30.01.2016

2015 ° Platz 9




THE NECKS - VERTIGO



Vertigo. Schwindel. 

Mysteriös. Furchteinflößend. 

Das Spiel mit dem Unbekannten. 

Stilistischer Krampf mit zu kurzen Sätzen. 


Das australische Minimal Jazz-Trio hat die Leichtigkeit eingebüßt. Was nicht als qualitative Wertung verstanden werden soll, eher als Beschreibung dessen, was sich auf dem mittlerweile 18. Album als kleine musikalische Polverschiebung äußert. Es wird schwerer, dunkler, dröhnender, und das ist gleichfalls neu: praktisch ab der ersten Sekunde. Wolkenbrüche, Donnergrollen aus der Ferne - und direkt in deine vier Wände. Verwirrung und Orientierungslosigkeit, vielleicht gar ein bisschen Verzweiflung, jedoch immer unüberhörbar autark und erlöst. Das ist ihr Spiel mit der unbedingten Freiheit, nicht nur in der Instrumentierung dieser knapp 44 Minuten, sondern im wesentlichen Mindset, und der Klaustrophobie, der Ohnmacht. Der eigenen Irrelevanz.

Die Auflösungen solcher Ambivalenz sind selten, aber sie sind natürlich ungemein effektiv. Und es sind genau diese Momente auf "Vertigo", die, obwohl grundsätzlich nur mühsam zu dechiffrieren und klanglich mindestens so diffizil und dunkel wie die über- und durcheinander gelegten perkussiven Gewitter, mir fast die Tränen in die Augen treiben, weil sie unvermittelt die Türen zu einer Idee, einem Gefühl der vermeintlich universellen Klarheit und Wahrhaftigkeit öffnen. 

Es hat sehr lange gedauert, das zu erkennen, aber ich empfinde die Artikulation ihrer Ansprache bislang noch auf keiner ihrer Platten so deutlich wie auf "Vertigo".




Erschienen auf Northern Spy Records, 2015.


26.01.2016

2015 ° Platz 10




MONOPHONICS - SOUND OF SINNING


Nach dem eher durchschnittlichen Vorgänger "In Your Brain" aus dem Jahr 2012, das zwar eine Handvoll Hits aufbot, dabei aber viel zu lang geriet und besonders ab der zweiten Albumhälfte deutlich schwächelte, wusste ich zunächst nicht, was ich von "Sound Of Sinning" zu erwarten hatte. Dass die Monophonics eine fantastische Liveband sind, lässt sich via der hochgeladenen Videos auf Youtube bestens nachverfolgen, der Nachweis, ob sie auch im Studio im Stande sind zur Hochform aufzulaufen, stand aber noch aus. 

Um es ansatzweise kurz und schmerzlos zu machen: wir können den großen, grünen Haken rausholen, because they fuckin' can! "Sound Of Sinning" hat den offensichtlichsten Mangel von "In Your Brain" beseitigt und ist hinsichtlich der Spielzeit signifikant kürzer ausgefallen, was die Kompaktheit des Albums logischerweise  ungemein unterstützt. Die Band läuft selbst in den ruhigeren Momenten ihres R'n'B-, Soul- und Funk-Gemischs auf allen Intensitätszylindern und hat jeden überflüssigen Ballast aus ihren Songs entfernt - was zwar ein bisschen auf Kosten der psychedelischen Elemente ihres Sounds geht, der Platte insgesamt aber zu mehr Fokus verhilft.  

Mit "Sound Of Sinning" ist den überzeugten Analogisten, deren Instrumenten- und Equipmentfuhrpark fast ausschließlich aus alten Stücken der 60er und 70er Jahre besteht, das bemerkenswerte Kunststück gelungen, die ihrem Sound innewohnende Pastiche zu überdecken, oder besser: sie umzuwandeln. Mit sprühender Energie und trotz der kraftvollen Umsetzung mit viel Fingerspitzengefühl. Das ist keine alte, rückwärtsgewandte Musik, "Sound Of Sinning" ist zeitloser, deeper Soul.




