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07.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 3 ° The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


Es ist oftmals eine Herausforderung für mich, über alte Bekannte zu schreiben, solche zumal, die zu den Stammgästen auf Dreikommaviernull gehören. Ich habe in den letzten 12 Jahren gleich sieben Mal über The Sea And Cake geschrieben - und das, obwohl die Band in dieser Zeit nur drei Platten veröffentlichte. Eigentlich ist über sie und meine besondere Verbindung mit ihnen alles gesagt, alle Huldigungen sind gefühlt hundertfach ausgesprochen, sämtliche Fanbrillen längst ins Gesicht zementiert, die LP-Sammlung wird gehegt und gepflegt und ist dabei nicht nur komplett, sondern wegen den von Thrill Jockey farblich einzigartig designten Vinylreissues aus den letzten zwei Jahren sogar überkomplett. Schon wieder muss Polt zitiert werden, denn: "mehr habe ich nicht hinzuzufügen!". Eigentlich. 

Vielleicht aber doch noch eine Kleinigkeit. 

"Any Day" war nach sechs Jahren Funkstille ein zwar erhofftes, aber nicht notwendigerweise erwartetes Comeback. Bassist Eric Claridge musste aus gesundheitlichen Gründen sein Engagement bereits vor einigen Jahren beenden, Schlagzeuger John McEntire ist mit Tortoise und Studiojobs ausgelastet, Gitarrist Archer Prewitt arbeitet als selbstständiger Illustrator und Zeichner und Sam Prekop ist in seiner Heimatstadt Chicago aktiver und erfolgreicher Künstler. Die Annahme, dass sie alle nach 25 Jahren Bandkarriere und vermutlich auch nicht erst seit gestern nicht mehr auf The Sea And Cake angewiesen sind, um sich entweder kreativ zu betätigen oder um nur banal die Zeit totzuschlagen, ist wohl nicht allzu abenteuerlich. So löste die Ankündigung für ein neues Studioalbum nichts als große Freude bei mir aus - die sich angesichts der ebenfalls erfolgten Bekanntgabe eines Konzerttermins in Frankfurt im Juni 2018 gar zu einer - Pardon! - prachtvollen Erektion ausweitete.

Ich schrub kürzlich über die sehr gute Band Tocotronic, dass deren 2018er Album "Die Unendlichkeit" zu einem Lebensgefühl, einem Begleiter wurde. Ohne das Urteil weder für die einen noch die anderen verwässern zu wollen, und ich bin mir des möglichen Risikos hierfür durchaus bewusst, aber ich kann, nein: muss! dasselbe nicht nur über "Any Day" in den virtuellen Notizblock kritzeln, ich muss es auf die ganze Band ausweiten. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der langen Pause lag, in deren Verlauf zwar kein Frühling und kein Sommer ohne eine geradewegs hypnotische, aber auch nach Jahren der Auseinandersetzung irgendwie abgeklärt durchgewunkene Phase mit ihrer Musik verging, dass mich die Band sogar über das bekannte Maß hinaus so tief traf wie noch nie zuvor - und wer meine früheren Einlassungen zu The Sea And Cake kennt, wird verstehen, warum das etwas Besonderes ist. Oder lag es an meinem fortgeschrittenen Alter und meinen bestenfalls in gleichem Ausmaß fortgeschrittenen Erfahrungen, Gedanken, Einsichten? Und warum muss es eigentlich immer ein "oder" sein? 




Mir ist den letzten zehn Jahren in einigen wenigen Fällen eine neue und bedeutend intensivere Liebe zu Bands aufgefallen, die ich zwar schon früher längst auf den musikalischen Olymp geschoben hatte, aber plötzlich einen extragroßen Schubser in den fast schon ätherisch zu nennenden Bereich mitnehmen konnten, in dem die Luft selbst für Götter dünner wird. Ein gutes Beispiel sind King's X, die ich mittlerweile in jedem vorstellbaren Universum und für jeden vorstellbaren Aspekt für völlig unantastbar halte und für die meine Anerkennung weit über Alben, Songs oder Texte hinausgeht. Es ist eher der schier endlose Respekt für das Lebenswerk voller Kreativität, Virtuosität, Durchhaltevermögen, Freundschaft, Zusammenhalt, Inspiration, Freiheit, Offenheit, Hingabe und Leidenschaft. 

Ich habe diesen schier endlosen Respekt im letzten Jahr auch für The Sea And Cake gefunden. Ihr Zusammenspiel, ihre Subtilität, ihre Virtuosität, ihr Entdeckerdrang und ihre Ausstrahlung sind völlig einzigartig. Niemand klingt so wie diese vier Musiker, niemand sonst spielt diese feinstoffliche Musik so filigran, so präzise - und dabei gleichzeitig so mühelos und lebhaft. Ich habe heute das Gefühl, "Any Day" hat mich an den Punkt im Universum von The Sea And Cake gebracht, an dem ich den 360° Blick über all das habe, was diese Band im Kern ausmacht, was sie wirklich ist - und diesen Blick dabei jederzeit bis in die engmaschigste Nuance ihres Sounds vergrößern kann, um sie von allen Seiten zu betrachten. Sie funkeln und leuchten zu sehen. 

Der Superzoom ins Reich der Götter. 




Live at KEXP:




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018.

10.02.2013

2012 ° Platz 7 ° The Sea And Cake - Runner


THE SEA AND CAKE - RUNNER

Es gibt wohl keine andere Band, die ich auf diesem Blog ausgiebiger mit Lob und Liebe überschüttete als The Sea And Cake und, um die Pointe gleich vorwegzunehmen: das wird sich auch mit diesem Beitrag nicht ändern.

Als ich 2005 zum ersten Mal "All The Photos" vom fantastischen "Oui"-Album hörte, war es um mich geschehen. Seitdem versuche ich mir selbst zu erklären, was mich an der Musik des Quartetts aus Chicago so sehr fasziniert, und ich kann nicht sagen, dass ich in den letzten acht Jahren bedeutend weiter gekommen bin. Natürlich ist der reflexartige Kniefall bei bloßer Namenserwähnung dank der Leichtfüßigkeit, der Souveränität, der feingliedrigen Arrangements und der schüchtern-naiven Aura ihrer Kompositionen jederzeit problemlos darstellbar, aber da brodelt noch irgendetwas tiefer in mir als die genannten und offensichtlichen Merkmale. Ihre Musik zieht mich, oft nur für wenige Sekunden, in meine Jugend zurück und ich assoziiere nicht selten komplette, erlebte Bilder mit einzelnen Songs; manchmal ist es gar nur eine Betonung, ein Gitarrenanschlag oder eine gehauchte Wortsilbe, die mich aus dem Hier und Jetzt in das Damals und Gestern katapultiert. "All The Photos" ist beispielsweise ab dem Break bei Minute 1:25 seit jeher mit einem Sommertag im Juli 1995 verknüpft, an dem ich am Schreibtisch meines Zimmers in der elterlichen Wohnung  saß, Guinness aus Dosen trank und für die theoretische Führerscheinprüfung lernte. Bei "Window Sills" vom 2008er "Car Alarm"-Meisterwerk sitze ich ab der ersten Note ebenfalls im spätpubertären Kinderzimmer, habe eine Tasse Kaffee neben mir stehen, schaue melancholisch aus dem Fenster und den Schneeflocken beim Sterben zu. "Runner" fügt diesen Beispielen mit "A Mere" gleichfalls winterliche Nachmittage mit der tonlosen Bill Cosby Fernsehserie hinzu. Und manchmal ist es nicht mehr als ein Gefühl, vielleicht ein Geruch oder ein Geschmack in der Luft, den ich auf dem Fußweg vom Abitur-Gymnasium in die Wunderbar in Frankfurt-Höchst wahrgenommen habe, um eine selbstentschuldigte Freistunde bei einem Kaffee und unter Freunden zu verbringen. Vielleicht komme ich nochmal dahinter, warum das alles so ist, wie es ist. Vielleicht kann ich The Sea And Cake aber auch weiterhin einfach als eine der schönsten, ergreifendsten Bands aller Zeiten betrachten, an der ich mich nicht satthören kann.

