13.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 2 ° Wanderwelle - Gathering Of The Ancient Spirits




WANDERWELLE - GATHERING OF THE ANCIENT SPIRITS



Den härtesten Kampf mit der Leere auf dem virtuellen Blatt Papier und jener im eigenen Kopf musste ich für den aktuellen Jahresrückblick mit "Gathering Of The Ancient Spirits" austragen. Das hat zwei Gründe. Einerseits war ich sehr spät dran: ich schlief für die Erstpressung dieses Juwels den Schlaf der Gestörten und wachte erst auf, als erstens die Preise für das schön anzuschauende gelbe Vinyl in absurde Höhen kletterten, und ich mich zweitens auf den Repress - diesmal auf blauem Vinyl - freuen konnte. Meine anfänglich nur mit wenig Konfetti schmeißende Libido lässt sich indes auch mit dem ausbleibendem Kniefall vor Wanderwelles Debutalbum "Lost In A Seas Of Trees" erklären, das mich im Jahr 2017 offenbar auf einem falschen Fuß erwischt zu haben schien und letzten Endes an mir ähnlich folgenlos abprallte wie kognitives Leistungsvermögen an der substantia alba von Ulf Poschardt. Und bis ich mich unfallfrei dazu entschließen kann, vom falschen auf den richtigen Fuß umzutänzeln, braucht es hin und wieder ein Weilchen.

Andererseits ist da eine gewisse Furcht, in den ubiquitären Chor vom Ambient-Rezensionen einzustimmen, der wie auf Knopfdruck Begriffe wie "Kopfkino" (es wird tatsächlich immer fucking noch verwendet; vgl. "zeitnah") oder Flug-Analogien ausspuckt. Manches braucht nicht nur Zeit, sondern ab und zu tatsächlich auch mal sowas wie einen Gedanken, einen gescheiten noch dazu. Und es braucht die Basis aus beiden: Inspiration.

"Gathering Of The Ancient Spirits" liefert mir auf zu vielen Ebenen eher zu viel Inspiration - und daraus folgen unweigerliche Kapazitätsengpässe im Oberstübchen: wie fange ich an, über diese Musik zu schreiben? Ich habe sowas noch nicht gehört. Und eigentlich habe ich sowas auch noch nie gefühlt. Und hier könnte diese Rezension zu Ende sein.

Das Produzenten-Duo aus Amsterdam widmet sich auf diesem Konzeptalbum den letzten Jahren des Künstlers Paul Gauguin und seinen Reisen in die Südsee. Gauguin brach erstmals im Jahr 1891 in Richtung Tahiti auf, um das in seiner Fantasie ausgemalte unberührte Paradies zu finden, weit entfernt von seiner Heimat Frankreich, weit entfernt von den Sitten Europas. Er schuf dort Bilder und Holzskulpturen, die weniger ein tatsächliches Abbild dessen waren, was er dort sah und erlebte, als viel mehr die Projektionen seiner Vorstellungen und Hoffnungen eines solchen Lebens in Abgeschiedenheit. Als er zwei Jahre später nach Frankreich zurückkehrte und die dortige Bevölkerung seinen Arbeiten die kalte Schulter zeigte, verließ er seine Heimat ein zweites Mal. Dieses Mal sollte er nicht zurückkehren: er starb 1903 auf Hiva Oa, einer Insel des abgelegenen Marquesas-Archipels. Wanderwelle erzählen über das Leben und die Erlebnisse Gauguins in dieser Zeit.

Hier ist die Synopsis zum Album zu finden. http://silentseason.com/ssv13/

"Gathering Of The Ancient Spirits" ist geheimnisvoll. Getrieben. Unheimlich. Und es steht eigentlich ein paar Stufen über fast allem. Stilistisch, weil die Kombination aus Dubtechno, Ambient, Electronica und Tribal so einzigartig ist. Auf der Metaebene, weil die Musik in Verbindung mit den wortlosen Erzählungen über Natur, Kunst, Leben und Spiritualität und dem umwerfenden Coverartwork plötzlich mehr wird, als nur Klang.

Es ist ein Kunstwerk. Und ich bin ehrlicherweise davon überfordert.


Pressung: +++++ (Makellos)
Ausstattung: +++++ (Gelbes/Blaues Vinyl, Gatefold-Cover, ausführliche Liner Notes, großartiges  Art-Design)





Erschienen auf Silent Season, 2018.

07.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 3 ° The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


Es ist oftmals eine Herausforderung für mich, über alte Bekannte zu schreiben, solche zumal, die zu den Stammgästen auf Dreikommaviernull gehören. Ich habe in den letzten 12 Jahren gleich sieben Mal über The Sea And Cake geschrieben - und das, obwohl die Band in dieser Zeit nur drei Platten veröffentlichte. Eigentlich ist über sie und meine besondere Verbindung mit ihnen alles gesagt, alle Huldigungen sind gefühlt hundertfach ausgesprochen, sämtliche Fanbrillen längst ins Gesicht zementiert, die LP-Sammlung wird gehegt und gepflegt und ist dabei nicht nur komplett, sondern wegen den von Thrill Jockey farblich einzigartig designten Vinylreissues aus den letzten zwei Jahren sogar überkomplett. Schon wieder muss Polt zitiert werden, denn: "mehr habe ich nicht hinzuzufügen!". Eigentlich. 

Vielleicht aber doch noch eine Kleinigkeit. 

"Any Day" war nach sechs Jahren Funkstille ein zwar erhofftes, aber nicht notwendigerweise erwartetes Comeback. Bassist Eric Claridge musste aus gesundheitlichen Gründen sein Engagement bereits vor einigen Jahren beenden, Schlagzeuger John McEntire ist mit Tortoise und Studiojobs ausgelastet, Gitarrist Archer Prewitt arbeitet als selbstständiger Illustrator und Zeichner und Sam Prekop ist in seiner Heimatstadt Chicago aktiver und erfolgreicher Künstler. Die Annahme, dass sie alle nach 25 Jahren Bandkarriere und vermutlich auch nicht erst seit gestern nicht mehr auf The Sea And Cake angewiesen sind, um sich entweder kreativ zu betätigen oder um nur banal die Zeit totzuschlagen, ist wohl nicht allzu abenteuerlich. So löste die Ankündigung für ein neues Studioalbum nichts als große Freude bei mir aus - die sich angesichts der ebenfalls erfolgten Bekanntgabe eines Konzerttermins in Frankfurt im Juni 2018 gar zu einer - Pardon! - prachtvollen Erektion ausweitete.

Ich schrub kürzlich über die sehr gute Band Tocotronic, dass deren 2018er Album "Die Unendlichkeit" zu einem Lebensgefühl, einem Begleiter wurde. Ohne das Urteil weder für die einen noch die anderen verwässern zu wollen, und ich bin mir des möglichen Risikos hierfür durchaus bewusst, aber ich kann, nein: muss! dasselbe nicht nur über "Any Day" in den virtuellen Notizblock kritzeln, ich muss es auf die ganze Band ausweiten. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der langen Pause lag, in deren Verlauf zwar kein Frühling und kein Sommer ohne eine geradewegs hypnotische, aber auch nach Jahren der Auseinandersetzung irgendwie abgeklärt durchgewunkene Phase mit ihrer Musik verging, dass mich die Band sogar über das bekannte Maß hinaus so tief traf wie noch nie zuvor - und wer meine früheren Einlassungen zu The Sea And Cake kennt, wird verstehen, warum das etwas Besonderes ist. Oder lag es an meinem fortgeschrittenen Alter und meinen bestenfalls in gleichem Ausmaß fortgeschrittenen Erfahrungen, Gedanken, Einsichten? Und warum muss es eigentlich immer ein "oder" sein? 




Mir ist den letzten zehn Jahren in einigen wenigen Fällen eine neue und bedeutend intensivere Liebe zu Bands aufgefallen, die ich zwar schon früher längst auf den musikalischen Olymp geschoben hatte, aber plötzlich einen extragroßen Schubser in den fast schon ätherisch zu nennenden Bereich mitnehmen konnten, in dem die Luft selbst für Götter dünner wird. Ein gutes Beispiel sind King's X, die ich mittlerweile in jedem vorstellbaren Universum und für jeden vorstellbaren Aspekt für völlig unantastbar halte und für die meine Anerkennung weit über Alben, Songs oder Texte hinausgeht. Es ist eher der schier endlose Respekt für das Lebenswerk voller Kreativität, Virtuosität, Durchhaltevermögen, Freundschaft, Zusammenhalt, Inspiration, Freiheit, Offenheit, Hingabe und Leidenschaft. 

Ich habe diesen schier endlosen Respekt im letzten Jahr auch für The Sea And Cake gefunden. Ihr Zusammenspiel, ihre Subtilität, ihre Virtuosität, ihr Entdeckerdrang und ihre Ausstrahlung sind völlig einzigartig. Niemand klingt so wie diese vier Musiker, niemand sonst spielt diese feinstoffliche Musik so filigran, so präzise - und dabei gleichzeitig so mühelos und lebhaft. Ich habe heute das Gefühl, "Any Day" hat mich an den Punkt im Universum von The Sea And Cake gebracht, an dem ich den 360° Blick über all das habe, was diese Band im Kern ausmacht, was sie wirklich ist - und diesen Blick dabei jederzeit bis in die engmaschigste Nuance ihres Sounds vergrößern kann, um sie von allen Seiten zu betrachten. Sie funkeln und leuchten zu sehen. 