Erschienen auf Transistor Sound, 2015.


24.01.2016

2015 ° Platz 11




DEXTER STORY - WONDEM


Dexter Storys Debutalbum "Seasons" war eines der besten Alben des 2013er Jahrgangs: bunt, freundlich, spirituell, hoffnungsvoll und mit einer ganz besonderen Weisheit aufgeladen, die mir ganz gelassen "Alles wird gut" ins Ohr säuselte und danach an einem großen Joint zog. Kein Wunder also, dass ich mich sehr auf und über "Wondem" freute. Und da sind wir auch schon wieder - in der Jahresbestenliste des Jahres 2015, ein herzliches Willkommen.

Der fünfzigjährige Multiinstrumentalist hat für sein zweites Album als Bandleader den musikalischen Fokus aufgeteilt. Wo "Seasons" mitten im San Francisco des Jahres 1972 Seifenblasen über Strand und Hanfplantage pustete, hat Story nach einem Erweckungserlebnis als Gastdrummer in Trompeter Todd Simons Bandprojekt Ethio Cali (u.a. mit Kamasi Washington) die Wurzeln und den Spirit äthiopischer Musik untersucht und in sein künstlerisches Schaffen integriert.

"Wondem" ist ein Amalgam aus dem zur kalifornischen Sonne passenden, mit offenem Geist und offenem Herzen verwirklichtem Lebensgefühl und äthiopischem Jazz mit seinen traditionellen Melodien und Gesängen. Story hatte das ostafrikanische Land noch nie besucht und es dauerte tatsächlich bis kurz vor der Veröffentlichung von "Wondem", bis er durch Äthiopien zog, Land und Menschen kennenlernte und sich mit bekannten Musikern des Landes traf, um sich mit ihnen auszutauschen. 

Wie schon auf "Seasons" ist es vor allem die Lebensfreude, die Ausgelassenheit und die kreative Lust am Spiel und an der Musik, die mich so begeistert. Je öfter ich "Wondem" höre, desto offensichtlicher wird die "beautiful soul" dieser Platte. 

Es ist 2015 eine große Leistung, nicht zu einem Zyniker zu werden - Story hat es geschafft, dass selbst ich für ein paar Minuten keiner mehr bin. 




Erschienen auf Soundway Records, 2015.

23.01.2016

2015 ° Platz 12



THE GREG FOAT GROUP - 
THE DANCERS AT THE EDGE OF TIME


Jazz aus dem vereinten Königreich lieferte sich in diesem letzten Jahr ein hartes Duell der Sexyness. Auf der einen Seite stand Matthew Halsall und sein Gondwana Orchestra mit der ausgesprochen entspannten "Into Forever"-LP, auf der anderen die Greg Foat Group mit "The Dancers At The Edge Of Time" und ich will ehrlich sein: ginge es nur nach dem Titel, wäre das Kollektiv rund um Greg Foat der haushohe Sieger. 

Musikalisch ist er's nun auch, wenngleich nicht so überdeutlich. Das innerhalb von drei Tagen in der Saint Catherine's Church auf der Isle of Wight durchgängig analog aufgenommene Werk hatte letzten Endes wegen seiner hypnotischen, versunkenen Stimmung die Nase vorn, wegen seiner nicht religiösen Spiritualität, wegen seiner komplementären Konzepte in der Ansprache und Ausführung und natürlich wegen der zweitschönsten Auslaufrille des Jahres. 

Moderner modaler Jazz kann eine trostlose, stocksteife Angelegenheit sein, dieses vom Pianisten Greg Foat angeführte Ensemble schwingt und swingt, es tänzelt, gräbt sich ein, bricht aus und igelt zusammen, was zusammengeigelt gehört. Fast scheint es, als sei die Geschichte der alten Kirchenmauern in die Köpfe, Hände und Herzen der Musiker gefahren und hätte dabei Zauberwesen vom Planeten Oz gechannelt. Weisheit, Liebe und Verbundenheit. Andächtig in Trance durch Zeit, Raum und Klang schwebend. Wer "Love Theme" gehört hat, weiß was ich meine - und ich würde "Love Theme" auch total gerne verlinken, aber mein Wuntanfall über die GEMA hat mich gerade total aus der Balance gerissen. 