"Runner" ist im Vergleich mit der "The Moonlight Butterfly" EP aus dem Jahr 2011 etwas vielschichtiger in der stilistischen Ausprägung und gleichzeitig kompakter in Stimmung und Ton, wofür vor allem die B-Seite verantwortlich ist, die vom reinen Akustiksong "Harbor Bridges" über das sehnsüchtig flackernde "New Patterns" (schon wieder: ein Gitarrensolo!), dem ungewohnt rockigen "Neighbors And Township", dem Hit "Pacific" bis zum an ihre 90er Alben wie "The Biz" und "Nassau" erinnernden Titeltrack neue Maßstäbe im Band-Kosmos setzt. Abgesehen vom unangenehm übersteuert und verzerrt klingenden "Skyscraper", einem Song, der in allen Formaten, sei es Vinyl, CD oder MP3, klingt, als sei ein Lautsprecherkabel kaputt, ist "Runner", und jetzt kann ich es wieder sagen: schon wieder das nächste beste The Sea And Cake Album der Welt.

Ein Spektakel in Nonchalance.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2012.

01.08.2021

Blast From The Past: The Sea And Cake (2007)

 


THE SEA AND CAKE

Viel ist aus meiner aktiven Zeit als Textidiot Redakteur beim Hamburger Tinnitus-Magazin nicht übrig geblieben, wenigstens nicht in der virtuell erreichbaren Welt: Chef Haiko hatte den Laden irgendwann zu Beginn der zehner Jahre dichtgemacht und alle Inhalte ratzeputz und hottehü vom Netz genommen, bevor er sich von Rockmusik im weiteren Sinne verabschiedete und Techno-DJ wurde. Ich selbst habe im Rahmen von mehreren Laptopwechseln seit meinem Ausscheiden 2007 sicherlich den ein oder anderen Text ans Daten-Nirwana verloren, was mir normalerweise keine schlaflosen Nächte bereitet. Aber es ist ein bisschen vergleichbar mit meinen regelmäßigen CD- und Plattenverkäufen. Man vermisst eigentlich nichts - bis zu dem Moment, an dem man etwas vermisst. "Wo habe ich denn nur...?!"

In einigen Fällen finde ich es aber tatsächlich etwas schade, die Texte nicht mehr zur Verfügung zu haben. Das betrifft meistens jene, die ich im Rahmen von geführten Interviews zusammenstellte, was auch immer ein ganz besonderer Aufwand war - mal ganz davon abgesehen, dass ich mit Personen sprechen durfte, deren Musik mir außerordentlich viel bedeutete (und in vielen Fällen gilt das sogar bis heute). 

Ich kam kürzlich mit einem weiteren Freund von The Sea And Cake ins virtuelle Gespräch, und nachdem ein Wort das andere ergab, war irgendwann offensichtlich, dass wir beide an diesem kühlen und regnerischen Juniabend des Jahres 2007 nicht nur dasselbe Konzert sahen und uns also beide in den Räumlichkeiten der Frankfurter Brotfabrik aufhielten, sondern auch noch beide ein Interview mit der Band führten: er mit Sänger/Gitarrist Sam Prekop, ich mit Gitarrist Archer Prewitt. Potztausend! Dass ich mich angesichts der journalistischen Qualität des Textes des Kollegen tatsächlich noch auf die Suche nach meinem eigenen holzigen Textgestümper machte, sagt einiges über die eigene Hybris aus, die ich immer so gerne ins Tal der Mythen schicken will, lol, ja, am Arsch; aber es gab "Hoffnung": eine fix durchgeführte Recherche auf den noch im Zugriff befindlichen Geräten ergab: et perdidisti. Die Datei ist weg, verschluckt, weggeflogen, vor Scham selbst in Flammen aufgegangen, was weiß ich.   

Es war daher hocherfreulich schockierend, dass eine Suche auf den Seiten des Internet Archives nach dem Prinzip "Topfschlagen unter 13 Promille" tatsächlich einen Treffer ergab - unter den über 150 Milliarden gespeicherten Webseiten befindet sich doch wirklich diese eine aus dem Juni 2007, es ist geradezu verrückt. Und da kann man auch mal sehen, mit welchem Schrott hier wertvoller Cloudspace verrammelt wird, das ist ja absurd.

Nun ist es außerdem ja so: wen interessiert denn im Sommer 2021 wirklich noch ein vierzehn Jahre altes Interview mit Archer Prewitt? 

Und Hurra, ich habe die Antwort: es ist mir scheißegal! 

Hier ist es, enjoy!

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Von der Leichtigkeit des Black Metal

Es war ein denkwürdiger Tag. The Sea And Cake sind für mich sowas wie der ganz persönliche Trendsetter. Die erste Zusammenkunft mit ihrer Musik, mit dem 2001er Album "Oui" vor knapp drei Jahren, war das Überschreiten des point of no return, der neue Weg, nach dem ich schon lange gesucht habe. Ihr feingliedriges Songwriting, das so erfrischend ohne die große Pose auskommt, diese gänzlich machofreie Mischung aus Jazz, Pop und Indie: spätestens das war der der endgültige Anfang von Ende von über 15 Jahren Rock und Metal-Sozialisation. Man soll sowas ja nicht schreiben, weil es angeblich so unprofessionell klingt, aber ich tu es trotzdem.
Ja, ich bin Fan. Und an diesem sackkalten Juniabend trifft dieser Fan auf eine seiner Lieblingsbands. Genauer gesagt auf Gitarrist Archer Prewitt, der im Rahmen der Europatournee des Quartetts so freundlich war, mir meine Fragen zu beantworten. Mr.Prewitt ist ein ruhiger, schüchterner und sympatischer Mensch, bietet mir sofort Kaffee an und spurtet umgehend los, als mir gleich zu Beginn der Schreck in alle Glieder fährt: Das Aufnahmegerät will nicht mehr. Sind's die Batterien? Die sollten doch eigentlich noch funktionieren. Egal, Archer springt sofort auf und hält Ausschau nach dem Roadie der Frankfurter Brotfabrik und fragt nach neuen Stromlieferanten. Als die neuen Teile auf sich warten lassen, bedient er sich eines alten Hausmittels, nimmt meine leeren Batterien und reibt sie sich über die Hose.

"Let's try it the good old way..." grinst er. Und tatsächlich, es klappt. Jetzt steht einem entspannten Plausch nichts mehr im Wege.


