11.11.2017

Bruce Dickinson - Balls To Picasso




Das Leben nach Iron Maiden zeigt Bruce Dickinson auf seinem ersten Solowerk nach seinem Ausstieg bei den eisernen Jungfrauen als Freischwimmer. Das letzte gemeinsame Maiden-Album "Fear Of The Dark" und noch mehr die darauf folgende Tournee und den dabei aufgenommenen, grausamen Livealben "A Real Live One" und "A Real Dead One" zeigten, dass Dickinson nicht mehr glücklich war; auch die restliche Band präsentierte sich weitgehend orientierungslos und wusste nicht mehr, ob sie nun Fisch oder Fleisch spielen wollte. "Balls To Picasso" ist die logische Konsequenz aus den letzten Jahre mit Maiden. 

Das Projekt ging dabei durch mehrere Iterationen, allesamt mit dem Anspruch ausgestattet, den Musiker Bruce Dickinson komplett neu zu erfinden. Das Motto war: strikte Abgrenzung von Maiden, klare Abnabelung von seiner Vergangenheit und damit auch - in Teilen - von seinen Fans. Zunächst arbeitete Dickinson mit der britischen Hardrocktruppe Skin als Backing Band, anschließend folgte eine Session mit Mainstreamproduzent Keith Olsen - und beide Aufnahmen wanderten in den Giftschrank, nachdem die Plattenfirma kalte Füße bekam (die Tracks wurden erst 2005 im Rahmen der Neuauflage des Albums öffentlich gemacht). Schlussendlich wurde Shay Baby aus Los Angeles als Produzent ausgewählt, der Dickinson darüber hinaus mit der Latino Rockband Tribe Of Gypsies und deren Gitarristen Roy Z bekannt machte und besonders von letzterem sollten wir in den folgenden Jahren noch mehr zu hören bekommen.

"Balls To Picasso" experimentiert zwar mit einem deutlich luftigeren, offeneren Sound und einer Menge ungewöhnlicher Rhythmen, hält sich aber immer noch deutlich im Kosmos zeitgenössischer Rockmusik auf - nicht zuletzt wegen Dickinsons Stimme, deren Ursprung aus Downtown Rockröhrenhausen er auch mit den größten experimentellen Ambitionen einfach nicht verstecken kann, auch wenn er es beispielsweise im poppigen "Change Of Heart" (siehe das Video unter diesem Text) sehr offensichtlich versucht. Für mich ist "Balls To Picasso" dank herausragender Songs wie "Hell No", "Cyclops" und dem fantastisch gesungenen "Gods Of War" sein zweitbestes Soloalbum, ganz besonders wegen des neuen Sounds, des frischen Vibes und der Aufbruchstimmung - die im Grunde nur durch das sehr konventionelle und damit auch - logisch! - kommerziell erfolgreiche "Tears Of A Dragon" gestört wird, einem zwar guten, aber im Albumkontext leicht deplatziert wirkenden Song. 

Die immer wieder kolportierte Nähe zum damals angesagten Alternative Rock lässt sich allerhöchstens in Spurenelementen nachweisen, etwa bei dem mit fixem Sprechgesang versehenen "Sacred Cowboys" - darüber hinaus ist "Balls To Picasso" ein frisches, mit zahlreichen Hits gespicktes und in Teilen ungewöhnliches Rockalbum mit eigenem Sound und einer eigenen, ganz besonderen Stimmung. Auch wenn das Boot eigentlich in eine andere, weitaus experimentellere Richtung hätte fahren sollen, bevor das Label den Notanker auswarf, muss Dickinson hoch angerechnet werden, das Boot überhaupt betreten und den Kompass richtig eingestellt zu haben. 

Dass die Mär von "genau dem Album, das ich zu 100% machen wollte" für zehn Jahre Aufrecht erhalten wurde, bis Keith Olsen und Shay Baby den Einfluss und die Intervention des Labels, beziehungsweise des Managements öffentlich machten, spricht erneut Bände über das Musikbusiness einerseits und den gemeinen Rockfan andererseits - eine Symbiose, die jede Kreativität und jeden Fortschritt im Keim erstickt. Es lebe der Stillstand. 
  




Erschienen auf EMI, 1994.

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