Erschienen auf Jazzman, 2015.


17.01.2016

2015 ° Platz 13





FELIX LABAND - DEAF SAFARI


Gewöhnlicherweise haben die Herzallerliebste und meine Wenigkeit nur selten ernsthaftere Auseinandersetzungen über die getroffene Musikwahl. Selbst wenn Herr Dreikommaviernull einen seiner zwar seltenen, aber dafür eben nicht gerade leisen Thrash Metal-Anfälle bekommt, herrscht, sieht man von vereinzelten Giftpfeilen ab, wenn es ganz arg doll schlimm wird, meistens durchaus Verständnis im Wohnzimmer. Bei Felix Labands "Deaf Safari"-Album sieht die Sache überraschenderweise ganz anders aus, und dabei sind wir von Thrash Metal gleich ganze Universen entfernt. Bei Laband zeigten sich die Giftpfeile eher als die berüchtigten 16t Gewichte Monty Pythons

Ich halte das für eine durchaus gesunde Reaktion auf Musik, jedenfalls ist mir kulturelle Reibung lieber als aalglattes Abnicken und windelweicher Konsum. Für beide letztgenannten Punkte ist der Südafrikaner Felix Laband zumindest auf "Deaf Safari" der falsche Ansprechpartner, aber das liegt weniger an seiner Musik, denn die ist so bunt, künstlerisch, melodisch, blumig und sogar sensibel wie auf dem mittlerweile zehn Jahre alten Vorgänger "Dark Days Exit". Vielleicht sind seine Tracks dieses Mal wegen der satten 4/4 Bassdrum tanzbarer und weniger ätherisch, wofür in erster Linie die verarbeiteten Einflüsse aus dem Kwaito-House verantwortlich sind, einem Musikstil, der sich in den 1990er Jahren entwickelte und zum Symbol für die Veränderungen zwischen den Apartheid- und Post-Apartheid-Generationen wurde. Vielleicht schlägt das die inhaltliche Brücke zu den Vocalloops, die "Deaf Safari" zum Leidwesen der Herzallerliebsten so dominieren und die der Platte soviel Kraft und Energie in die Plattenrillen ritzen: aggressives, schamanisches Gebrabbel und Geschrei, Gebete, Voodoo, Zauberei, Beschwörungen, Verfluchungen bis hin zum Vergewaltigungsbericht aus einer Nachrichtensendung. Es sind diese Gegensätze zwischen einer weitgehend entspannten Musik einerseits und provokanten Stimmen und Texten andererseits, die "Deaf Safari" zu einem inspirierenden und sehr intensiven, manchmal ziemlich unangenehm berührenden Album machen. 

In diesem Zusammenhang empfehle ich den Griff zur im Vergleich mit der digitalen Ausgabe etwas gekürzten Vinylversion, die kompakter und ausgewogener erscheint und damit gegebenenfalls die Nerven etwas entlastet. Der Downloadcode liegt bei, daher geht auch nichts verloren.




Erschienen auf Compost Records, 2015.


16.01.2016

2015 ° Platz 14




ARMORED SAINT - WIN HANDS DOWN



Über Armored Saint zu schreiben ist einfach. Die Verkündung, dass "Win Hands Down" das beste Metal-Album des Jahres ist, und das sogar mit ziemlich weitem Abstand, ist völlig ausreichend. Alles gesagt, bitte anhören und dabei versuchen, die genderneutrale Erektion zu bändigen.

Klassisch-naturgeiles Songwriting "vom Fass" (Matthias Breusch), von gefühlsechten Monstermusikern gespielt, eine irre und unbekümmerte Energie, die das Quintett in beeindruckender Weise von der Bühne auf den Tonträger schaufeln konnte, als sei es das Einfachste der Welt, und eine traumhafte, weil unbedingt authentisch klingende Produktion ohne Plastik-Pomp und ohne künstlich aufgeblasene Masse. Außerdem: John Bush. Hey! John Bush! 