"Das Publikum reagiert hervorragend auf die neuen Songs. Wir können uns nicht beklagen über die Tour. Bis jetzt läuft alles fantastisch. An manchen Abenden sind die Leute während der Show eher zurückhaltend und klatschen nur höflich nach den Songs. Und wenn wir dann das erste Mal von der Bühne gehen, flippen sie förmlich aus und wollen eine Zugabe nach der anderen. Wir sind dann immer sehr überrascht darüber, weil wir das während des Gigs eigentlich kaum mitbekommen, wie die Zuschauer drauf sind. Es ist sowieso immer sehr überraschend. Ich meine, die meisten Gigs liefen gut, aber es gibt Abende, die herausstechen. In Paris zum Beispiel drehten die Leute wirklich durch. Du weißt eben nie, wie ein Abend läuft."

"Everybody" ist der Anlass für die erste Rundreise seit knapp vier Jahren, passend zum ersten Album seit ebenso langer Zeit. Eine erneut zum Weinen großartige Scheibe, gespickt mit den vielleicht besten und straightesten Songs, die der Chicago-Vierer bis dato geschrieben hat. Obgleich "Everybody" rockiger erscheint als die Vorgänger, zieht ihr doch sicherlich kein typisches Rockpublikum an, oder?

"Errr, maybe not, haha. Oftmals gibt es zwischen den Songs sowas wie respektvolles Schweigen. Das ist vielleicht nicht jedermanns Sache, aber ich mag das eigentlich ganz gerne, weil es zeigt, dass die Leute wirklich zuhören."

Was ist eigentlich in der langen Zeit zwischen eurem letzten Album "One Bedroom" und dem aktuellen Werk passiert? Und warum hat es solange gedauert, bis man wieder etwas von euch gehört hat?

"Nun, jedes Mal, wenn du ein Album veröffentlichst, gehst du dafür natürlich auf Tour und wir taten dies für "One Bedroom" sehr ausgiebig. Dann nahm ich mein erstes Soloalbum "Wilderness" auf und ging dafür ebenfalls auf Tournee. Und fast zeitgleich brachte Sam (Prekop, Sea And Cake-Sänger - F.E.) seine zweite Soloplatte "Who's Your New Professor" heraus, auf der ich ebenfalls Gitarre spielte und später dann auch mit ihm auf Tour ging. Es war also eine ständige Zeit des Musikmachens, wenn auch nicht immer unter dem The Sea And Cake-Banner. Außerdem arbeitete auch John (McEntire, TSAC-Drummer - F.E.) in seinem Studio mit seiner Band Tortoise an neuem Material und unser Bassist Eric Claridge verkaufte hunderte seiner Bilder über seine Homepage www.ericclaridge.com. Wir haben also im Grunde niemals pausiert, wir hatten alle viel zu tun. Aber nach den Erfahrungen mit "Everybody" planen wir, Ende des Jahres gleich wieder ins Studio zu gehen, um das nächste Sea And Cake-Album aufzunehmen."

Aber es stand nie zur Debatte die Band aufzulösen, oder? Ich meine, vier Jahre sind eine lange Zeit, selbst wenn ihr alle in unterschiedlichen Projekten involviert wart...

Nein, die gab es nicht. Wir nehmen uns einfach diese Auszeiten. Wir haben das jetzt schon ein paar mal gemacht und ich muss zugeben, dass wir uns vorgenommen haben, etwas produktiver zu sein, weil wir das Gefühl haben, dass es dem Wohl der Band nicht besonders förderlich ist, wenn wir uns immer so lange Zeit lassen. Davon abgesehen ist es ja auch für die Fans nicht das Wahre.

Lass uns ein wenig auf das neue Album "Everybody" zu sprechen kommen. Sam Prekop sagt darüber, es sei ein Rock-Album und tatsächlich ist es das mit Sicherheit rockigste und auch straighteste Album, das ihr je aufgenommen habt. Denkst du, dass es etwas damit zu tun hat, dass ihr so lange nicht mehr miteinander Musik gemacht habt?

Ja, ich denke, dass man da durchaus einen Link setzen kann. Es war ein bisschen so wie unsere frühere Herangehensweise an Musik. Einfach einen Song heraus zu hauen, ihn aufzunehmen und fertig. "The Biz" (aus dem Jahr 1995 - F.E.) war diesbezüglich nicht unähnlich. Wir legten weniger Wert auf die Post-Production, sondern achteten auf das Songwriting und die Ausarbeitung eines Titels bevor wir ihn überhaupt aufnahmen. Es erschien uns sinnvoll, dass wir uns nach so langer Zeit in erster Linie unseren musikalischen Fähigkeiten vertrauen sollten, anstatt der Studiotechnik. Das wir mehr Wert auf das legen, was wir schreiben und produzieren können, noch bevor wir das Material dann tatsächlich aufnehmen. Ich denke, das war ein guter Ansatz für "Everybody". Wir arbeiteten sehr hart daran, vierzehn oder fünfzehn Songs zu haben, bevor wir uns an die Aufnahmen machten, und es zahlte sich auch hinsichtlich der Moral innerhalb der Band aus. Du liegst mit deiner Vermutung sicherlich richtig, dass diese Arbeitsweise und letztlich diese Platte aus der Tatsache geboren wurde, dass wir seit knapp vier Jahren zumindest die kollektive Studiosituation nicht mehr hatten.

Ich las einen Bericht über "Everybody", in dem ihr dahingehend zitiert wurdet, dass die Zeit im Studio sehr intensiv gewesen sei, und dass ihr alle hochkonzentriert an der Platte arbeiten konntet. Obgleich waren die Songs schon fertig, bevor ihr ins Studio gegangen seid. Wie entstanden die Titel denn? Wie muss man sich das vorstellen?

Meistens war es Sam, der mit einem Entwurf zu einem Song ankam. Dann schrieben wir die Gitarren- und Bassparts zusammen, trugen den Song in eine neue Richtung, legten Sachen wie Tempo oder Länge fest, schauten, wie die einzelnen Parts zusammen passen. Aber ursprünglich kommen die Ideen von Sam, bevor Eric und ich uns daran machen, den Ansatz weiter aus zu bauen. Bei "One Bedroom" haben wir John McEntire gleich zu Beginn in den Songwritingprozess miteinbezogen und ich hatte das Gefühl, dass es mich dazu brachte die Gitarre minimalistischer ein zu setzen. Das war ein interessanter Weg, weil da plötzlich soviel Information in einer Songskizze war, dass ich mich ganz automatisch mehr zurückhielt, was die Musik auf eine ganz spezielle Art öffnete. Aber grundsätzlich denke ich, dass der eigentliche Sea And Cake-Sound aus der Zusammenarbeit von Sam, Eric und mir entsteht und unsere Art die Akkorde ineinander zu verweben den Sound in erster Linie prägen. "Everybody" ist demzufolge eine Rückkehr zur alten Arbeitsweise, a return to form.





Es hat so oder so den Anschein, als wäre exakt diese Art Musik zu machen in euren Genen verankert. Ein blindes Verständnis darüber, wie The Sea And Cake zu klingen haben. Wenn man euch alle in einen Raum einsperren und euch die Augen verbinden würdet, käme wohl immer genau dieser ganz spezielle Sound dabei heraus.

