14.06.2014

Fairplay'n'Foul

Es ist ein moralisches Dilemma, in dem vermutlich nicht nur ich gegenwärtig stecke, und es ist praktisch unlösbar - was die Situation für einen, der es wenigstens für das eigene Wertesystem immer 100% richtig haben will, nicht substantiell verbessert.

Einerseits mag ich Fußball, also das Spiel an sich. Die Taktik. Den Kampf. Meinetwegen auch den vermeintlichen Pathos, wenn es um das Team geht, als dessen Anhänger oder Sympathisant man sich bezeichnet. Mein Vater hat mich zur Frankfurter Eintracht geführt, und das nicht nur im übertragenen Sinne. Mein erstes live angeschautes Spiel der Eintracht im damals noch unter dem Namen Waldstation firmierenden Tempel des Dramas ging 1985 gegen Werder Bremen. Es war ein furchtbares 0:0. Da war ich sieben oder acht Jahre alt, konnte aber schon mit meiner Mini-Fahne in der Hand "WAS IST GRÜN UND STINKT NACH FISCH? WERDER BREMEN!" singen, sehr zur Belustigung der anderen Besucher der Haupttribüne. Mein Vater hat gelacht, meine Mutter zischelte mir ein empörtes "FLORI!" zu, bevor sie meinem Vater mit vorwurfsvollen Blick aus blitzenden Augen "Von mir hat er das nicht!" an den Kopf warf. Damit war ich der Eintracht verfallen. Ein paar Jahre später stand ich in jedem Heimspiel im Block H. Und ich genoss das, ich schaute mir immer alles ganz genau an. Jeden Spieler, jeden Spielzug. Da hatte von "Event" noch niemand etwas gehört, da ging man ins Stadion, um Fußball zu gucken und um mitzufiebern. Damals waren dann zwar auch nur 20000 Fans im über 60000 Menschen fassenden weiten Rund, gerne auch mal nur 8000, wenn es an einem nasskalten Mittwochabend im November, Nieselregen, 4°C, gegen attraktive Gegner wie Bayer Uerdingen ging und man noch dazu von einer Niederlage ausgehen konnte. Aber die 8000 gammelten dann nicht in der Loge herum und schaufelten sich vor dem Breitbildfernseher sitzend frittierte Schweinehaxen rein.

Wird nur das Spiel betrachtet, ist in meinem Buch eigentlich immer alles in Margarine - auch wenn immer öfter dreißig Grottenkicks toleriert werden müssen, um wenigstens ein Mal ein packendes, spannendes, mitreißendes Duell mitzuerleben.