Dazu kommt eine prima gemachte Vinylveröffentlichung als Gatefold-Doppel-LP auf 45rpm in brillianter Pressung mit Texten und Einlegern. 

Auch wenn ich glaube, dass der Vorgänger "La Raza" noch ein ganz klitzekleines Eckchen geiler ist - viel besser kann man einen solchen Sound nicht spielen. Und wenn "Win Hands Down" eines sehr, sehr deutlich macht: wir werden uns alle noch ganz schön umgucken, wenn Bands wie Armored Saint irgendwann für immer das Licht ausknipsen. 





Erschienen auf Metal Blade, 2015. 


13.01.2016

2015 ° Platz 15




FOUR TET - MORNING/EVENING


Zwei Tracks, beide um die 20 Minuten lang. Irgendwas mit Biorhythmus. Eine Seite für den Morgen, eine Seite für den Abend. Riesenüberraschung, ich weiß. Indische Gesänge von der berühmten Sängerin Lata Mangeshkar, gleichzeitig expressiv und introspektiv. Es loopt und loopt und loopt.  

Über beiden Tracks liegt eine spirituelle Aura, da ist etwas über und unter diesen Beats, Frieden und Sonne. Und eine tiefe innere Ruhe, selbst dann, wenn es mit Kieran Hebden und seinen Breakabfahrten durchgeht. Die Tracks alleine geben diese Balance und Ruhe im Grunde nicht her, das hier ist schließlich kein Ambientgeplucker, nein nein: die Bassdrum hält die heilige Sandale hoch und ich folge ihr zur größten Kaffeemaschine der Welt, denn das passt sogar zu einem Typen, der normalerweise am Morgen und vor der zweiten Tasse Kaffee den Zinedine Zidane beim WM-Finale 2006 macht - beziehungsweise: gerne in ruhigeren musikalischen Gewässern aus dem Bett paddelt. Trotz seines munteren Drives lief "Morning" im morgendlichen Home Office zur immerhin ersten Tasse mehr als nur einmal.

"Evening" bekommt unterdessen eine größere Schlagseite zur klassischen indischen Musik ab - immer noch mit einem Gesangsloop, aber die Bassdrum fehlt zunächst. Dafür funkelt's und blitzt's die ganze Zeit. Nach ein paar Minuten, eben verhallte das vermeintliche Ende des Tracks noch im Klangnirwana, kommt plötzlich die HiHat. Und die Bassdrum. Und alles tanzt. 

Kieran Hebden ist einer der glaubwürdigsten und mutigsten Produzenten der elektronischen Musikszene. Diesen Mut in seinen Werken unterzubringen heißt manchmal auch, dass es mal nach hinten losgeht - aber das ist part of the deal. Ich kann damit leben. Hand aufs Herz, im Prinzip gibt es ja eigentlich gerade keinen Besseren. 

Und weil ich das Album in meinem ersten Text bereits via Bandcamp hier einbettete, gibt's hier und heute Hebdens Set aus dem Boiler Room in London. Könnte Sinn machen, die Wohnzimmermöbel vielleicht etwas zur Seite zu rücken. Profitipp. Von mir. Für Dich und Euch.




Erschienen auf Text Records, 2015.

11.01.2016

2015 ° Platz 16





JAZZ SPASTIKS & REBELS TO THE GRAIN - 
UNKUT FRESH



Es gibt derzeit keine lustvollere und mehr Spaß verbreitende Hip Hop-Combo als die Jazz Spastiks. Schon ihr 2014er Album "The Product" zauberte mir ein extrabreites Grinsen ins Gesicht, und auch "Unkut Fresh" bekam ich über Wochen nicht vom Player heruntergezerrt. Das englische Produzentenduo hat sich mit der Truppe Rebels To The Grain aus Los Angeles verstärkt und wenn schon keine ultrahippen Club-Banger, dafür aber edelste jazzy-dusty-moody-deepy-good-oldschool-Vibes zusammengestrickt - alle sind hoffentlich schön druff, druff, druff und doofgekifft, Saxofone, Geklimper, Boom Bap, party like it's the golden age. Mir würde echt was fehlen, wenn ich nicht über "The Product" und "Unkut Fresh" gestolpert wäre. Und während ich mich in meinem Text über "The Product" noch derart darüber ärgerte, die Vinylausgabe schlicht verpennt zu haben, dass ich mich gar an einem geschimmelten Duschvorhang...naja. Wie dem auch sei:





Zusätzlich und in diesem Zusammenhang veröffentlicht: "Unkut Fresh - Instrumentals", ebenfalls auf Vinyl zu haben. Bitte auch hier ganz sorgenfrei zuschlagen.




Erschienen auf Dusty Platter, 2015.

10.01.2016

2015 ° Platz 17




AU.RA - JANE'S LAMENT


Ich muss eine mir bislang weitgehend verborgene Vorliebe für australische Bands haben, zumindest für jene, die tief im Untergrund, im Halbschatten, unter dem Radar fliegen und zu warmgestrulltem Foster's einen schwülen, verhallten Shoegazerock mit geschlagener Magic Mushroom-Sahne spielen. Vor zwei Jahren hatte ich mich in die Absolute Boys verknallt, einem Trio, das mittlerweile und wie bereits befürchtet die Segel gestrichen hat, im Jahr 2015 war es "Jane's Lament" des Duos Au.Ra aus Sydney, das mich immer wieder magisch in Richtung Plattenteller zog.

Ihr schwelender und zugleich funkelnder Sound, wie ein nur noch vor sich hinglimmendes Lagerfeuer aus Klang, bewegt sich nicht nur musikalisch in den Zwischenwelten: zwischen perlenden Gitarren der Londoner Indiestars der achtziger Jahre wie in "You're On My Mind" mit halbwegs aufgeräumtem Laissez Faire-Gestus und verwuschelter Hipsterfrisur, und melodisch-monotonen Noisegroovern eines "Spare The Thought", das den Sex, die Drogen und das Rotlicht (pun intended!) vom frühen Black Rebel Motorcycle Club abbekommen hat, haben Tim Jenkins und Tom Crandles mit "Jane's Lament" aber auch ein Album für die Dämmerung geschrieben. Für die Momente zwischen Wachen und Schlafen, für das Zwielicht. Für einen diesigen Wintermorgen in verkrumpelten, noch schlafwarmen Bettdecken, mit Nichts zu tun - außer den Seelenpartner und eine heiße Tasse Kaffee zu umarmen.

“As the sun sets earlier, this is an album to savor with the dying light.”





Erschienen auf Felte, 2015


07.01.2016

2015 ° Platz 18




ESMERINE - LOST VOICES


Dass mich orchestraler Postrock im Jahr 2015 wirklich nochmal kriegt, ist so absurd wie eine Lebensmittelindustrie, die dem Proletariat eine nach dem Verlassen des Enddarms umgehend tiefgefrorene Verhöhnung von Würde und Anstand zurück in den Verdauungstrakt drückt, und dabei habe ich schon die de facto einzig relevante Postrock-Kapelle - Achtung, Spoiler-Alert! - und ihr neues Album mit dem lieb gemeinten Hinweis ignoriert, sich die 28 Schleifen dahin zu schieben where it smells funny; nicht mal mit Trauersemmelkloß im Hals, sondern selbstbewusst wie eine "Brez'n" (Polt), auch weil die Zeit für ihre zur Schau gestellte urbane Waldschratintellektualität womöglich in der postkapitalistischen Gesellschaft wieder en vogue sein wird, in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur ist sie längst von der Realität überholt, in der Pose festgefroren, die  erhobene Plastikfaust in die verpestete Luft gereckt. Von den Legionen uninspirierter Milchsemmelbands, die im Windschatten des Originals das Distortionpedal nicht mehr finden konnten, wollen wir gar nicht erst anfangen. Wer da immer noch den Schlüpper schwingt - da bekommt man ja fast Mitleid.