Ja, ich weiß was du meinst. Ich glaube, dass liegt daran, dass Eric, Sam und ich alle Autodidakten sind und unser Sound das widerspiegelt, was wir seit Jahren tun, wie wir es tun und wie wir es uns gegenseitig beibrachten zu spielen. Wir haben über die vielen Jahre ein eigenes Vokabular erschaffen, das uns von der ersten Sekunde an, in der wir miteinander Musik machten, passend und angemessen erschien. Und glücklicherweise fanden wir damals in dem Studio in dem wir unsere erste Platte aufnahmen John McEntire. Ursprünglich hatten wir ja mit Brad Wood einen anderen Drummer, der auf unserem Debut spielte. Aber wir hatten bei ein paar Songs das Gefühl, dass die Drums etwas pampig klangen, obwohl sie eigentlich etwas abheben und luftiger klingen sollten, verstehst du? John fragte also, ob er es mal versuchen solle und als er loslegte machte es sofort *klick* und der spezielle Sea And Cake-Sound war geboren.

Ein Sound, der oft als der perfekte Sonntagmorgen-Frühstück-Sonne-Scheint-Durchs-Fenster-Sound bezeichnet wird. Fühlt ihr euch damit eigentlich wohl?

Also ich schon, haha. Ich finde, das passt schon ganz gut. Wir klingen ja auch sehr sonnig. Allerdings muss ich die Einschränkung machen, dass unser Klangbild ja nicht durchgängig leicht und breezy ist. Versteh' mich nicht falsch, ich will mich dagegen gar nicht verteidigen, aber ich denke es ist nicht angebracht, Sea And Cake auf ausschließlich diese Seite zu reduzieren. Es gibt leichtere und schwerere Songs und es gibt leichte Themen und schwerere Themen.

Vor einiger Zeit gab es in einem deutschen Musikmagazin en Interview mit Sam zu lesen, in dem er sagte, dass er der Meinung ist, dass sich unter der Oberfläche viele Zweifel und viel Melancholie verbergen. Um das zu erkennen müsse man aber sehr genau hinschauen. Wie macht ihr das, dass diese schwermütigeren Themen so subtil in euren Sound eingeflochten werden?

Ich denke, dass es einfach im Songwritingprozess so passiert und diese Seite von Sea And Cake genauso zu unserem Sound gehört. Bei dem Song "Transparent" auf "Everybody" waren wir zum einen alle sehr überrascht, dass er sich zu einer solch eher komplexen Struktur entwickelte, aber ich denke zum anderen, dass gerade dieser Song ein sehr gutes Beispiel dafür ist, dass wir zwei Seiten miteinander verbinden: die sonnige und die melancholisch-zweifelnde. Des Weiteren denke ich, dass Sams Texte die Musk unendlich bereichern, auch gerade hinsichtlich dieser zwei Emotionen. Ich weiß, dass viele sagen, unsere Texte seien nicht so wichtig oder gar zu gefällig, aber ich verwehre mich gegen den Standpunkt, dass sie nichts aussagen würden. Sie bedeuten etwas, und Sam wählt die Wörter sehr sorgfältig aus, die er singt. Ich war schon immer ein großer Fan seiner Texte und ich glaube, dass gerade sie es sind, die die dunkleren Nuancen wie Melancholie oder auch Frustration in unsere Musik bringen. Es gibt immer einen Gegenspieler, der das Gegenteil aufnimmt und ihm den Ball wieder zurückspielt.

Diskutiert ihr eigentlich die Texte mit Sam oder ist das ausschließlich sein Ding?

Oh, Eric und ich haben früher sogar selbst Texte geschrieben oder Sachen zu Sams Lyrics beigesteuert, als wir noch etwas produktiver waren. Aber mittlerweile sehen wir dazu keine Veranlassung mehr. Sam singt und greift dabei auch auf seinen Notizblock zurück, auf dem er immer wieder einzelne Phrasen und Worte notiert...er hat also genug davon, denke ich, haha. Es kommt vor, dass ich einige Stellen kommentiere, wenn alles vorbei ist. Im Sinne von "Oh, das ist aber ziemlich düster, oder?". Man kann eigentlich leicht die Bedeutung der Worte außen vor lassen und einfach nicht darauf achten, aber ich achte bei Sam immer darauf. So lassen sich viele interessante Aspekte erkennen.

Es wurde berichtet, dass ihr wenig Overdubs für "Everybody" verwendet habt, und dass außerdem John McEntire erstmals nicht so stark in die Produktionspflichten eingebunden wurde wie zuvor, sodass er sich mehr auf sein Schlagzeugspiel konzentrieren konnte. Wie lief das ab?

Es hatte jedenfalls nicht soviel damit zu tun, dass Brian Paulson die Platte produzierte, weil im Grunde es immer noch wir waren, die Hand anlegten. Und wir sind es auch immer noch die im letzten Schritt entscheiden, was der Song benötigt. Ob hier oder da noch Keyboards notwendig sind...solche Sachen. Aber wir versuchten uns ein wenig mit diesen Sachen zurück zu halten. Wenn wir einen Song geschrieben hatten, hatten wir meist das Gefühl, es sei bereits alles da, was er benötigt. Das war auch ein Vorteil, den Brian ins Spiel brachte. Er ist eher direkt in seiner Arbeitsweise und nimmt alles recht zielstrebig auf. Nichtsdestotrotz hat auch er seine Ideen eingebracht, die man auch auf dem Album hören kann. Er hatte auch großen Anteil an dieser Platte. Es war eine Gemeinschaftsarbeit. Eigentlich arbeiteten wir den Song bis an die Spitze aus. Bis zu dem Punkt, an dem wir dachten "Okay, das war's!" und DANN gingen wir erst dazu über zu überlegen, ob noch etwas fehlt. Das war sehr hilfreich, um den Blick frei zu bekommen. Du läufst irgendwann Gefahr, die Übersicht zu verlieren, wenn du einen Keyboardteppich über den anderen stapelst und dir davon einen besseren Song erhoffst. Und irgendwann schüttelst du nur noch mit dem Kopf und denkst "alles muss hier wieder weg". Da war unsere Taktik wesentlich besser.

Und ich gehe davon aus, dass du mit "Everybody" sehr glücklich bist?!

Ja, absolut. Sehr glücklich.

Das ist gut. Ich nämlich auch.

Hahaha. Es ist interessant, dass wir eigentlich alle sehr zufrieden sind. Ich meine, du wirst immer Situationen haben, gerade wenn du auf Tour bist und das Material jeden Abend spielst, dass du denkst, dass die ein oder andere Passage vielleicht schneller sein müsste. Wenn du auf der Bühne dann das Tempo anziehst und merkst, dass es besser klingt, dann wünschst du dir, dass du auf der Platte schon diesen Einfall gehabt hättest. Aber das ist das Übliche, damit ärgern sich noch ganz andere herum, wenn die Scheibe erstmal im Kasten ist.

Findest du es eigentlich auch so bemerkenswert, dass die Reviews zu jeder neuen Platte im Grunde immer wieder dasselbe sagen? Meistens heißt es doch "Es gibt hier nichts Neues zu hören, aber wahrscheinlich ist diese neue Sea And Cake-Platte die schönste, die sie bisher aufgenommen haben.", und dieser Gegensatz zwischen "Nichts Neues, aber schöner als der Rest." ist doch sehr interessant, gerade hinsichtlich der Rezeption eurer Musik. Wie siehst du das?