Der Superzoom ins Reich der Götter. 




Live at KEXP:




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018.

01.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 4 ° Earth House Hold - Never Forget Us




EARTH HOUSE HOLD - NEVER FORGET US


"Memories. Because that's what we are, really. Memories." (Penelope Wilton)

Vielleicht liegt's an meiner katholischen Erziehung und der endgültigen Demütigung, gar in der Funktion als Messdiener Gottesdiensten beigewohnt und erwachsenen Menschen beim Ausleben ihrer zerebralen (und immerhin nicht erektilen) Dysfunktion erlebt zu haben, vielleicht ist es der Wunsch nach Vertrautem und am Ende des Tages: nach Sicherheit, Rituale so anziehend zu finden, dass ihre erfolgreiche oder -lose Integration in den Alltag über meine Gemütslage entscheiden können. Und vielleicht kommt es auch mit dem fortgeschrittenen Alter, denn noch vor fünf Jahren wäre das mit der Herzallerliebsten gemeinsame Einnehmen des ersten Kaffees am Morgen wegen unterschiedlicher Prioritäten und daraus resultierendem Zeitmangel unvorstellbar gewesen - heute ist es im besten Fall eine ganze Stunde quality time, die wir für die restliche Zeit des Tages nur selten im Überfluss kredenzt bekommen. Zumal in einem morgendlichen Setting, das einerseits noch so viel Verheißung und Hoffnung auf das, was da heute noch kommen mag verspricht (verbunden mit der nachhallenden Freude darüber, dass es dem "lieben Gott" (Rudi Assauer) offensichtlich noch nicht einfiel, unserer Existenz über Nacht ein jähes Ende zu bereiten), und andererseits noch ohne den nach Feierabend auf Seele und Herz verspritzen Klärschlamm der Lohnarbeit auskommt, der zur Ausführung halbwegs strukturierter menschlicher Interaktion und kognitiver Prozesse bisweilen etwas hinderlich sein kann. 

"Warum erzähle ich ihnen das, Hundskrüppel?" (Polt, o.s.ä.) 

"Never Forget Us", beziehungsweise die Auseinandersetzung mit "Never Forget Us" ist in meinem Emotionszentrum eng mit dem beschriebenen Ritual und den darin gemalten Bildern verknüpft. Das liest sich banal, und ich muss sie enttäuschen: vermutlich werden Sie, werter Leser, das schale Gefühl ebenjenes Banalen auch mit den nächsten Sätzen weder von der Netzhaut noch von ihrem Lebenszeitkonto kratzen beziehungsweise streichen können. Es muss sein, halten Sie sich fest: ein leichter Nieselregen an einem trüben, aber dennoch atmosphärischen topgelaunten und üerraschenderweise hellen Frühlingstag (jetzt besonders stark sein: ich teile diese helle Toplaune nur ganz selten!), eine leichte Brise Petrichor durchs gekippte Fenster, die sich mit dem Duft einer frisch gebrühtem Tasse Kaffee verbindet. Dazu - jetzt wird's final so richtig Punkrock: ein Spritzer Acqua di Parma aufs frischgebügelte und mittlerweile drei Nummern zu große hellblaue Hemd und "Never Forget Us" von Earth Hose Hold auf dem Plattenteller - das Vinyl selbstverständlich in enger farblicher Abstimmung mit der Oberbekleidung, nämlich auch in blau, wenn auch etwas deutlicher ins türkise/petrolige marschierend. Earth House Hold ist ein Alias von Brock van Wey - auf diesem Blog hauptsächlich Stammgast unter seinem Moniker bvdub - und nach langen Jahren des Planens und Wartens endlich auf A Strangely Isolated Place vertreten. 

Ich kann nicht mal sagen, ob sich das eben beschriebene Szenario wirklich eines Tages mal so abspielte; ich meine, wann bitte hat letzten Frühling mal geregnet, "LOL"(Till Schweiger), aber die emotionale Bindung zu dem Moment, der für mich grob unter "pures Glück" abgespeichert ist, ist stark - so stark, dass selbst der dunkle und nasskalte November in die Flucht geschlagen würde. Jedes neuerliche Hören von "Never Forget Us" bringt mich an einen guten Ort. Einen Ort der Ruhe und Kontemplation. Meditation. 

Wie klingt es? Vielleicht tatsächlich wie etwas, was bisher noch nicht zu hören war. In meinem letztjährigen Instagram Beitrag zu "Never Forget Us" schrub ich von atemberaubenden "next level sounds", weil ich die Kombination aus Brocks opulenter Ambientbühne, seinen klassischem Deephouse-Erinnerungen und den typisch souligen Vocalsamples einerseits, und der daraus erwachsenden Atmosphäre aus schwebender Melancholie und funkelnder Euphorie andererseits in dieser Form vorher noch nie gehört hatte. Möglicherweise gibt es aus diesem Grund auch einen Anteil in dieser Musik, der fremdartig erscheint, wie nicht von dieser Welt. Und ebenfalls möglicherweise ist es kein Zufall, eine weitere, eine zweite Platte in dieser einen entdecken zu können. Spielt man "Never Forget Us" nicht wie vorgesehen auf 33rpm, sondern auf 45rpm ab, morpht die Aura des Albums deutlich in Richtung House und entwickelt eine ganz eigene Dynamik, ohne dabei aber auch nur einen Beat der eigenen Identität zu verlieren. Auf links umgekrempelt, aber immer noch derselbe Stoff, aus dem die Träume sind. 





Eine auf mehreren Ebenen außergewöhnliche Platte, die angesichts Brock's bisherigem Schaffen mit der deutlichen Fixierung auf House unter diesem Projektnamen besonders stilistisch überrascht. A Strangely Isolated Place Labelboss Ryan Griffin berichtet, dass er und Brock schon lange über eine Zusammenarbeit nachdachten und nur auf den richtigen Moment warteten, bis Brocks Musik endlich (und erstmals) auf ASIP erscheinen sollte. "Never Forget Us" teilt die Leidenschaft und den Respekt der beiden Männer an den frühen klassischen House-Sound, der sowohl Inspiration als auch Basis für Brocks Musik ist und ist damit die perfekte Ergänzung zum Labelportfolio: Für mich ist "Never Forget Us" ein Gamechanger - ein Album, das in seiner Ausrichtung, seiner Ausstrahlung neues, bisher unberührtes Terrain betritt - im Außen und im Innern. Die Einführung in Brocks Musik mit dem Album "The Art Of Dying Alone" hat mein Leben verändert, und es hat auch neun Jahre später nicht aufgehört. Wie so viele seiner Veröffentlichungen hat auch "Never Forget Us" an meinem Lebensrad gedreht und wenn ich ich die Kamera von hier auf das große Bild aufziehe, dann hat es sich vermutlich schon lange nicht mehr so schnell gedreht. 


Pressung: ++++ (Bisweilen leise Pops, die aber das Gesamtbild nicht stören)
Ausstattung: +++++ (Klappcover, dicke, aber ungefütterte Papp-Innenhüllen, türkisblaues Vinyl. Fantastisches Art-Design)





Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2018.

23.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 5 ° Fates Warning - Live Over Europe




FATES WARNING - LIVE OVER EUROPE


Hand aufs Herz und in die Hose: wann haben Sie, werte Leserin, werter Leser, zum letzten Mal das Bedürfnis verspürt, eine Liveplatte zu hören, ärger noch: ein solches Exemplar zu kaufen? In meinem Freundeskreis ("...also ich hab' ja keinen, aber..." - H.Schmidt) sind Livealben so unpopulär geworden wie, die Übertreibung sei mir aus dramaturgischen Gründen gestattet, einem Kaffeeklatsch der AFD Eisleben - Kommando "Hirnschlag" - persönlich beizuwohnen, was angesichts der gleichzeitigen Bedeutsamkeit so mancher oller Schinken für's eig'ne Sein und Tun zunächst merkwürdig erscheinen mag. In diesem Zusammenhang: täusche ich mich, oder waren auf Plastik verewigte Liveaufnahmen früher nicht doch signifikant wertvoller, i.S.v. relevanter, sowohl für die damit möglicherweise noch idenditätssuchenden Bands, die sich nicht zuletzt mit der Performance auf den Bühnen dieser Welt einen Ruf erarbeiten und erspielen mussten, als auch für den Fan, der die im Vergleich mit den Studioalben oftmals lebhafteren, vielleicht gar rauheren Liveversionen genießen wollte - oder der wegen der Ungnade der suburbanen Geburt zur nächstgrößeren Stadt eine dreitägige Pilgerfahrt auf sich hätte nehmen müssen, um seine Lieblingsbands zu sehen? 