Esmerines drittes Album auf, klar: Constellation Records, blieb knapp unter meiner 25-Euro-Grenze für neue Tonträger, und ich bin wirklich ganz entzückt, dass dieser Blind-/Taubkauf den Weg ins Warenkörbchen gefunden hat. Das Quintett, das auf "Lost Voices" mit einer ganzen Reihe von Gastmusikern zusammenarbeitet, entspringt, man möchte fast ein "natürlich" hinzufügen, dem Umfeld des Muttertieres Godspeed You! Black Emperor und seines Ablegers A Silver Mt.Zion und nähert sich vor allem in den rockbetonteren und damit sehr intensiven Momenten des Albums deren Gestus und Gespür für Melodramatik auffällig nah an - und sei es nur wegen des allzuvertrauten Klangs des Instruments von Godspeed-Violinistin Sophie Trudeau. Die Instrumentierung von "Lost Voices" ist der größte Gewinn dieser Platte: Cello, Harmonium, Glockenspiel, Marimba, Vibraphon, Klavier, Darbuka, Riq, Ekonting, Hörner, Sarod und ein Kontrabass sorgen für soviel Theatralik, Opulenz, Schwere und trotz vereinzelt aufblitzender Parallelen zu den genannten Kapellen auch für eine Einzigartigkeit, dass mir das Abkanzeln des bewährten Strickmusters dieser Musik, diesem alten Spiel mit der Laut/Leise-Dynamik, dem behutsamen und minutenlangen Aufbau und der Grandezza gar nicht in den Sinn kommt. 

Ein herausragendes Kollektivwerk, das einem toten Genre wenn nicht unbedingt neues Leben einhaucht, ihm dafür aber eine schöne Blutauffrischung verpasst. Wer hätte alleine das noch für möglich gehalten?




Erschienen auf Constellation Records, 2015. 

06.01.2016

2015 ° Platz 19




MARIBOU STATE - PORTRAITS


Das ist die Platte, die ich mir an Stelle der letzten Enttäuschung von Bonobo ("The North Border") gewünscht hätte. "Portraits" der beiden Engländer Chris Davids und Liam Ivory fischt stilistisch in durchaus ähnlichen Gewässern wie Simon Green: Lockere, nicht zu toughe Beats, eine sommerfrische Downbeat-Ästhetik in der Soundauswahl, soulig-laszive Gesangsstimmen - Musik für den Instagram-Filter "Hazy" und für die Generation der an Biermischgetränken nippenden Elektro-Indie-Gemeinde in Karohemden von H&M.

Zugegeben, das klingt mehr als nur eine Spur despiktierlich, aber immerhin habe ich auch zwei Karohemden von H&M und die Szenephysiker unter meinen Lesern wissen: minus mal minus ergibt plus. "Portraits" ist ein wunderbar stimmiges Sommeralbum zum in die Sonne blinzeln, mit eingängigen Pianomelodien, perfekt aus- und einbalancierten Stimmen wie beispielsweise Holly Walker in "Steal" oder auch Pedestrian in "The Clown", dazu einige echte Hits für den herzhaften Biss in eine saftige Limette - "Rituals" und das swingende "Home" machten mir meinen Sommer so richtig schön ölig, schwitzig und nackig, und als ich die Scheiben für die diesjährige Liste auswählte, musste ich gar nicht in den Untiefen der Sammlung herumwühlen: "Portraits" hielt sich bis in den Dezember wacker im Stapel neben dem Plattenspieler. 

Prima "Songwriting" (Lena Meyer-Landruth) , prima "Fokus" (Jabadahat), prima "Stimmung" (Sven Väth). 