Es wird mehr und mehr frustrierend. Wir als Band sehen sehr wohl eine Entwicklung, wir sehen sehr wohl eine Form von Wachstum, von Verfeinerung. Und wir sehen auch die veränderten Entscheidungen, wie wir sie von Platte zu Platte einer neuen Form anpassen. Wenn ich "frustrierend" sage, meine ich das auch in Hinblick auf andere Bands, bei denen eine sogenannte fehlende Weiterentwicklung in der öffentlichen Meinung niemals eine Rolle spielt, obgleich sie einen viel stärkeren Drang nach einem gradlinigen Klang besitzen. Man beginnt daran zu glauben, dass viele Journalisten eher nach Information und Bestätigung suchen, weil sich dieser Vorwurf so oft wiederholt und weil er überall auftaucht. Wir denken dann immer "Okay everybody! We get it!". Aber wir gehen niemals mit diesen Gedanken im Kopf an die Arbeiten zu einem neuen Album. Unser Gefühl dazu ist eher in der Art von "Lasst uns ein Album machen, das wir gerne hören würden."





Zumal es gerade in Bezug auf "One Bedroom" sehr wohl eine nicht zu unterschätzende Entwicklung in eurem Sound gibt. "Everybody" ist detailreicher, zugleich fokussierter und die offensivste Sea And Cake-Veröffentlichung bis jetzt.

Da stimme ich dir zu. Bei jedem neuen Album werden die Anforderungen an die Band größer. Meine beiden Lieblingsplatten sind "Everything" und "Oui" (aus dem Jahr 2001 - F.E.). Ich bin sehr stolz auf diese beiden Platten und all die Zeit, die wir damit verbrachten sie fertig zu stellen war es wert. Ich höre mir unsere alten Scheiben eigentlich nie mehr an, wenn wir sie veröffentlicht haben, aber diese beiden liebe ich dennoch. Sie sind für mich wie Meilensteine, und wir arbeiteten sehr hart für diese Platten.

"All The Photos" von "Oui" ist einer meiner Lieblingssongs von Euch. Spielt ihr den auch live auf dieser Tour?

Ich muss dich leider enttäuschen, den spielen wir nicht, weil er so viele Keyboards benötigt. Weißt du, wir dachten uns für diese Tour, dass wir mit demselben Ansatz an sie herangehen sollten, wie wir auch dem neuen Album begegnet sind. Eben direkter. Und es fühlt sich ganz gut an, muss ich sagen. Es ist mehr Raum und Luft für die Songs da, es gibt mehr Freiräume und nicht diese ganzen Töne, die jedes Loch zumauern wollen. Das ist auch spannender für uns auf der Bühne. Wir sind eine eher introvertierte und bescheidene Band, die nicht um jeden Preis die Aufmerksamkeit auf sich ziehen muss, wirklich nicht. Es fühlte sich manchmal schon sehr merkwürdig an, wenn wir Gastmusiker auf der Bühne hatten, damit wir möglichst nah an den Klang der Platte auf CD kamen. Dieses Mal hatten wir alle das Gefühl, dass wir all das hinter uns lassen sollten. Ich wollte immer eine raffinierte Vertracktheit entwickeln, sodass deine Ohren immer nach einer neuen Information suchen und nicht vor Langeweile einschlafen. Ich möchte mich selbst herausfordern, den Song herausfordern...

Ist das der Ansatz, den du beim Schreiben der Gitarrenparts für "Everybody" im Sinn hattest? Du spielst auf der neuen Platte viel detaillierter, viel "tiefer"...

Ja, ganz bestimmt. Um nochmal auf die Entstehung von "One Bedroom" zurück zu kommen: gerade der Unterschied von dieser zur neuen Platte ist ziemlich auffallend, was die Gitarren betrifft. Meine Gitarre war auf "One Bedroom" sehr minimalistisch, deswegen finde ich sie vom Standpunkt eines Gitarristen jetzt auch nicht übermäßig interessant. Es ist richtig, wenn du sagst, dass ich auf "Everybody" wieder etwas präsenter und detaillierter vorgehe. Wobei es damals wie heute Situationen gibt, in denen ich einige Passagen lieber weglasse, vor allem dann, wenn wir nachdem Sam seinen Gesang beisteuerte merken, dass es besser passt, wenn die Gitarre wegfällt. Bei "One Bedroom" haben wir sie beispielsweise oft durch Keyboards ersetzt und bei "Exact To Me" auf dem neuen Album habe ich das Riff der Art von Sams Gesang angepasst. Und es klingt so viel interessanter als vorher.

In eurer Musik schlagen für meine Begriffe zwei Herzen: eines, das sich eher in einem urbanen Großstadtfeeling widerspiegelt, während das andere sich für die hippieske Selbstversorgerfarm entschieden hat. Ich finde auch diesen Gegensatz in eurem Sound sehr inspirierend und er steuert viel zu der Faszination von The Sea And Cake bei, wie ich finde. Wie siehst du das?

Ähnlich. Ich denke, The Sea And Cake sind einerseits sehr distanziert, andererseits aber auch sehr einnehmend mit einer Art von entwaffnender Intimität, die dich ganz nah heranzieht. Manche Leute sagen, es sei organisch. Ich finde, dass es ein ganz netter Ort ist, an dem man sich als Band aufhalten kann.

Das GQ-Magazin beschrieb euch mit den Worten "Musik, die ihren Kopf über den Wolken und ihre Füße auf dem Boden hat", was ein angemessenes Bild ist, wie ich meine.

Wir achten vor allem immer auf eine gute Melodie, weißt du?! Wenn du keine gute Melodie hast, fällt alles in sich zusammen...

Dann könntet ihr ja auch gleich Black Metal spielen...was eh keiner will, aber...

Haha, ja. Wir albern immer herum und sagen, dass wir endlich mal ein Black Metal-Album machen wollen um all den Kritikern das Maul zu stopfen, die immer wieder "alles wie immer" schreiben, hahaha.

Es gibt besonders hier in Deutschland seit einigen Jahren sogar unter den Intellektuellen den Drang dieser Musik ein Image des Anspruchsvollen, des Intelligenten und des Geistreichen zu verleihen, was ich niemals auch nur im Ansatz verstanden habe, und das trotz meiner Metal-Sozialisation. Ihr könntet also mit eurer Black Metal Platte voll durchstarten, haha.

Was ich davon gehört habe klingt sehr oberflächlich und lächerlich. Obwohl es wie eine Karikatur von Musik klingt, gibt es dort nicht einen Funken Humor, was mich wirklich immer wieder schockiert. Aber für viele Menschen ist das ein verführerischer Ort, diese Dunkelheit, der Hass, die Konfusion. Aber es ist gleichzeitig eben auch ein sehr einfacher Weg, den man damit geht, egal über welche Kunstform wir jetzt sprechen. Dunkelheit und Hass sind die einfachsten Emotionen, die man auswählen kann, eine billige Partie. Ich habe daran kein Interesse. Weißt du, ein gut ausgearbeiteter Song hat genau den Anteil Dunkelheit und Zweifel in sich, den er benötigt um ein guter Song zu sein. So machen zumindest wir unsere Musik.