Kommerziell spielten Liveplatten, wenn sie nicht gerade aus dem und für den Mainstream heraus produziert wurden, meistens keine große Rolle. In meiner eher untergründlich geprägten Schwermetall-Adoleszenz wurden sie meist schnell und ohne großes Promo-Tamtam etwas lieblos als Überbrückung zwischen zwei Studioalben gequetscht und waren in erster Linie Sammlern und Fanatikern vorbehalten. Mit Liveplatten getätigte gewichtige Statements sind rar, aber für mich gibt es sie nichtsdestotrotz: Iron Maidens "Live After Death", Slayers "Decade Of Aggression", "Another Lesson In Violence" von Exodus, "Lives" meiner Lieblinge von Voivod, Spocks Beards "The Official Live Bootleg", um nur fünf zu nennen, zählen für mich gar zur musikalischen Grundversorgung und finden sich bis heute regelmäßig auf dem Plattenteller wieder. Außerdem, und damit bekommen wir die Kurve zu "Live Over Europe", tummelt sich "Still Life" von Fates Warning auf den vorderen Plätzen; das erste und bislang einzige Livedokument der von Gitarrist Jim Matheos angeführten Progressive Metal-Legende. "Still Life" erschien 1998 und beinhaltet neben Klassikern wie "The Eleventh Hour", "Point Of View" und "Monument", die bis heute fester Bestandteil des Fates'schen Livesets sind, als Kernstück das ein Jahr zuvor veröffentlichte "A Pleasant Shade Of Grey"-Epos in kompletter und livehaftiger Aufführung und war somit bis ins Jahr 2018 hinein die einzige Möglichkeit, die Band abseits der Konzertclubs und also auf der heimischen Anlage live zu erleben. 

"Live Over Europe" war daher unbedingt notwendig - nicht zuletzt durch die nach langen Jahre der Stille gelungenen und triumphalen Rückkehr des Quintetts mit den beiden Alben "Darkness In A Different Light" und ganz besonders "Theories Of Flight", das sich aus meiner unerheblichen Sicht anschickt, sich zu einem modernen Klassiker des Progressive Metal zu entwickeln. Angesichts des neuerlichen kreativen wie erfolgreichen Bandfrühlings entschloss man sich, die im Januar und Februar des vergangenen Jahres durchgeführte Europatournee für das erste Livedokument seit 20 Jahren mitzuschneiden und darüber hinaus mitzufilmen, aber abgesehen vom unten eingebetteten Video, lässt die Verfilmung eines vollständigen Konzerts weiter auf sich warten. 

Das Label Inside Out gab für das Projekt glücklicherweise grünes Licht für ein Mammuttprogramm: die Band puzzelte um einen festgelegten Setlist-Nukleus jeden Abend andere, neue Songs hinzu, ersetzte hier einen komplexen Longtrack mit einem hörerfreundlichen vier Minuten Riffrocker, tauschte da einen US-Metal-Banger aus dem Ray Alder-Pleistozän mit einer live nur selten aufgeführten Akustikballade - und hatte am Ende Aufnahmen von nicht weniger als 23 Tracks auf die Festplatte genagelt, die sich nun auch allesamt auf "Live Over Europe" finden lassen. Die einzigen beiden Wermutströpfchen sind das immer noch ärgerliche und stumpf nervende "Pieces Of Me", das seinen Weg unerklärlicherweise immer wieder in die Setlist findet, und das - von "Part XI" abgesehen - Fehlen von weiteren "A Pleasant Shade Of Grey"-Songs, auf die man vermutlich wegen der Existenz von "Still Life" und dem Wunsch, so viele unterschiedliche und bis dato live unveröffentlichte Songs wie möglich unterzubringen, verzichtet hat. 

Beides ist indes locker zu verschmerzen, wenn sich der Rest in Reichweite schierer Perfektion abspielt: außergewöhnlicher Klang, einzigartige Atmosphäre, herausragende Spieltechnik, legendäre Hymnen des Progressive Metals - gesungen von einem der besten und ausdrucksstärksten Sängern aller Zeiten: Ray Alder singt 2018 besser denn je - trotz fortgeschrittenem Alter und dem anhaltendem Drang, sich mit Kippen die Lunge zu teeren, ist er auf dem sicherlich dezent bearbeiteten Material auf "Live Over Europe", aber eben auch an jenem Abend im Colos-Saal zu Aschaffenburg stets der unumstrittene Herrscher über Raum, Zeit, Ton, Ausstrahlung, Intimität, Kraft und Poesie. Die Band saust zu gleichen Teilen filigran wie kraftvoll durch die mit Ray verbrachten 30 Jahre Fates Warning (Songs aus der John Arch-Ära bleiben wie immer außen vor), und ich freue mich ganz besonders über den mit "Pale Fire" bedachten "Inside Out"-Besuch, das atmosphärisch glänzende "Wish" und den Longtrack "And Yet It Moves" vom Comebackalbum "Darkness In A Different Light", der am oben erwähnten Abend in Aschaffenburg zu ersten Mal überhaupt gespielt wurde und tatsächlich noch etwas holperte, in der nun vorliegenden Fassung aber überaus tight und schlicht umwerfend klingt. 

Erwartbarer Höhepunkt von "Live Over Europe" ist derweil die Interpretation von "The Light And Shade Of Things"; einem Song, der seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2016 wenigstens in meinem Buch zu einem der größten Metalsongs aller Zeiten heranreifte und längst auf einer Stufe mit all dem steht, ohne das das Leben zwar denkbar, aber sinnlos wäre. Ich weiß nicht, wo Jim Matheos und Ray Alder nach ihrer seit über 35 Jahren andauernden Karriere als Musiker noch diesen durch die Tiefsee rauschenden Seelenretter mit seinen fuckin' Jahrtausendharmonien hergeholt haben. Ich hoffe, ich werde nie zu alt, doof oder gar tot sein, um diesen Song zu hören, zu umarmen und zu lieben.

"Live Over Europe" ist nicht nur ein phänomenales Livealbum, es dient ebenfalls als Retrospektive auf dreißig Jahre einer sich immer wieder neu erfindenden Band, die ganz besonders seit ihrem Comeback zunächst in einen kreativen Jungbrunnen gefallen, und anschließend runderneuert, euphorisch und mit ungeahntem Energielevel aus ebenjenem herausgekrabbelt ist. 

Ich kann vor dieser Leistung gar nicht genügend Hüte ziehen.


Pressung: +++++ (Wahnsinnig gut. Umwerfender Klang ohne das klitzekleinste Störgeräusch.)
Ausstattung: +++++ (3-LP Set mit beigelegter Doppel-CD im Gatefoldcover. Gefütterte Innenhüllen.)


Das folgende Video wurde zu großen Teilen beim Konzert in Aschaffenburg aufgenommen, bei dem auch Frau und Herr Dreikommaviernull im Publikum waren. Wer unsere Hände, Arme und Gesichter entdeckt, darf sie sich via Standbild ausdrucken und sich an die Wand hängen (z.B. Gästeklo):




Erschienen auf Inside Out Music, 2018.

17.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 6 ° John Coltrane - Both Directions At Once: The Lost Album



JOHN COLTRANE - BOTH DIRECTIONS AT ONCE - THE LOST ALBUM



Ich schreibe nicht gerne über Coltrane. In den beinahe 12 Jahren, die dieser Blog existiert, gibt es exakt keinen einzigen Artikel zu einer seiner Aufnahmen, während die Stichwortsuche immerhin gleich mehr als zwei Dutzend Beiträge ausspuckt. Ich war immer der Auffassung, sein Werk sei ohnehin in Trilliarden Aufsätzen, Rezensionen und Analysen schon bis ins letzte Detail dechiffriert worden - und meistens von Leuten, die das besser können als meinereiner. Coltrane gehört eben zum Kanon, und auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass er mit allem vorstellbaren Fug und Recht auch da reingehört, ziehe ich es vor, allzu offensichtlich erscheinende Fingerübungen über Ubiquitäres von diesem virtuellen Tagebuch fern zu halten. Außerdem, und das ist sehr wahrscheinlich der schwerwiegendere Grund für meine Entscheidung: ich konnte bis heute keine Worte für das finden, was er mir mit seiner Musik bedeutet. Beziehungsweise: ich habe mich nicht mal getraut, nach ihnen zu suchen. Nicht, dass es sich nun im März 2019 grundlegend geändert hätte, aber wir ja hier "ja aus...ääähh...Gründen".

Mein Leben wäre ohne die Entdeckung von "A Love Supreme" im Winter 2005 sicherlich anders verlaufen, und trotzdem gibt es einen Vorläufer zu dieser Sternstunde, der für deren Entdeckung noch wichtiger war: das Debut des SF Jazz Collective, von einem Mitarbeiter des Media Markts Wiesbaden fälschlicherweise ins Electronica-Fach einsortiert und mit einem mich sehr neugierig machenden Coverartwork ausgestattet, brachte mich erstens zum Jazz und dadurch zweitens zu "A Love Supreme". Einmal eigetaucht, gab es keinen Weg zurück. Bis heute versuche ich es vor allem mir selbst zu erklären, was die Faszination ausmacht. Was bringt mich dazu, schon ab der ersten gespielten Note von "Acknowledgment" funkensprühend von diesem Klang eingenommen zu werden? Bis heute bleibe ich mir eine zufriedenstellende Erklärung schuldig. Vielleicht ist es auch schlicht zu akzeptieren, manchmal einfach keine Antworten zu haben.