Törichterweise hört das Spiel nicht nach den 90 Minuten auf. Noch weniger als sonst in der Bundesliga, wenn die Horden besoffener und emotional völlig krankhaft aufgeheizter Deppenkommandos aufeinander losgehen, hört es nach den 90 Minuten in diesen Tagen auf, in denen die Weltmeisterschaft in Brasilien läuft. Seit einem Jahr werden alleine schon die Vorbereitungen mit Großdemonstrationen begleitet, die von der Polizei mit sehr großer Gewalt beantwortet und niedergeschlagen werden. Mehrere Menschen sind seit Beginn der Proteste bereits ums Leben gekommen. Hintergrund sind die Kosten des Großereignisses: mit umgerechnet elf Milliarden Euro (etwa 1,2 Milliarden davon werden von der FIFA gesponsort) ist es die teuerste Weltmeisterschaft aller Zeiten. Und es geht um die daraus resultierende Gängelung des eigenen Volks, dessen Bürger nicht nur "für fünf Euro am Tag ein Stadion bauen (dabei krepieren), damit irgendwelche Oligarchen in Zürich oder Rio noch eine Milliarde reicher werden" (Stefan Gärtner), sondern die Gelder lieber in Bildung und Gesundheit investiert sehen wollen. Und ich sitze hier fett vor mich hindampfend auf der Couch in meinen 100qm Deutschland, trinke irgendeine zusammengepanschte Plörre und höre beim Eröffnungsspiel Starkommentator Bela "Ich betone Silben wie ich will" Rethy zu, der dank modernster Übertragungstechnik klingt, als modereriere er gerade die versuchte Mondlandung von Apollo 13. Sehe die mit McDonalds zugeschissene Bandenwerbung, werde von "Hitlers Lieblingsbrause" (Guido Knopp) und der deutschen Kreditanstalt - oh, the irony - mit Knalldeppenwerbung zugemüllt, sehe einen FIFA-Korruptionsskandal nach dem anderen, in dessen Verlauf nun auch die Schlichtgestalt des deutschen Fußballs, der Kaiser Franz, der "Ich sehe keine Sklaven"-Beckenbauer verwickelt zu sein scheint (auch super, wie die "Mia san Kriminell"-Führungsriege des FC Bayern immer wieder und öfter mit dem Gesetz in Konflikt gerät: Rummenigge schmuggelt, Hoeness hinterzieht, mitunter Geld und man munkelt eventuell auch Intelligenz und Mentalhygiene, Beckenbauer hat sich mutmaßlich mit einem Schwarzwälder Schinken in irgendeinem mutmaßlichen Sandstaat mutmaßlich bestechen lassen - mutmaßlich, versteht sich), sehe Menschen, die für den Bau einer zwei Kilometer langen Straße vom örtlichen Busbahnhof zum Stadion enteignet wurden: 129 Familien, die ihre Häuser in Recife im Nordosten Brasiliens im November 2013 innerhalb weniger Tage verlassen mussten und die bis auf wenige Ausnahmen noch heute auf eine Entschädigung warten. Die brasilianische Bürokratie wird's schon richten. Was sie nicht richten wird: dass sich nur die exklusiven Mitglieder der besserverdienenden Mittel- und Oberschicht eine Eintrittskarte für das weltweite "Brot und Spiele"-Narkosemittel leisten können, während rund 700.000 Familien im Land in extremer Armut leben und knietief im Favelas-Schlamm stehen, schlafen und essen müssen. Der Bau der neuen Fußballarenen verschlang so viel Geld wie noch bei keiner Weltmeisterschaft zuvor und es wird uns im Nachgang der Spiele hoffentlich mehr als nur eine Randnotiz wert sein, dass viele der aus dem sprichwörtlichen Nichts gestampften Tempel nach der Weltmeisterschaft als sogenannte weiße Elefanten enden werden. Sie werden nicht mehr gebraucht, für den Fußball gleich gar nicht. Schon gibt es Überlegungen, Arenen zu Hotels umzufunktionieren. In denen dann keiner übernachten wird.

Und dann hören wir unseren Bundesgauck davon halluzinieren, dass sich Deutschland für die Erhaltung von Menschenrechten nicht grundsätzlich vom Griff zur Waffe abhalten lassen soll. Dann mal los, stolze Soldaten! Auf zur Copacabana. Menschenrechte schützen.

Und man toleriert diesen ganzen Schwachsinn, wenn man einschaltet. Und zuschaut. Und man toleriert diesen ganzen Schwachsinn, wenn man nicht einschaltet. Und nicht zuschaut. Es ist allerdings trotz emotionaler Verbundenheit zum Spiel und selbst mit einem eingehaltenen Sicherheitsabstand einigermaßen grotesk, sich dieses Schauspiel mit reinem Gewissen anschauen zu wollen. Wir gehören eben dazu, ganz egal, ob man sich unter Ekelkrämpfen dazu durchringt, zuzugucken oder nicht. Abgesehen davon: ich wette den Namen meines noch nicht gezeugten Kindes, dass wir von all diesem Irrsinn spätestens ab Ende August nie wieder einen Ton hören werden. Von China und der Olympiade, über die Menschenrechte und Tibet und Umweltverschmutzung und Propaganda werden wir ja seit 2008 täglich in unseren Systemmedien zugeschissen. Wir haben ja kaum mehr Luft zum Atmen.

Blank When Zero-Band- und auch sonst -Freund Simon hatte sich zur WM 2010 in Südafrika (über die damals stattfindenden Schweinereien liest man heute ja auch immer noch fast minütlich) ein waschechtes Fußballlied ausgedacht und unter professionellen Bedingungen aufgenommen - und jetzt sogar ein Video dazu erstellt. Ein etwas anderes Video, wenn ich das sagen darf. Angesichts der Trilliarden unterirdisch bekloppter, peinlicher, hirnloser, extreme Fremdscham auslösender, intelligenzfeindlicher, mich zum virtuellen Massenmörder machenden Dreckssongs und Drecksvideos von Menschen, die sich ganz offensichtlich weder die eigenen Schuhe zubinden können noch irgendeine Ahnung von Würde und Demut haben, dafür aber über das Selbstbild eines großen, brodelnden Mithaufens verfügen, ist's eine glatte Wohltat.

HIER GEHT'S ZUM VIDEO

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