Mr.Prewitt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


Die Web-Ansicht auf den Seiten des Internet Archives ist HIER zu finden


 

26.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


In den letzten zehn Jahren erschienen gerade mal zwei Alben von The Sea And Cake, und wer sich nicht erst seit gestern auf diesem Blog herumtreibt oder mich gar, Himmel hilf!, persönlich kennt, ahnt, dass frei nach Vicco von Bülow eine Bestenliste ohne The Sea And Cake zwar möglich, aber komplett sinnlos gewesen wäre. Seit 15 Jahre trage ich meine Liebe zu diesem Quartett auf, neben, unter, vor und hinter dem Herzen spazieren und es gibt nur wenige Bands, die mich mit links zu einem furiosen, mit leuchtenden Augen und bebender Stimme vorgetragenen Monolog über Schönheit, Raffinesse, Subtilität, Virtuosität von Musik schubsen können. 

Vielleicht erfuhr meine Wertschätzung mit "Any Day" einen neuen Höhepunkt, denn das ist das Schöne am Älterwerden: man lernt Außergewöhnliches eben doch noch mehr zu schätzen, als wenn Testosteron, Samenstau und generelle juvenile Quadratblödheit im Weg stehen. Fünf Jahre nach dem ebenfalls hervorragenden "Runner" haben sich die dreieinhalb stillen Helden tatsächlich nochmal aufgerafft und ihren unnachahmlichen Sound weiter verfeinern können. Jede noch so diffizile Akzentuierung gelingt mühelos, jedes Break wird sicher und souverän durch alle Stromschnellen hindurch geführt, jede Melodie als Kokon sorgfältig verschnürt und mit großer Selbstverständlichkeit und einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit geschickt. Wer ihnen genau auf die Finger und auf die funkelnden Hochenergiesynapsen in den vernetzt arbeitenden Gehirnen und Herzen schaut, wird im Verlauf von "Any Day" kaum ohne spitze Freudenschreie auskommen. 

Nie war dieses Urteil wertvoller und wahrer als heute: Was für ein Erlebnis, diesen absoluten Könnern zuzuhören. Ich lebe für solche Momente. 

The Sea And Cake ist Leben. 




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018. 


21.01.2012

2011 #10 - The Sea And Cake °° The Moonlight Butterfly


Meine in früheren Einlassungen zur Karriere von The Sea And Cake geäußerte Ansicht, dass jedes neue Album des Quartetts aus Chicago auch automatisch den nächsten künstlerischen Zenith ihres Schaffens darstellt, erfährt mit "The Moonlight Butterfly" einen kleinen Dämpfer. Was allerdings eher an der Qualität des Vorgängers "Car Alarm" liegt. Also nicht traurig sein, es ist alles gut.

"The Moonlight Butterfly", ihre neunte Veröffentlichung, ist kein vollständiges Album - die Band benötigt für sechs Songs gute 33 Minuten - jedoch das erste Lebenszeichen seit "Car Alarm" aus dem Jahr 2008, sofern man von der Split 7" mit dem kanadischen Kollektiv Broken Social Scene absieht, die im Jahr 2010 in einer kleinen Auflage und im Rahmen einer gemeinsamen US-Tour erschien.

Eine kleine Beichtstunde: ich habe mit jeder neuen The Sea And Cake-Platte zu Beginn meine kleinen Probleme und paradoxerweise resultiert der Grund dafür in die spätere Zuneigung. Hinter dem offenkundig luftigen Bandsound, der selbst die zarte Brise in einem Haus am Strand wie einen Orkan dastehen lässt, stecken subtile Details und verzwickte, dicht geknüpfte Arrangements, durch die man sich erstmal durchhangeln muss. Wenn die Enden dann in der eigenen Hand liegen und man verfolgt, wohin die Pfade führen, lichtet sich der Dunst. Was man dann vor sich hat, ist die entblößte Schönheit einer feingesponnenen, perfekt ausbalancierten Kunst im Breitbandformat. Eine niemals verwelkende Blüte vom besten, was Musik werden kann. "The Moonlight Butterfly" macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme.

The Sea And Cake haben auch bei dieser Platte versucht, ihren Sound weiter zu entwickeln. Die Kompositionen sind ausufernder geworden, vielleicht könnte man es es sogar psychedelischer nennen. Die Beweisführung tritt das fast zehnminütige Herzstück "Inn Keeping" an - nicht nur der vielleicht beste Song, den die Band jemals geschrieben hat, er hebt sich in Sachen Aufbau und Struktur von ihrem übrigen Oevre ab und nimmt sich in jeder Phase seines Lebenszyklus viel Zeit und Raum. Dabei blieben die eigentlichen Zutaten des Sounds unverändert: es ist immer noch diese betörende Mischung aus Indie-Pop und Jazz, die mir so unverwechselbar wie nobel den Kopf verdreht und stets die richtigen Knöpfe drückt.

In manchen Situationen ist das schlicht die beste Band der Welt.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2011.

28.03.2009

Platz 1


The Sea And Cake - Car Alarm

Es muss Sommer werden, ganz dringend. Meinetwegen tut's auch erstmal der Frühling, aber bitte: dieser Scheißwinter soll sich bitte mal ver....abschieden. Ich muss endlich wieder auf meinem Mikrobalkon sitzen/liegen/stehen/frühstücken/herumnachten und mir dabei zur wärmenden Sonne und zur lauen Sommernacht die schönste Musik um die Ohren wehen lassen, die es für solche Momente zu geben scheint. 

Ich hörte mich in den letzten Tagen durch so manches früheres The Sea And Cake-Album und musste in der näheren Auseinandersetzung das ein oder andere zu schroffe Urteil meinerseits revidieren, beispielsweise zur mittlerweile genügend rehabilitierten "One Bedroom" aus dem Jahre 2003, die selbst das graueste Grau eines Montags im März in ein perfektes Kaffeekränzchen an einem Sonntagnachmittag im August verwandeln konnte. Auch in anderer Hinsicht war es gut, sich nochmal eingehender mit der Band zu befassen; die Beobachtung der Weiterentwicklung des Bandsounds und der Arrangements über all die Jahre geriet recht eindrucksvoll und half dabei, das aktuelle, nunmehr achte Studioalbum der Band, entsprechend ein zu sortieren. Und man tut gut daran, "Car Alarm" zunächst etwas losgelöst vom sonstigen Oevre zu betrachten. Wenn Sänger/Gitarrist Sam Prekop schon über den letzten Geniestreich "Everybody" sagte "It's a rock album", dann ist "Car Alarm" zumindest streckenweise mindestens Hardcore. Enorm flüssiger The Sea And Cake-Hardcore, der einem zu Beginn fast unbemerkt durch die Finger rieselt.

Nach Beendigung der letzten Tournee begab sich die Band umgehend an die Arbeiten zu "Car Alarm", und das aus gutem Grund: der Schwung aus den vergangenen Monaten auf der Bühne und die damit bestens geölte Bandmaschinerie sollten unbedingt auf dem folgenden Album im Vordergrund stehen. Man experimentierte mit dieser Kraft und diesem Fluss und hatte in nur drei Monaten ein komplettes Album im Kasten, und der Einfluss dieser Arbeitsweise ist deutlich zu hören. Wenn ich schon über den Vorgänger schrieb, dass "ihr Anspruch, in dem zugegebenermaßen begrenzten stilistischen Rahmen um die Fixpunkte Jazz, Indie und Pop, immer wieder die besten Songs aufzunehmen, die sie zur Zeit in der Lage sind zu schreiben, hier seine Vollendung findet", dann müsste ich mich nicht sonderlich schämen, purzelten mir ein Jahr später diese Worte nochmals aus dem Handgelenk. Auch wenn es diesmal etwas länger als gewohnt dauerte.