Dass wir im Jahre 2018 überhaupt nochmal über Coltrane im Rahmen einer Jahresbestenliste sprechen müssen, grenzt an ein Wunder, das der Saxofonist und Weggefährte Coltranes Sonny Rollins mit dem Fund einer neuen Kammer in der Cheops-Pyramide vergleicht. Die Aufnahmen der vielleicht größten Jazzband aller Zeiten mit Elvin Jones am Schlagzeug, Jimmy Garrison am Bass und McCoy Tyner am Piano fanden im Jahr 1963 in den Studios des legendären Produzenten Rudy van Gelder statt - und verschwanden danach für 55 Jahre im Nirgendwo. Coltrane stieß 1961 zum damals neu gegründeten Impulse!-Label und es mag nun trefflich darüber spekuliert werden, warum die beiden Chefs Bob Thiele und Creed Taylor die Aufnahmen nicht veröffentlichten. Tatsächlich geschah noch weitaus Schlimmeres als nur das: nachdem die Mastertapes zunächst einige Jahre im Archiv des Labels lagerten, wurden die Bänder im Zuge von Aufräumarbeiten wegen Platzmangels zerstört. So ist es lediglich Rudy van Gelder zu verdanken, heute in die Geschichte zurück hören zu können: er überließ dem Saxofongiganten nach Abschluss der Session einen Originalabzug der Aufnahmen, der sich nun wieder im Nachlass von Coltranes verstorbener ersten Frau Naima wieder fand. Coltranes Sohn Ravi vollendete die Produktion für diese Wiederveröffentlichung.

Dabei kommt es immer wieder mal vor, dass bislang unveröffentlichte Liveaufnahmen großer Jazzmusiker gefunden werden, manchmal auch mehrere Jahrzehnte nach ihrer Entstehung. Vor wenigen Monaten schrub ich beispielsweise an dieser Stelle über ein vergessenes Livedokument des Pianisten Bill Evans. Auch für Coltrane gab Überraschungsfunde. Da ist zum einen das 1957 im Rahmen des Benefizkonzerts "Thanksgiving Jazz" aufgenommene Gipfeltreffen in der New Yorker Carnegie Hall mit Thelonious Monk, dessen Aufnahmen im September 2005 erstmals veröffentlicht wurde, nachdem die Bänder knapp 48 unentdeckt in der US-Amerikanischen Kongressbibliothek standen. Oder das ebenfalls 2005 präsentierte Livealbum "One Down, One Up" mit Radioaufnahmen aus dem Jahr 1965, das den damaligen Entwicklungsstand des großen Coltrane-Quartetts dokumentiert und gleichzeitig offenlegt, warum Tyner und Jones nur kurze Zeit später die Band verlassen sollten. Gerüchte über einen möglicherwiese zu jener Zeit einsetzenden LSD Konsums Coltranes erscheinen im Lichte der Aufnahmen nicht all zu weit hergeholt: der Titeltrack, damals bekanntes Forschungsobjekt für die Band und hier erstmals in einer wahrlich atemberaubenden knapp 28 Minuten langen Version zu hören, besteht im Grunde aus einem ebenso langen Solo Coltranes und zeigt eine sich entfesselt in den Subraum schraubende Band, die hier hörbar an der Grenze zum Wahnsinn entlang irrlichtet. Diese Aufnahmen gehören zum faszinierendsten, was mein CD und Plattenschrank hergibt und in Verbindung mit den ausführlichen Linernotes bin ich jedes Mals aufs Neue wie vor den Kopf geschlagen: Es wird berichtet, dass die Band in der Zeit ihres Residency-Engagements im Halfnote oft erst tief in der Nacht die Bühne betrat und damit die Sperrstunde verletzte. Der Inhaber des Clubs verschloss dann von innen die Eingangstüren, während die Band nicht selten bis morgens um 5 Uhr spielte. Aufnahmen solcher Nächte gab es zu jener Zeit ausschließlich im New Yorker Lokalradio. Von solchen Übertragungen existierten bis 2005 lediglich von Hörern damals mitgeschnittene Bootlegs, die unter Coltrane-Devotees schnell die Runde machten und zum Kult wurden.

Und hier schließt sich auch der Kreis zu "Both Directions At Once": "One Down, One Up" ist hier erstmal in einer Studioversion zu hören - allerdings deutlich kürzer und mehr auf den Punkt als die ausufernden Liveaufnahmen.

"Both Directions At Once" erlaubt den Einblick in die Entwicklung und de Arbeitsweise des Coltrane Quartetts und darüber hinaus eine über 50 Jahre später möglich werdende Einordnung in das Oevre dieser vier Giganten, von welchen uns drei bereits wieder verlassen haben (Pianist McCoy Tyner ist als einziges Bandmitglied noch am Leben). Ich frage mich fortwährend, wie dieses Album wohl damals rezipiert worden wäre und ob es einen ähnlichen Klassikerstatus erreicht hätte wie beispielsweise "Coltrane" oder "Crescent". Aus meiner Sicht ist "Both Directions At Once" vor allem deswegen hochinteressant, weil es ein Zwischenstadium des Quartetts dokumentiert und wir in diesen kurzen Moment, in der Geschwindigkeit von Coltranes Entwicklung vermutlich nicht länger als ein Augenaufschlag, nun tatsächlich hineinhören können. Es ist, als hätten wir endlich eine funktionierende Zeitmaschine bauen und uns in das van Gelder Studio in Englewood Cliffs beamen können. Die Band zeigt sich gespalten, steht mit einem Bein in der Tradition und wagt sich mit dem anderen Bein in die Zukunft. Coltrane wittert Veränderung und sägt in "Slow Blues" am melodischen Ast der Hardbop-Harmonien und schwingt sich vielleicht erstmals zaghaft in jene spirituellen Höhen auf, die die Band spätestens ab "A Love Supreme" im Studio und auch in den Live-Performances besuchen sollte.

"Es war nicht Ekstase, nicht Magie, es war Läuterung, Reinigung, etwas eindeutig Religiöses, von dem wir ergriffen wurden. Viele im Publikum weinten und schämten sich nicht dafür." 
(Martin Kluger)

Interessant ist nun noch die Frage, warum die Aufnahmen überhaupt ins Archiv wanderten und nicht veröffentlicht wurden. Dafür gibt es mehrere Erklärungsversuche: Erstens nahm Coltrane mit seinem Stammproduzenten Bob Thiele so oder so schon mehr Musik auf, als Impulse überhaupt veröffentlichen konnte. Zweitens wollte Coltrane den Markt nicht mit alten Aufnahmen überschwemmen. Drittens darf vermutet werden, dass Impulse den kurz zuvor erzielten Erfolg von "My Favourite Things" nicht mit einer eher herausfordernden Session gleich wieder gefährden wollten und stattdessen eine traditionellere Ausrichtung bevorzugten. Die vierte Option ist zugleich die vielleicht waghalsigste: Jazz-Kenner streiten sich darüber, ob dieser Aufnahmetermin überhaupt zu einer neuen Platte führen sollte - und erkennen im Spiel der Band, ganz besonders bei Drummer Elvin Jones, einige Unzulänglichkeiten. Sie interpretieren jene als einen Hinweis auf eine grundsätzliche andere Ausrichtung dieser Session: am darauf folgenden Tag nimmt das Quartett mit dem Sänger Johnny Hartman (nebenbei der einzige Sänger, mit dem Coltrane jemals gearbeitet hat) ein Album auf, das aus sechs Balladen besteht. Es wird daher spekuliert, dass "Both Directions At Once" lediglich eine Warmup-Session für die Aufnahmen am nächsten Tag ist, ein bewusstes Auspowern, um für die Balladen das richtige Energie- und Dynamiklevel zu finden. Möglicherweise hat van Gelder, bekannt für seine Pedanterie in Bezug auf die Mikrofonierung, die Session auch für einen Soundcheck für die Aufnahmen mit Hartman genutzt. Ich finde auch diese Auseinandersetzung mit "Both Directions At Once" als sehr lohnenswert. Es ist wirklich ein großes Glück, diese Platte hören zu dürfen.


Pressung: +++++ (Tadellos)
Ausstattung: +++++ (Ich nenne die Deluxe-Ausgabe mein Eigen: Gatefold, die-cut sleeve, Prägedruck, bedruckte Innenhüllen und ein großes Poster nebst ausführlichen Linernotes - toll!)





Erschienen auf Impulse, 2018.

