Großdemonstrationen begleitet, die von der Polizei mit sehr großer Gewalt beantwortet und niedergeschlagen werden. Mehrere Menschen sind seit Beginn der Proteste bereits ums Leben gekommen. Hintergrund sind die Kosten des Großereignisses: mit umgerechnet elf Milliarden Euro (etwa 1,2 Milliarden davon werden von der FIFA gesponsort) ist es die teuerste Weltmeisterschaft aller Zeiten. Und es geht um die daraus resultierende Gängelung des eigenen Volks, dessen Bürger nicht nur "für fünf Euro am Tag ein Stadion bauen (dabei krepieren), damit irgendwelche Oligarchen in Zürich oder Rio noch eine Milliarde reicher werden" (Stefan Gärtner), sondern die Gelder lieber in Bildung und Gesundheit investiert sehen wollen. Und ich sitze hier fett vor mich hindampfend auf der Couch in meinen 100qm Deutschland, trinke irgendeine zusammengepanschte Plörre und höre beim Eröffnungsspiel Starkommentator Bela "Ich betone Silben wie ich will" Rethy zu, der dank modernster Übertragungstechnik klingt, als modereriere er gerade die versuchte Mondlandung von Apollo 13. Sehe die mit McDonalds zugeschissene Bandenwerbung, werde von "Hitlers Lieblingsbrause" (Guido Knopp) und der deutschen Kreditanstalt - oh, the irony - mit Knalldeppenwerbung zugemüllt, sehe einen FIFA-Korruptionsskandal nach dem anderen, in dessen Verlauf nun auch die Schlichtgestalt des deutschen Fußballs, der Kaiser Franz, der "Ich sehe keine Sklaven"-Beckenbauer verwickelt zu sein scheint (auch super, wie die "Mia san Kriminell"-Führungsriege des FC Bayern immer wieder und öfter mit dem Gesetz in Konflikt gerät: Rummenigge schmuggelt, Hoeness hinterzieht, mitunter Geld und man munkelt eventuell auch Intelligenz und Mentalhygiene, Beckenbauer hat sich mutmaßlich mit einem Schwarzwälder Schinken in irgendeinem mutmaßlichen Sandstaat mutmaßlich bestechen lassen - mutmaßlich, versteht sich), sehe Menschen, die für den Bau einer zwei Kilometer langen Straße vom örtlichen Busbahnhof zum Stadion enteignet wurden: 129 Familien, die ihre Häuser in Recife im Nordosten Brasiliens im November 2013 innerhalb weniger Tage verlassen mussten und die bis auf wenige Ausnahmen noch heute auf eine Entschädigung warten. Die brasilianische Bürokratie wird's schon richten. Was sie nicht richten wird: dass sich nur die exklusiven Mitglieder der besserverdienenden Mittel- und Oberschicht eine Eintrittskarte für das weltweite "Brot und Spiele"-Narkosemittel leisten können, während rund 700.000 Familien im Land in extremer Armut leben und knietief im Favelas-Schlamm stehen, schlafen und essen müssen. Der Bau der neuen Fußballarenen verschlang so viel Geld wie noch bei keiner Weltmeisterschaft zuvor und es wird uns im Nachgang der Spiele hoffentlich mehr als nur eine Randnotiz wert sein, dass viele der aus dem sprichwörtlichen Nichts gestampften Tempel nach der Weltmeisterschaft als sogenannte weiße Elefanten enden werden. Sie werden nicht mehr gebraucht, für den Fußball gleich gar nicht. Schon gibt es Überlegungen, Arenen zu Hotels umzufunktionieren. In denen dann keiner übernachten wird.

Und dann hören wir unseren Bundesgauck davon halluzinieren, dass sich Deutschland für die Erhaltung von Menschenrechten nicht grundsätzlich vom Griff zur Waffe abhalten lassen soll. Dann mal los, stolze Soldaten! Auf zur Copacabana. Menschenrechte schützen.

Und man toleriert diesen ganzen Schwachsinn, wenn man einschaltet. Und zuschaut. Und man toleriert diesen ganzen Schwachsinn, wenn man nicht einschaltet. Und nicht zuschaut. Es ist allerdings trotz emotionaler Verbundenheit zum Spiel und selbst mit einem eingehaltenen Sicherheitsabstand einigermaßen grotesk, sich dieses Schauspiel mit reinem Gewissen anschauen zu wollen. Wir gehören eben dazu, ganz egal, ob man sich unter Ekelkrämpfen dazu durchringt, zuzugucken oder nicht. Abgesehen davon: ich wette den Namen meines noch nicht gezeugten Kindes, dass wir von all diesem Irrsinn spätestens ab Ende August nie wieder einen Ton hören werden. Von China und der Olympiade, über die Menschenrechte und Tibet und Umweltverschmutzung und Propaganda werden wir ja seit 2008 täglich in unseren Systemmedien zugeschissen. Wir haben ja kaum mehr Luft zum Atmen.

Blank When Zero-Band- und auch sonst -Freund Simon hatte sich zur WM 2010 in Südafrika (über die damals stattfindenden Schweinereien liest man heute ja auch immer noch fast minütlich) ein waschechtes Fußballlied ausgedacht und unter professionellen Bedingungen aufgenommen - und jetzt sogar ein Video dazu erstellt. Ein etwas anderes Video, wenn ich das sagen darf. Angesichts der Trilliarden unterirdisch bekloppter, peinlicher, hirnloser, extreme Fremdscham auslösender, intelligenzfeindlicher, mich zum virtuellen Massenmörder machenden Dreckssongs und Drecksvideos von Menschen, die sich ganz offensichtlich weder die eigenen Schuhe zubinden können noch irgendeine Ahnung von Würde und Demut haben, dafür aber über das Selbstbild eines großen, brodelnden Mithaufens verfügen, ist's eine glatte Wohltat.

HIER GEHT'S ZUM VIDEO