"Car Alarm" benötigte tatsächlich mehr Eingewöhnungszeit. Es gab gar Momente, in denen ich Songs wie dem furios lospreschenden Titeltrack ziemlich ratlos gegenüberstand. Oder das synthiepiepsige "Weekend", das mit seiner aufgedrehten Jungbrunnen-Art so gar nicht in den Kontext passen wollte. Erst nach einigen Wochen (und mehrfachen Kopfhörer-Sessions) wuchs "Car Alarm" nicht nur zusammen, sondern auch über sich hinaus: diese Gitarren! Diese unglaublich schönen Gitarren! Dieses Flirren! Dieses traumhaft sichere und souveräne Umschalten in andere Songdimensionen! Diese perlenden Melodietupfer von Archer Prewitt! Und vor allem: dieser Sound! Wie geil kann man klingen? Und wie geil kann man eigentlich zusammen spielen? Das Rhythmus-Duo mit Drummer John McEntire und Bassist Eric Claridge groovt, jazzt und filigranisiert sich durch luftige, federleichte Songnetze, die Gitarren von Prekop und Prewitt setzen darauf in Milimeterarbeit Melodien und Akkorde, die Prekop mit gewohnt leise hauchender Stimme gefühlvoll links oben unter die Latte nagelt. 

Es passt: alles. Und wer den immer wiederkehrenden Spruch, dass das gerade aktuelle The Sea And Cake-Album auch automatisch ihr bis dato bestes Werk sei nicht mehr hören kann/will, der höre stattdessen bitteschön "On A Letter", "New Schools" (inklusive Gitarrensolo!), "Window Sills" und "Pages" (!!!!!!!!). Danach dürften sich diesbezügliche Zweifel in Luft aufgelöst haben.

18.02.2008

Platz 2



The Sea And Cake - Everybody

Ich könnte The Sea And Cake gar nicht genug in den Himmel loben. Seitdem ich vor fünf Jahren zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Musik des Quartetts machte, sind sie mir mehr als nur ans Herz gewachsen. Meine Einstiegsplatte hieß "Oui" und hatte mit "All The Photos" einen Song an Bord, der künftig stellvertretend für meine Verehrung stand. Nach vier langen Jahren Pause kehrte die Band aus Chicago im Mai dieses Jahres mit einem neuen Album zurück ins Rampenlicht. "Everybody" entpuppte sich nach der üblichen, kurzen Eingewöhnungszeit nicht nur als ungewöhnlich rockige Platte, sie stellt auch nahezu alles in den Schatten, was die Musiker in ihrer an Höhepunken sicher nicht armen Karriere veröffentlichten. Ihr Anspruch, in dem zugegebenermaßen begrenzten stilistischen Rahmen um die Fixpunkte Jazz, Indie und Pop, immer wieder die besten Songs aufzunehmen, die sie zur Zeit in der Lage sind zu schreiben, findet hier seine Vollendung. "Everybody" ist atmosphärisch geradezu beängstigend stimmig und bekam tatsächlich die schönsten, wärmsten, straightesten und zeitgleich vielschichtigsten Songs geschenkt, die je auf einer Sea And Cake Platte zu finden waren. Sänger Sam Prekop, der erneut mit seiner halb-lasziven, halb-schüchternen, gehauchten Stimme zu jeder Sekunde die passenden Worte und Melodien findet, betonte in Interviews zu "Everybody";"It's a rock album.". Was man eben in Sachen Rock von dieser Band erwarten kann.

Als ich kürzlich im Rahmen dieses Countdowns die Scheibe nochmal in den Player schob, um sicher zu gehen, dass ich hier auch bloß keinen Blödmist erzähle, waren Songs wie "Exact to Me" mit seinen perkussiven, afrikanisch-angehauchten Gitarrenfiguren, die laue Sommerabend-Hymne "Middlenight" und der unbeschwerte, lebensfrohe Opener "Up On Crutches" um ein Haar dafür verantwortlich, dass "Everybody" mit meiner eigentlich gesetzten Nummer eins die Plätze tauschte. Mir geht immer das Herz auf, wenn ich diese durch und durch fantastische Platte höre.

Hört mehr The Sea And Cake!

05.04.2010

2000-2009 #17: The Sea And Cake - Car Alarm


Wenn ich meiner in früheren Besprechungen geäußerten Beobachtung folgen will, muss "Car Alarm", das immer noch aktuelle Album von The Sea And Cake aus dem Jahr 2008 in dieser Bestenliste auftauchen - und nicht wie ursprünglich geplant "Everybody" aus dem Jahr 2007. Wann immer eine neue Scheibe der Postrock-Institution aus Chicago erscheint, ist es für mich auch gleichzeitig ihr bis dato bestes Werk, demnach wäre es inkonsequent, nun den Vorgänger zu erwähnen. Aber ich muss schon zugeben: ich habe innerlich den ein oder anderen Ringkampf gerungen.

Trotzdem ist es am Ende eine gute und stimmige Entscheidung, denn das Quartett klingt auf "Car Alarm" so perfekt wie noch nie - und das will was heißen. Natürlich sind auch überragende Songs wie "On A Letter" oder "Pages" gute Argumente für eine entsprechende Auswahl, aber im Grunde hatte auch "Everybody" brilliante Stücke im Gepäck, ich denke da nur an den Opener "Up On Crutches" oder das weich-schummrige "Coconut". Die Nasenlänge, die "Car Alarm" in Sachen Songwriting vorne liegt ist geschenkt, wir sprechen hier von winzigen Nuancen und die Bewertung derselben sind nicht selten tagesformabhängig. Was mich jedoch an "Car Alarm" nach diesmal etwas länger andauernden Eingewöhnungszeit so faszinierte (und mich außerdem bis heute fasziniert) ist wie es ihnen gelang, ihren unverwechselbaren Klang derart tadellos ein zu fangen. Aus produktionstechnischer Sicht ist "Car Alarm" eine Meisterleistung. Die Band schwebt selbst in den etwas ruppigeren Momenten nur so dahin, ist immer bei sich, megakompakt, kommuniziert ohne Unterbrechung miteinander, spielt sich die Bälle zu, nimmt andere auf, immer souverän aber nie abgeklärt, immer präsent aber nie aufdringlich. Ganz wie es ihrer Natur entspricht, vollzieht sich die Weiterentwicklung immer auf subtilstem Niveau, die harten Brüche und naiven Interpretationen überlassen sie anderen. Im Rückblick muss vermutlich die lange Pause zwischen "One Bedroom" (2003) und "Everybody" (2007) als Meilenstein der Sinn- und Soundsuche gefeiert werden. Wo die Frühwerke wie das selbstbetitelte Debut, "Nassau" oder das ebenfalls großartige "Oui" noch von einem spröden Selbstvernachlässiger-Charme getragen wurden, wo nicht selten eine immer leicht scheppernde, verzerrte Indie-Ästhetik im Vordergrund stand, konnte der auf "One Bedroom" geschärfte, aber weitaus elektronischere Ansatz in den vier Jahren bis zum Comeback auf ein Gitarrenkonzept umgesetzt werden. Gitarrist Archer Prewitt gab im Interview, das ich vor drei Jahren mit ihm führen konnte, auch folgerichtig zu, dass er mit der elektronischen Ausrichtung von "One Bedroom" nicht hunderprozentig einverstanden war - aus der Sicht eines Gitarristen, wie er schnell anfügte, weil er eben viel weniger zu spielen hatte als zuvor.