09.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 7 ° Ryan Porter - The Optimist




RYAN PORTER - THE OPTIMIST


Der weniger reflektierte "Flohihaan" (Jens W.) empfände diesen Moment wohl als einigermaßen angemessen, um mit tosender Vehemenz auf den eigenen Verzicht und die dafür benötigte Stärke und Disziplin zu verweisen, die aufzubringen sind, um die immer häufiger anzutreffenden LP-Preise von 40 Euro plux X mit einem Handstreich von sämtlichen virtuellen Einkaufslisten, Warenkörben und Merkzetteln zu entfernen, oder den darbenden Besitzer eines Tonträgerfachhandels mit einem stummen Kopfschütteln die kalte Schulter zu zeigen, weil man ja dank Evolution, weißem Glibber im Bregen und Sonnenblumen in der  ehemals existenten Schambehaarung noch immerhin nicht derart abgestumpft ist und also das Niveau eines resignierten Zynikers erreicht hat, um dem Sammlerdrang einerseits und - in Anerkennung des durch Lohnarbeit zwar halbierten Lebensglücks, aber dafür verdoppeltem Kontostands - der puren Gelegenheit, vulgo: Disziplinlosigkeit andererseits nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, und sie stattdessen als Symptome der eigenen inneren Leere und emotionalen Taubheit anzuerkennen, deren Decouvrierung zwar bisweilen schmerzhaft und enttäuschend ist, aber selbst mit nur einem Hauch innerer Festigkeit und dem moralisch wünschenswerten aber orthopädisch katastrophalen aufrechten Gang in Schach gehalten werden kann.

Der aufklärerische "Floooriii" (Mama) hingegen, der zunächst sich selbst im Zentrum und also Wurzel allen Übels dieser Welt einordnet, weil Bequemlichkeit vom äußeren Ich ins innere Selbst wie Hundekacke am grobstolligen Gummistiefel ins Kaminzimmer hereingetragen wird und sich bei vollem Bewusstsein, wir sind ja immerhin nicht im Wachkoma, durch Nervenbahnen, Ganglien, Energieleitungen wie ein tödliches Geschwür in alle lebens- und fühlensnotwendige Bereiche hinein marodiert, und der sich nicht zuletzt deswegen beinahe so primagut entscheiden kann wie die deutsche Sozialdemokratie, ob sie Schröders Cohiba-Qualm lieber mit dem Arsch inhalieren oder den abgehängten Opfern ihrer Politik gleich lässig ins Gesicht blasen will, muss zerknirscht eingestehen, dass der Betäubungskonsum längst die eigenen auf immer ungezeugten Kinder aufgefressen hat. Angesichts der alleine im vergangenen Jahr heim ins Reich geholten Schallplatten "The Fragile" (55 Euro), "Splendor Solis" (45 Euro) und "Heaven And Earth" (50 Euro) ist der Zeiger für meine Disziplinsperformance schon seit langer Zeit auf dem Status "Bigotter Laberpimmel" eingerastet und -rostet. Auch "The Optimist" des US-amerikanischen Posaunisten Ryan Porter kostete mich im, natürlich: teuersten Plattenladen Kölns glatte 40 Taler, und weil ich absurde Ausflüchte so gerne leiden mag wie einen schönen Einlauf mit "bestem Olivenöl" (Alfred Biolek), wische ich die Schande einfach mit dem Verweis auf meinen an jenem Tag sich zum 41.Male jährenden Geburtstags von der Streckbank:"Ich habe heute Geburtstag, hier ist meine Kreditkarte, Sie Ficker!"

Immerhin handelt es sich bei "The Optimist" um ein 3-LP Set mit gleichfalls dreifach aufklappbaren Cover und übergroßen, schicken Fotos des Protagonisten. Und na klar: der oben erwähnte Nachfolger von "The Epic", Kamasi Washingtons leicht größenwahnsinniges "Heaven And Earth" hat sogar ganze 5 LPs. Da tänzelt man schon ein bisschen ungelenk auf dem Grat entlang, der "Ist halt so, suck it up!" und "Mache mir die Welt widdewiddewie sie mir gefällt." trennt. Und wo das gesagt ist - Achtung, Spoileralert: "Heaven And Earth" hat es nicht in meine diesjährige Top 20 geschafft. Ich versuche, die Trennschärfe zwischen der Distinktion der Ablehnung des wichtigen und mit "Spannung erwarteten" (Peter Illmann) Nachfolgers eines "modernen Klassikers" (Max Dax) und der durch die bizarre Erwartungshaltung, Washingtons neues Mammutwerk würde mich ähnlich auf Links drehen wie der Vorgänger, geformten klitzekleinen Enttäuschung sauber abzubilden. Für gewöhnlich finde ich Hypes für jene Musik, die ich schätze, eher begrüßenswert als störend - bei blanker und unerträglicher Granatenscheiße hingegen ist das ubiquitäre Tamtam Grund genug, sich zu wünschen, die Menschheit solle bitte sofort, umgehend, total und komplett elendig verrecken; und wenn es einen Unterschied zum Besseren mächte, würfe ich mich gar, frei nach Greg Graffin, als erster ins offene Messer. Daher ist weniger der Drang zur Abgrenzung im Falle von "Heaven And Earth" ein Thema, sondern eher der natürlicherweise ausbleibende Überraschungseffekt des alles überstrahlenden Vorgängers, sowie der im direkten Vergleich nochmals hochgefahrene Bombast sowie der seltsam weichgezeichnete Klang die Gründe für die sich weniger euphorisch darstellende Reaktion. Immer noch durchdrehende Jazzpuristen, die doch so gerne in ihrem elitären Streichelzoo unter sich bleiben würden, sind hingegen für mich natürlich immer noch der beste Grund, den Saxofon-Koloss bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den güldensten Himmel zu loben. 

Dass der logische "Doooorian" (Frank B.) sich in etwas, das mal als Rezension zu "The Optimist" gedacht war und sich aber in der Absenz von allem was "heilig, recht und gut" (Ratzinger) ist, seit mindestens achteinhalb Minuten puren Leseglücks durch stilistisch wenigstens fragwürdige Bandwurmsätze zeilenweise über Kamasi Washington auslässt, hat indes Gründe: ich glaube, "The Optimist" hätte die Rolle spielen können, die "The Epic" vor vier Jahren einnahm. Und selbst das hat ebenfalls Gründe: Hier spielt das West Coast Get Down Kollektiv, das später durch die Führung Washingtons und die Beteiligung an den Blockbusters von Kendrick Lamar weltweite Aufmerksamkeit erhalten sollte. Die Jazztruppe aus Jazz, Hip Hop und Funkmusikern traf sich gegen Ende der Nuller Jahre regelmäßig in Kamasis "The Shack" genannten Proberaum, einer kreativen Keimzelle des neuen US-Westküstenjazz, und nahm die Arrangements Porters in verschiedenen und über zwei Jahre verteilt stattfindenen Sessions auf. Das Probe- und spätere Aufnahmestudio war dabei nicht nur für die Anzahl der teilnehmenden Musiker signifikant unterdimensioniert, sondern liegt bizarrerweise auch noch unter der Landebahn eines Flughafens, was bedeutete, dass die Fenster und Türen geschlossen werden mussten, wenn die Mikrofone offen waren. Porter wird in den Liner Notes mit "The heat was unbearable" zitiert und verweist außerdem darauf, dass jeder Musiker mit totaler Konzentration und Angst in den Knochen spielen musste, um jeden potentiellen Spielfehler zu vermeiden und alsbald wieder Luft in den mit acht Menschen heillos überfüllten Raum zu bekommen. Unter diesen Umständen entstand mit "The Optimist" ein rohes Album, das in Bezug auf die reine Klangqualität sicherlich hier und da Verbesserungspotential offenbart, dafür aber mit etwas Mut zum verbotenen Wort, durch und durch authentisch klingt: funkiger, treibender Fusionjazz mit pulsierenden Grooves, ungeschliffener Kraft und lebendiger Virtuosität, ohne doppelten Boden, ohne unerfüllte Versprechungen und ohne Allüren. 

So ist "The Optimist" nicht nur ein fantastisches Stück Musik, es dokumentiert auch den Entwicklungsprozess des West Coast Get Down Kollektivs auf dem Weg zu "The Epic". Ähnlich meiner Faszination für alte Schallplatten und ihrer Geschichten, ihrer Besitzer, ihrer Hersteller (das älteste Exemplar meiner Sammlung, eine LP des Jazzpianisten Thelonious Monk, stammt aus dem Jahr 1955 und befand sich u.a. lange Jahre im Besitz einer nach New York ausgewanderten Stuttgarterin), die sich letzten Endes aus der Liebe für Hingabe, Leidenschaft und Kreativität speist, dient auch "The Optimist" als Geschichtenerzähler, als Zeitmaschine in eine Zeit der Unschuld und Naivität. Man hört den heute weltbekannten Kamasi Washington und seine bereits wuchernde Spiritualität, Miles Mosley's brodelndes Bassspiel (Solo-Plattentipp: "Uprising") und den allerorst gefeierten Pianisten Cameron Graves vor ihrer großen Zeit, unter Sauerstoffmangel eingesperrt in ein kleines unbelüftetes Loch in San Francisco - und wie sie alles in die Waagschale werfen, was sie bis in die hinterletzte Zelle ihres Körpers und Geistes finden konnten. 

Ich glaube ja alleine schon wegen meiner eigenen Erfahrungen nicht an Sozialkompromisse wie "Geschmäcker", auf die man sich konfliktlos einigen kann und die so gerne mit schlichter Sozialisation verwechselt werden, weil's eben immer nur in Richtung des Offensichtlichen zu gehen hat und jedes Graben nach Ursachen schon wieder kultureller Linksfaschismus ist. "Jazz ist anstrengend", "Jazz ist prätentiös", "Jazz ist mir zu hoch", "Jazz ist einfach nicht mein Ding" - Ich schlage vor, dass die Schubladen heute mal geschlossen bleiben. Aber es wäre wirklich mal an der Zeit, stattdessen das Herz zu öffnen. 