Erschienen auf Ninja Tune, 2015


03.01.2016

2015 ° Platz 20




MS. JOHN SODA - LOOM


Vor einigen Jahren erfreute sich der Blog Rezirezen - ein noch immer anerkennendes Nicken in Richtung Berlin - großer Beliebtheit bei Herrn Dreikommaviernull. Rezirezen widmete sich den schlimmsten Geschmacklosigkeiten der von der Plattentests.de-Redaktion verfassten Plattenkritiken und entblößte die stilistischen, sagenwiresmalhöflich: Unzulänglichkeiten von legendären Sahnesteifschreibern wie Armin Linder und Oliver "Das" Ding auf köstlich-amüsante Weise. Wenig später kamen auch noch die Reviews von der gerechterweise seit knapp sechs Jahren auf der virtuellen Müllhalde vor sich hingammelnden Popcultures.de-Redaktion an die Reihe und also Rezirezen vor die Bloggerflinte: das war sehr gewitzt und charmant geschrieben, und wer sich nicht so irre ernst nahm, konnte selbst als betroffener Autor darüber lachen - nur lachte eben keiner von ihnen. Was immer noch mehr über ebenjene als über Rezirezen aussagt.

Rezirezen hätte mittlerweile mit der alten Tante Spex seine helle Freude. Vielleicht. Über Ms.John Sodas neues Album "Loom" schreibt Christoph "wie Hose" Jacke:

Gegen eine Adiaphorisierung, also Entmoralisierung, im Sinne des Soziologen Zygmunt Bauman. Oder auch gegen den etwas weniger bedrohlichen Verlust einer Utopien offerierenden Popmoderne im Sinne des Journalisten und Zeitdiagnostikers Mark Fisher.

Oder eben gegen Kochlöffel aus Eis oder Hirsebrei mit heißer Himbeerkacke, jedenfalls: wer Rezensionen ohne eine den Tisch anhebende Erektion verfasst, werfe den ersten Stein, aber ich würde den Herrn Zeitdiagnostiker gerne mal fragen, wie weit das Hirn auf halb acht gedreht werden kann, bis das Ei im Kopf wachsweich gegart ist. 

Ich habe mich auch ohne Journalisten, Soziologen und Eierkocher sehr über "Loom" gefreut, immerhin das erste Album des Duos Stefanie Böhm und Micha Acher seit über neun Jahren. Seit 2006 gibt es immer diesen einen Moment in einem Jahr, an dem ich die damals erschienene Platte "Notes And The Like" aus dem Regal ziehe und sie für ein paar Tage, manchmal sogar Wochen, im CD-Player oder auf dem Plattenteller lasse. Es ist dann meistens Herbst oder Winter, und Ms.John Sodas Sucht nach den schönsten Harmonien, dem wolligsten Einkuschelfiepen, den heilenden Farben im grauen Netz und den bittersüßesten Texten ist in den dunklen und kurzen Tagen ein großer Trost. Auch für "Loom" heißt es, melancholisch am heißen Kakao zu nippen - und dennoch fühlt es sich falsch an, nur das große Kuscheln auszurufen: ihre Musik ist vor allem harmonisch komplexer gestrickt, als es auf das erste Hören erscheint und wirkt manchmal gar seltsam unwirklich und entrückt. 

Wenn in den letzten Wochen am Abend eines diskussionswürdigen Arbeitstages der innere Ruf aus der Rumpelkammer der Seele unüberhörbar wurde, das Hirn möge sich doch bitte mal kurz ausklinken und ein Mini-Reset durchführen, dann waren diese angenehm kurzweiligen und wohltemperierten 35 Minuten "Loom" dieses wunderbaren Duos wie eine Therapie gegen den Wahnsinn. 





Erschienen auf Morr Music, 2015.

31.12.2015

"I gave Obama a million dollars and he treats me like I lent him a million dollars."


Ich hab's mir anders überlegt, wir lesen uns doch nochmal in diesem Jahr. Keine große Sache, bitte gehen sie weiter, in ein paar Minuten jedenfalls, denn und aber: es gibt noch eine Kleinigkeit anzuschauen, because it's really freekin' funny.