Pressung: +++ (Platten waren zwar trotz Originalverpackung verschmutzt, ließen sich aber mit einer OkkiNokki-Wäsche auf Hochglanz polieren. Alle drei Platten liegen flach auf dem Teller, keine Non-Fills, sehr selten kleinere Unannehmlichkeiten. Das Gefühl einer nicht ganz optimalen Pressqualität existiert, aber es gibt eigentlich keinen nachvollziehbaren Grund dafür)
Ausstattung: +++ (Ungefütterte und -bedruckte Standard-Inlays, dafür aber ein schönes Artwork, dreifach aufklappbares Gatefold, ästehetische Fotos, Linernotes, insgesamt stimmiges Design. Pappe etwas dünn. Wirkt alles etwas Low-Key, ist dafür aber vermutlich so ehrlich, wie es nur sein kann)





Erschienen auf World Galaxy Records/Alpha Pup Records, 2018.

04.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 8 ° Tocotronic - Die Unendlichkeit




TOCOTRONIC - DIE UNENDLICHKEIT


Auf Dreikommaviernull.de ist exakt ein Beitrag zu Tocotronic zu finden, zu mehr hat es in knapp 12 Jahren nicht gereicht - und das hat Gründe. Meine Haltung gegenüber der Hamburger Indie-Institution war bisher in allerhöchstem Ausmaß mit indifferent noch sehr höflich beschrieben, und mit Ausnahme des hier rezensierten "Kapitulation"-Albums aus dem Jahr 2007 zuckte ich im besten Fall mit den Schultern. Das hat sich 2018 gründlich geändert. Die Zeit war gekommen. 

Ich weilte im Dezember 2017 berufsbedingt für zwei Tage in Hamburg und lag nach dem obligtorischen Besuch bei Michelle Records und der Einnahme eines vegetarischen Burgers im Hotelbett und konnte nicht schlafen. Es folgte ein über Stunden andauerndes zielloses Herumtapsen auf dem Telefon, bis mir plötzlich die Youtube-App das neue Video von Tocotronic vorschlug. Es war der Titeltrack und damit der erste Teaser des im Januar erscheinenden neuen Albums.

Und es traf mich wie ein Blitz.

Es gibt Momente in meinem Leben, die ich mir nicht erklären kann. Momente, in denen Zeit und Raum ausgehebelt erscheinen, in denen oben plötzlich unten und unten plötzlich oben ist. Wenn alles vorher gelernte, geglaubte, fantasierte und manipulierte keinen Sinn mehr macht, das Herz schneller pocht, die Augen weit aufgerissen sind, eine Euphoriewelle nach der anderen durch den Hypothalamus schwappt und das innere Brodeln sich mit Licht und Liebe verbindet. Wenn klar ist, dass solche Momente noch in 50 Jahren glasklar vor einem liegen werden, in der strahlendsten und unauslöschbarsten Erinnerung. So wie ich mich bis heute an den Sprung von der elterlichen Couch auf die Auslegeware vor dem Röhrenfernseher erinnere, als ich zum ersten Mal "Smells Like Teen Spirit" hörte. Dieses Gefühl wieder zu erkennen, wieder zu entdecken, dass dank Lohnarbeit, Schlafmangel, Bluthochdruck und innerem Bleigießen noch nicht alles erstarrt ist - ein Seelenöffner. 

"Die Unendlichkeit" war mir ab der ersten Sekunde ganz nah. Es wurde mehr als nur Musik, es wurde zur Begleitung, mehr noch: zum Lebensgefühl. Wie bereits zur "Kapitulation" wurde ihre Musik mehr als nur Klang und Worte, sie wurde zum Leitmotiv, zur Stütze, zum Ratgeber. Und ich erkannte, dass es vermutlich keine andere Band gibt, die mit ihren Texten eine derart tiefe Verbindung zu mir herstellen kann. Ich verstand sie endlich. 

Ihr Intellekt, ihr Mut, ihre Verletzlichkeit und auch ihre Freundschaft untereinander waren im letzten Jahr eine große Quelle der Inspiration. 


Pressung: +++++ (Tadellos)
Ausstattung: +++++ (Glow In The Dark-Coverartwork, Gatefold, bedruckte Innenhüllen)





Erschienen auf Vertigo, 2018.

02.03.2019

Best Of 2018 ° Platz 9 ° Christian Kleine - Electronic Music From The Lost World 1998-2001




CHRISTIAN KLEINE - ELECTRONIC MUSIC FROM THE LOST WORLD 1998 - 2001

It's all about inspiration, innit?

Ich bin zweifellos ein Kind der 1990er Jahre. Das wurde auf diesem Blog schon so oft geschrieben, dass ich beim erneuten Hinweis darauf beinahe selbst in bräsigen Dämmerschlaf falle. Thrash und Power Metal, Grunge und Alternative Rock, Loriots "Pappa Ante Portas" und Harald Schmidt, Rot-Grün, Tschüss Birne, MTV, Parker Lewis, Atomausstieg, Frasier, De La Souls Ring Ring Ring, das Café Wunderbar in Frankfurt-Höchst, ein Abitur mit sattem Notenschnitt von 3,4, Wayne's World, die alte Frankfurt Batschkapp.

Für elektronische Musik fehlte es sowohl am sozialen Umfeld als auch an mentaler Kapazität, außerdem ist meine in der Kindheit konfigurierte und bis in die Gegenwart hinein immer noch aktive Programmierung, sich wirklich erst dann in Bewegung zu setzen, wenn die geistige und körperliche Unversehrtheit in Gefahr ist, vulgo: ich es mit mir selbst nur noch unter groben Schmerzen aushalten kann, keine große Hilfe beim Loslassen und Erforschen neuer Welten - und sei es nur die Abteilung für Elektronische Musik im Plattenladen. Die Neunziger in a fucking nutshell: Kaufen wir lieber das neue Album von Stratovarius. Gitarren, Langhaarige, peinliches Airbrush-Coverartwork, die Hoden des Sängers kann man dank exzellenter Ausleuchtung auf dem Bandfoto sehen - kenn' ich alles, wird schon so gut und gemütlich sein wie die seit sechs Tagen ununterbrochen getragene Unterhose. Hier stört das niemanden, hier bin ich zu Hause. 

Mittlerweile habe ich immerhin dieses erwähnte "Zuhause" seit einigen Jahren verlassen - und was im Chaos des immerhin teilmöblierten mentalen Dachbodens zurückblieb sind Fragen zu der einerseits durch ausgiebige Reflektion zusammengeschnitzte Erkenntnis, als auch andererseits zu der Erinnerung an ein früheres Leben: was habe ich erlebt, was war das für ein Lebensgefühl, und warum ist es heute noch so präsent? Es gab im letzten Jahr kein anderes Album, das diese Gedanken mit soviel Verve durcheinanderwirbelte wie Christian Kleines "Electronic Music From The Lost World 1998-2001". 

Es stellte mir darüber hinaus weitere Fragen: warum fühlt sich diese Zusammenstellung von unveröffentlichten Tracks, die Kleine nach seinem Umzug von Lindau nach Berlin Ende der neunziger Jahre unter dem Eindruck einer gerade zusammenwachsenden und zwischen neuem Leben und alter Melancholie umhertaumelnden Großstadt produzierte, so an, als würde ich nicht nur nach Hause kommen, sondern auch noch die Geschichte um dieses Zuhause verändern? Ich hörte zu der damaligen Zeit noch keine elektronische Musik, ich kann daher auch nicht, wie es mir mit Rockmusik am laufenden Band passiert, an sie erinnert werden. Ich war auch nicht in Szenen unterwegs, in denen diese Musik gespielt wurde. Ich war ja noch nicht mal in Berlin. Eigentlich müsste diese Erinnerung aus nichts als einem weißen Blatt Papier bestehen, es sollte nichts auslösen, nichts pieksen, keine Bilder produzieren, keine Emotionen provozieren. 

It's all about inspiration, innit?

Und doch drücken diese 11 Songs sämtliche Knöpfe meines Emotionszentrums, sie beamen mich in genau jene Zeit zurück, in der sie entstanden sind. Die Bilder sind wahrhaftig und plastisch; es ist, als würden vergessene oder unterdrückte Bereiche meiner Erinnerung wachgeküsst werden - Erinnerungen, von deren Existenz ich nicht mal wusste. Die sanfte und zugleich reine Melancholie in seiner Musik, die wegen ihrer Klarheit einen Begriff wie Kitsch nicht mal im bizarrsten Gedankengerumpel triggern könnte, verbunden mit einer zaghaft-euphorischen Aufbruchstimmung, die ihren Ursprung im blanken Sein und dem sich daraus entwickelnden künstlerischen und kreativen Freiheitsgedanken hat, modellieren ganz offensichtlich meine nunmehr 20 Jahre in der Vergangenheit liegende Realität nach. Und es zeigt sich, dass meine Beteiligung an jener Realität kein notwendiger Faktor im Erleben und Entdecken derselben zu sein scheint. 

Ich habe keine Antworten zu all dem, endgültige gleich gar nicht. It's work in progress. 

But it's all about inspiration.



Pressung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: flawless)
Ausstattung: +++++ (Wie immer bei A Strangely Isolated Place: ein ästhetischer Hochgenuss, man will gar nicht aufhören, die Platte immer wieder anzuschauen. Gatefold, konsequentes, umwerfendes Art Design, Coke Bottle-Doppelvinyl)










Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2018.

24.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 10 ° War On Women - Capture The Flag




WAR ON WOMEN - CAPTURE THE FLAG


Die beste Punkplatte des Jahres. Nicht, dass sich darauf irgendwer etwas einzubilden glaubt, schwer war es im vergangenen Jahr nicht, sich diesen Titel zu holen - ich habe sonst keine einzige aktuelle Punkplatte gehört. Oder, Achtung: Plot Twist! War es gerade unter diesen Voraussetzungen dann vielleicht nicht ganz besonders ruhmreich? 

Wenn's nicht so despiktierlich wäre, möchte ich am liebsten auch hier in die Welt hinausrufen: Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten, aber das hat diese Band nicht verdient. Ich habe das Quartett aus Baltimore schon seit ihrer ersten Deutschlandtournee im Vorprogramm von Propagandhi und der in der Kölner Essigfabrik gekauften ersten 10-Inch EP "Improvised Weapons" auf dem Zettel, empfand das selbstbetitelte Albumdebut als eine große Verbesserung zum noch etwas kruden Chaos auf der EP, freute mir den Arsch ab, als wir mit unserer Band den Supportkasper für das Konzert in Wiesbaden geben durften und bin nun angesichts von "Capture The Flag" ziemlich baff, denn das ist eindeutig bislang ihre beste Platte. 

Zweifellos haben sie die Kanten in ihrem Sound etwas geglättet. Der manchmal überdreht wirkende und arhythmisch gesetzte Gesang von Shawna Potter war bislang eine der Achillesversen der Band; die plakative Kratzbürstigkeit war einerseits Vehikel, um die feministische Message zu transportieren und lieferte andererseits die gewünschte Provokation für die nicht zuletzt durch Trumps Frauenfeindlichkeit aufgeputschten Stiernacken in der gegenüberliegenden Ringecke, die dann mit Schaum vor dem Mund und zur Schmerzverlagerung ihren eigenen Hodensack mit Fausthieben traktieren konnten. Um dieses Angstbeißen der rechten Arschlöcher beobachten zu können, nehme ich ja gerne ein bisschen Schmerz durch wilden Sirenengesang in Kauf. Shawna bringt mit ihren Texten und wie es scheint ihrer bloßer Existenz immer noch das halbe Macho-Nazi-Internet gegen sich auf, klingt nun aber kontrollierter und zeigt heuer noch offensichtlicher als früher ihre stimmlichen Fähigkeiten. 

Weiterhin beeindruckend ist die erneut verbesserte Symbiose aus Melodie und Drive. War auf dem Vorgänger der möglicherweise etwas von Propagandhi inspirierte Opener "Servilla" der beste Song des Albums, hat man das Konzept nun für weite Teile der neuen Platte übernommen, womit selbst die Midtempotracks ordentlich nach vorne gehen und ein signifikant höheres Energielevel auffahren als die Konkurrenz, die sich, das muss auch endlich mal gesagt werden, die lahme 4/4-Scheiße mit ihren uninspirierten dreieinhalb Schwiegermutterakkorden und peinlicher Befindlichkeitslyrik nebst tätowiertem Macho-Geröhre am Mikrofon, so ganz allmählich mal dahin schieben darf, wo's lustig riecht. Warum dieser zahme und komplett sacköde Schmockrock mittlerweile als Punk durchgeht, darf man mir bei Gelegenheit auch nochmal erklären. Und jetzt, wo ich es mir so recht überlege: bitte erklärt's mir nicht. 

Wer es sich darüber hinaus leisten kann, mit "Anarcha" einen der eindringlichsten Punksongs der letzten 15 Jahre im hinteren Viertel der Platte zu verstecken und dabei mit eindeutigen Texten und Aktionen rechtskonservative Redneck-Spackos gegen sich aufbringt, zumal in einem Klima, in dem sich die breite Masse sowohl auf als auch vor den Punkbühnen dieser Welt so unauffällig und angepasst wie nur möglich präsentiert, hat meine Unterstützung auch noch in Millionen Jahren verdient. 

Geile Band. Suck it up.


Pressung: +++++ (Die blaue Vinylversion ist einwandfrei. Es gibt noch eine dreifarbige Ausgabe, die ich nicht kenne)
Ausstattung: ++++ (Schönes Artwork, in Verbindung mit dem blauen Vinyl ein echter Hingucker. Lyricsheet liegt bei. Keine gefütterte Innenhülle)




Erschienen auf Bridge Nine Records, 2018.

22.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 11 ° Submotion Orchestra - Kites




SUBMOTION ORCHESTRA - KITES


Es ist einigermaßen skandalös, dass "Kites" nicht zum endgültigen Durchbruch für dieses britische Kollektiv geführt hat. Auch nach ihrem heute als Klassiker bezeichneten Album "Finest Hour" von 2011, erschien mir die siebenköpfige Band immer etwas unterbewertet und selbst unter dem Radar der eigentlichen Zielgruppe umherirrend. Die Zielgruppe, die ist dabei Legion: alles, was sich in den letzten zehn Jahren zwischen dem eher gemäßigten Bereich des englischen Spezialistenlabels Ninja Tune, Bonobo, dem Cinematic Orchestra und Matthew Halsall's Gondwana Label hin- und herflippern ließ, muss bei "Kites" sogar sehr uneigentlich heiße Tränen der Freude und Liebe weinen - und das sind ja nun deutlich mehr als zwei Handvoll verwirrter Einzelkämpfer. "Kites" ist schwer, tief, melancholisch, ernst - und manchmal auch hörbar schmerzhaft:

"In the two years since ‘Colour Theory’ there have been a number of significant events for us all including new life and family death. We wanted to use these events as creative inspiration so we bought a disposable camera each and took photos based around these events, or the themes that they represented. Once developed, we selected 10 photos to be used as the inspiration for the 10 tracks on the album. Each track explores a different emotion, theme or event. All are honest, relevant and often hugely personal." (Tommy Evans)

"Jahaaa, dann ist's ja kein Wunder, dass die Leute hier nicht hinhören! Ernst, Melancholie, Schwermut, Introspektion - das will doch niemand hören! Die Leute wollen Parteueueueueu! Guck's Dir an: Trump ist Präsident. Klotzehohl, aber die Leute haben Spaß - selbst wenn sie ihn hassen." (Logger P. Eder, knapp zweistelliger IQ, mag Heringssalat aus der Dose)

Die Wahrheit indes lautet: "Kites" inspiriert. Macht den Blick weit, die Gedanken frei. Ist schwärmerisch, voller Wärme und Liebe. Bringt Dich durch die Kälte. 

Ein Breitbandemotikum

Eine meiner meistgehörten Platten des Jahres. 


Pressung: + (Furchtbar, wird dieser wunderbaren Platte nicht gerecht: durchgehende non-fills und Pops, kein sonderlich großes Vergnügen)
Ausstattung: + (Einzel-LP ohne Bilder, Texte, Liners. Keine gefütterten Inlays. Super low-budget, dafür aber relativ günstig zu haben - und mit "relativ" meine ich "Wäre vor 10 Jahren teuer gewesen.")




Erschienen auf SMO Recordings, 2018.

17.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 12 ° Nik Bärtsch's Ronin - Awase




NIK BÄRTSCH'S RONIN - AWASE


"Awase" ist das erste Studioalbum Ronins seit "Llyria" aus dem Jahr 2010 und die erste Veröffentlichung der Band seit der 2012 erschienenen Liveplatte "Live". Seitdem hat sich einiges getan: der langjährige Perkussionist Andi Pupato hat die Band mittlerweile verlassen und folgte damit dem bereits zuvor ausgestiegenen Bassisten Björn Meyer (der 2018 sein fantastisches Solodebut "Provenence" veröffentlichte, dessen Vinylversion durch eine wirklich granatenschlechte Pressung seitens ECM jedoch völlig in den Sand gesetzt wurde). Pianist und Bandleader Nik Bärtsch sagt über die lange Pause, er wollte der Band "Frieden und Raum" für ihre Entwicklung geben, und sie nicht unter Druck setzen. Das ist dem Album anzuhören. 

Dabei ist nicht alles neu, was hier glänzt: "Modul 60" wurde bereits auf "Continuum", dem letzten Werk von Bärtsch's zweiter Formation Mobile, präsentiert. "Modul 36" stammt vom immer noch umwerfenden ECM-Debut "Stoa" und erhält zehn Jahre später eine Neubehandlung, auf der vor allem Neu-Basser Thomy Jordi mit toller Dynamik brilliert, "Modul 34" wurde bereits 2003/2004 geschrieben und wird auf "Awase" erstmals auf einem Tonträger veröffentlicht. Darüber hinaus darf noch eine weitere Neuerung beklatscht werden: erstmals lässt sich auf einem Ronin-Werk eine Komposition des Saxofonisten Sha finden, die dann auch gleich für einen bislang ungeahnten Emotionsausbruch sorgt. 