Nachdem Jon Stewart den Vorsitz seiner "The Daily Show" vor wenigen Monaten an Trevor Noah abgab und die Sendung damit, zumindest in meinem Buch, sehr eindeutig gelitten hat (vielleicht brauchen sowohl mein Köpfchen als auch Noah und seine Redaktion auch einfach nur noch ein bisschen Zeit), bleiben mir aktuell nur noch John Olivers "Last Week Tonight" und Bill Mahers "Real Time" übrig, um auf die Gesellschaft und Politik auf der anderen Seite des großen Teichs zu blicken. Ein paar alte Videos und Gassenhauer des brillianten George Carlin sind auch immer mal wieder dabei, um das Verständnis zu erweitern, Aktualität kann hier aber nicht eingefordert werden - Carlin starb im Jahr 2008.


"Wir Deutschen können sowas nicht." (Harald Schmidt, 1995)


Harald meinte in seinem Kabarettprogramm im Düsseldorfer Kommödchen damals zwar die Verfilmung von klassisch-amerikanischer Screwball Comedy, würde vermutlich heute aber dasselbe zum Format einer politisch-satirischen Talkshow (wie Mahers "Real Time") oder eines satirisch-politischen Wochenrückblicks (wie Olivers "Last Week Tonight") sagen - was er strenggenommen auch schon tat: die "Heute-Show" im zweiten deutschen Staatsfernsehen mit Moderator Oliver Welke bezeichnete Schmidt als "volkstümliche Unterhaltung", weil sie lediglich vorgefertigte Meinungen bestätige.

"Es ist immer eigentlich zu Ende, wenn der eigene Sender sich das auf die Fahne heftet:"Guck mal, was wir uns trauen." - Da wird man also praktisch zu Tode umarmt." (Schmidt, 2014)


Ich halte es derweil mit Hans Mentz und seiner "Humorkritik" zur "The Daily Show": es sei nicht absehbar, dass in Deutschland ähnliche Formate wie in den USA möglich sein werden - aber ab 2019 könnte Jan Böhmermann damit beginnen.


Der konsequenteste Akteur der zuletzt stark ramponierten US-Late-Night-Sendungen ist in meinen Augen Bill Maher (hier und hier bereits belobhudelt). Maher ist aggressiv und polemisch, hat ein Ego in der Größe des verdammten Universums, nimmt sich selbst und seine Themen sehr ernst und hört sich selbst gerne reden - nicht die besten Kombinationen und nicht die besten Kopfnoten, zugegeben, aber ich finde ihn erstens sehr lustig und unterhaltsam und zweitens ist er vielleicht der einzige Fernsehstar, der in einer zu gleichen Teilen tabulosen und konservativen Medienlandschaft derart die große Klappe aufreißt - und der es auch kann; mittlerweile scheint es ihm auch wirklich scheißegal zu sein, bei wem er sich die nächsten Anfeindungen und Morddrohungen abholt. Trotzdem sitzt da immer noch ein Intellektueller, der sich in Rage redet und Mittelfinger und Fuck You's an Talkgäste, Publikum und Politiker verteilt: Maher ist selten plump, dafür immer durchdacht, sehr oft im Doppelboden, dabei aber immer sehr konkret, sehr aufrichtig. Und selbst wenn ich mit vielen seiner Ansichten nicht immer und grundlegend übereinstimme, beispielsweise sieht er Edward Snowden bedeutend kritischer, als ich es tue, ist er immer noch, und ich wiederhole mich: verdammt lustig.

Mitte des Jahres hatte Maher einen sehr erhellenden Clip in seiner New Rules-Rubrik, in dem es darum ging, wie die liberale Elite Amerikas aus Funk und  Fernsehen mit Religion umgehe, und das Ergebnis war etwas überraschend: sie tut es gar nicht. Maher inszeniert sich geschickt als den einzigen Medientypen der USA, der sich als offener Atheist vor ein Millionenpublikum traut und sich gegen das Prinzip der Religion ausspricht. Das ist mein Bill Maher-Lieblingsclip aus diesem Jahr (und ja, ich habe alle anderen gesehen, keine Bange) und den will ich zu Silvester noch schnell mit Euch teilen.