Die Grundstruktur ihres Sounds hat sich indes nicht verändert. Was Bärtsch schon ab den ersten Häutungen Ronins als "Ritual Groove Music" beschreibt, bleibt auch auf "Awase" eisernes Gesetz: kristallklar, dürr, asketisch in den Kopfnoten, während das Herz Bewegung, Licht, Humor aus hunderten purpur glühenden Kammern in die Lebensbahnen dieser Band pumpt und sich in der Basis mit Lust und Verlangen paart. Nach zehn Jahren mit ihrer Musik und drei erlebten Livehaftigkeiten dieser einzigartigen Formation sind die zentralen Gegensätze ihrer Musik auf "Awase" so gut spürbar wie noch nie: ihre raffinierte Subtilität, die sich in so feinem Nebel über alle Töne und Bewegungen setzt, kurz vor dem Verdampfen in die Ewigkeit auf der einen Seite und ihre Stärke und ihr Mut in der Ausführung auf der anderen Seite, die ganze Kathedralen zum Wanken bringen können. So mächtig und zugleich so diffizil, gespielt mit einer euphorisierten Lässigkeit in zwischenweltlichem Hochgefühl, die meine Ratio bis heute in ungläubiges Staunen versetzt, meinen Körper in einen reflexartig zuckenden Sack voller Schrauben verwandelt. 

Das unten eingebettete Video des live dargebotenen Albumhighlights "Modul 58" werden die besten 20 Minuten sein, die Du dieses Jahr gesehen und gehört hast. Höre, Staune, Siehe und Tanze.


Pressung: ++++ (Schrammt aufgrund eines etwa zehnsekündigen Kratzrauschens am allerletzten Ende auf Seite C haarscharf an der Höchstpunktzahl vorbei - perfekter Klang, tolles Mastering. Dürfen sich meinetwegen auch all die Weini-Weini-Nerdis mal anhören, die der Meinung sind, die Qualität nehme ab 8 oder 18 Minuten pro Vinylseite ab)
Ausstattung: ++++ (Gewohnt tolles ECM-Artwork und -Design, Gatefold, gefütterte Innenhüllen)




Erschienen auf ECM, 2018.

10.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 13 ° Weedpecker - III




WEEDPECKER - III


Eine meiner meistgehörten Platten des Jahres. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie ich Freund Jens eines Nachts, nur Minuten nach Entdecken des Youtube-Clips, über einen virtuellen Kanal förmlich anschrie:"ALTER! WEEDPECKER! OCEANSIZE, PINK FLOYD UND JUD HABEN MITEINANDER GEVÖGELT! KANNST DU BLIND (UND TAUB) KAUFEN!" - Was er dann auch tat, allerdings bleibt seine Begeisterung so tragischer- wie auch unverständlicherweise ein bis zwei Wagenladungen Haschgift hinter meiner zurück. 

Es passiert nicht mehr oft, dass mich "neue", aktuelle Rockmusik (im weitesten Sinne) aus den Latschen bläst. Zum einen suche ich nicht mehr aktiv danach und bin daher auf persönliche Tipps von Freunden angewiesen. Zum anderen hat ebenjener Umstand auch meist einen Grund: ich komme zu gleichen Teilen weder mit dem "Höher, Schneller, Weiter"-Ansatz vieler moderner Rockbands, noch mit deren kreativer Mutlosigkeit klar. Die Produktionen allesamt steril, gleichförmig und aufgeplustert, ohne ein dB Raum für sowas wie einen Signaturesound übrig zu lassen. Stilistisch ein Versumpfen in der seit 50 Jahren vor sich hin simmernden Suppe, zu viel Breitbeinigkeit, zu viel Testosteron und zu schlechter Letzt nicht selten ein Sänger, der die Sache mit dem Singen für völlig überbewertet hält. Dass mein Rock-Radar trotzdem wenigstens ab und an noch funktioniert und mir damit demonstriert, dass es nicht mein abhanden gekommenes Gespür für Originalität, Stil und Ästhetik ist, das die Ambivalenz in meiner Wahrnehmung zusammenbastelt, zeigten 2018 die eher zufällig passierten Neuentdeckungen Hair Of The Dog (Schottisches Power-Trio im Classic Rock-Rausch) und eben Weedpecker aus Polen, die mit ihrem dritten Studioalbum beim Hamburger Label Stickman Records gelandet sind und damit durch die immer noch existierende Qualitätskontrolle der Norweger Motorpsycho gewunken wurden, die bei jedem neuen Labelsigning das letzte Wort haben. 

"III" ist ein faszinierendes Album - vor allem, weil keine der oben erwähnten Unzulänglichkeiten aktueller Rockmusik zum Zuge kommt. Es tut einfach so gut, diese Musik zu hören. Ihr Sound ist warm, breitbandig, tief - wie aus der Zeit gefallen. Weedpecker wollen nicht die härtesten, die groovigsten, die psychedelischchsten sein, sie entziehen sich den gängigen Mustern und Strukturen: es geht ihnen um die Stimmung, die Farben, die Bilder - die Atmosphäre im großen Ganzen. "III" ist fast durchgängig in Mellotron-Watte gepackt, die sowohl in den schimmernden Morgenstundensounds des umwerfenden Openers "Molecule" und gar bis in Herzhöhe der schweren Riffs und Grooves im knapp neunminütigen Intensitätssmonster "Embrace" alles verzaubert und mit Glitterkram überzuckert. 

Alles am richtigen Platz. Keine Chimären. Nur Musik. 


Pressung: ++ (Es gibt bisweilen leises Rauschen und Poppen in den Pausen zwischen den Songs, nichts Schwerwiegendes und nichts, was stört. Die B-Seite hat gegen Ende ein paar gröbere Probleme)
Ausstattung: ++++ (Tolles Coverartwork, Gatefold Cover, clear Vinyl. Kurios: ein Downloadcode liegt bei, aber an der Stelle des Papierschnipsels, an der eigentlich der Code stehen sollte, steht bei mir: Nichts.)




Erschienen auf Stickman Records, 2018. 


07.02.2019

Best Of 2018 ° Platz 14 ° Menagerie - The Arrow Of Time




MENAGERIE - THE ARROW OF TIME


Ich hatte "They Shall Inherit", das Vorgängeralbum dieses australischen Kollektivs, bereits vor über vier Jahren hier in diesem Blog präsentiert, damals noch mit der Anmerkung, die Platte zu spät für meine damaligen Jahrescharts entdeckt zu haben. Nochmal passiert mir das nicht! 

Dabei ist das keine Konzessionsentscheidung zugunsten des aktuellen Werks "The Arrow Of Time", denn die Platte steht mit ihrer Qualität für sich und wäre auch ohne das frühere Versäumnis bereit für die Top 20 des Jahres 2018 gewesen. Chef-Multitalent/-instrumentalist Lance Ferguson hat erneut nicht weniger als zehn weitere Musiker um sich geschart und um klassische Spiritual Jazz-Themen wie die Erforschung des Weltraums, die menschliche Entwicklung und, es darf ein großer Schluck aus der Pulle genommen werden: die Zukunft der Menschheit fünf Kompositionen gebastelt, die zwischen Space Funk, Spiritual und Modal Jazz zwar ohne den künstlerischen Größenwahn eines Kamasi Washington auskommen, aber dafür mehr in die Tiefe gehen als dessen etwas abgeschliffenen "Heaven & Earth" Brocken aus dem letzten Jahr. Herausragend vor allem der treibende Opener "Evolution" als einziger Vocal-Song mit dem predigerhaft agierenden Fallon Williams am Mikrofon, das funkig-peitschende und mit tollen Harmonien ausgestattete "Spiral", sowie der Abschluss "Nova", der dank des perlenden Pianothemas tatsächlich zunächst an moderne ECM Stars wie Nik Bärtsch erinnert, bevor ein an SunRa angelehntes Saxofon den Horizont erweitert. 

Ferguson betont, er sei in erster Linie von Labels wie Strata East, Tribe und Black Jazz inspiriert, wenn er Musik für Menagerie komponiert und beschreibt deren Sound auch über 40 Jahre nach deren Höhepunkten als noch immer zeitlos. Es gibt so oder so keine andere Musik als Jazz, dem die Zeit so gut wie nichts anhaben kann, und "The Arrow Of Time" ist in dieser Frage für die nächsten Jahrhunderte gewappnet: Frisch, deep, visionär. 


Pressung: ++++ (wahrscheinlich low-budget (1), aber ultraleise ohne Auffälligkeiten, kräftiger, voluminöser Sound, schwarzes Vinyl only)
Ausstattung: + (wahrscheinlich low budget (2): keine gefütterte Innenhülle, Cover nur schwarz/weiß, single LP, Texte auf dem Backcover)




Erschienen auf Freestyle Records, 2018.