Irgendetwas muss also in diesen vier Jahren geschehen sein. The Sea And Cake klingen seit "Everybody" anders - nennen wir es professioneller, runder, stimmiger. Und die Entwicklung ist für "Car Alarm" nicht abgebrochen, ganz im Gegenteil. Sie schafften den größten Sprung auf den denkbar sublimsten und feinsten Pfaden. "Car Alarm" erstrahlt in Größe.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2008

09.04.2011

The Sea And Cake - The Moonlight Butterfly

Die fantastischen Post-Pop-Rocker The Sea And Cake, nun schon seit mehreren Jahren eine meiner absoluten Lieblingsbands, veröffentlichen am 10.Mai 2011 ein Lebenszeichen - das erste seit dem Erscheinen des großartigen "Car Alarm"-Albums aus dem Jahr 2008, sieht man von einer kurzfristig eingeschobenen 7-Inch Split-Single mit den Kanadiern Broken Social Scene ab.

Das neue Album trägt den Titel "The Moonlight Butterfly" und enthält insgesamt sechs Stücke:

01 Covers
02 Lyric
03 The Moonlight Butterfly
04 Up on the North Shore
05 Inn Keeping
06 Monday

Und so schaut's aus:


Und so klingt's:

UP ON THE NORTH SHORE (Freier Download von Thrill Jockey)

Der Sommer dürfte alleine damit gerettet sein. Freut Euch - ich freu' mich schließlich auch!

16.09.2012

Meer und Kuchen, revisited


Es ist ein freundlicher Sonntagmittag in Wiesbaden und folgerichtig dreht sich zum freundlichen Post-Breakfast-Kaffee die gleichfalls freundliche neue Platte von The Sea And Cake auf dem Plattenteller.

Bevor ich in den kommenden Tagen etwas weiter aushole und eine Handvoll Zeilen über das Werk fallen lasse, habe ich eben entdeckt, dass Drowned In Sound einen vollständigen Albumstream von "Runners" anbieten. Den gilt es nun mit Euch, meinen allerliebsten Lieblingslesern, zu Teilen.

Tasse Kaffee aufbrühen, Fenster auf, Liebe an.

ALBUMSTREAM // THE SEA AND CAKE - RUNNERS 

24.02.2013

2012 ° Platz 2 ° The Life And Times - No One Loves You Like I Do



THE LIFE AND TIMES - NO ONE LOVES YOU LIKE I DO

Als ich vor wenigen Tagen feststellte, es gäbe außer The Sea And Cake keine andere Band, die ich auf diesem Blog mit soviel Hingabe und Liebe überschüttet habe, dann war das wenn nicht glatt gelogen, dann zumindest nur die berühmte halbe Wahrheit. The Life And Times gehören seit ihrem Albumdebut "Suburban Hymns" zu meinen Lieblingsbands, was ich an der ein oder anderen Stelle bereits ebenfalls ausgiebig breittrat. Das Power Trio aus Kansas City hat praktisch noch keinen auch nur durchschnittlichen Ton auf eine Platte gepresst und kommt mit seinem psychedelischen, schweren und emotionalen Indienoiserock verdammt nahe an meine Idealvorstellung aktueller Rockmusik heran.

Allen Epley, Meister des verschrobenen Arrangements und außerdem Saitenhexer von kilometermeterdicken Noiselayern, die einen Kevin Shields wie einen blutigen (haha!) Anfänger aussehen lassen, hat aus der Asche seiner früheren Alternative/Grunge Truppe Shiner einen völlig einzigartigen Stil für The Life And Times geboren und mit seinen Kumpels Eric Abert am Bass und Chris Metcalf am Schlagzeug mittlerweile zur Perfektion veredelt: tonnenschwer, verzerrt, noisy, dabei aber zum Sterben romantisch, melancholisch, opulent und tiefrot glimmend. Es gibt keine Band, die auch nur im Ansatz so klingt wie diese drei Typen.

"No One Loves You Like I Do" ist in der Liste vergangener Klassiker keine Ausnahme, tatsächlich muss ich zugeben, dass ich im Grunde bereits vor Veröffentlichung "Na, dann muss ich mir dieses Jahr ja keine Gedanken um meine Nummer 1 machen!" jubelte. Jetzt steht ihr drittes Studioalbum also auf Platz zwei, und es liegt weißgott nicht an seiner Qualität, denn das Trio ist auf Albumlänge kompakter geworden, hat aber gleichzeitig an der Psychedelic-Schraube gedreht und einige ziemlich fiebrige Minuten aufgenommen, die den Kopf ganz schön weichkochen und ohne echte Auseinandersetzung wie Staub zerfallen können. Ich habe keine Ahnung, wie sie das angestellt haben, aber es gibt Momente im Verlauf der 46 Minuten, die das komplette Werk als großen Noise-Meteoriten aus purer, in Chloroform getränkter Watte erscheinen lassen. Und jeder Ton gräbt sich tief in die DNA jeder einzelnen Körperzelle ein.

It doesn't get much more intense than this.


Veröffentlicht auf Hawthorne Street Records, 2012.

25.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 19: marine eyes - chamomile



MARINE EYES - CHAMOMILE

Ein großes Versäumnis, das der Verzicht auf eine Bestenliste fürs Jahr 2021 auf diesem Blog mit sich brachte, ist die bisherige  Nichterwähnung von marine eyes, einem Ambientprojekt von Cynthia Bernard. Ihr Debutalbum "idyll" brachte mich auf meinem Instagramkanal ins rhetorische Trudeln:

"Sounds as if the vibes from The Sea And Cake's music have an out of body experience under an almond tree in full blossom on the Samoan Islands, right after getting a serious dose of muscle relaxants (life goals, btw!). So peaceful and soothing, you can't help but get lost in it."

Und auch wenn's in so illustren wie professionellen Zirkeln ein bisschen cringe wirkt, sich erstens selbst zu zitieren und sich zweitens dann auch noch selbst auf die Schulter zu klopfen, sei's drum: da stimmt ja immer noch jedes Wort. "idyll" war das reinste, sanfteste, friedvollste Weiß der Welt. Cynthias zweites Album, das im gleichen Jahr veröffentlichte "Unfailing Love", ist in Zusammenarbeit mit Past Inside The Present-Gründer zaké entstanden (gemastered übrigens von niemand Geringerem als Stephan Mathieu) und bekam im direkten Vergleich ein wenig mehr Erdung und Melancholie unter die Schwerelosigkeit gelegt. 

Als im Oktober des letzten Jahres unser Hund Fabbi schwer krank wurde, und ich unter seelischer Betäubung versuchte, die Tage ohne einen oder dreizehn Nervenzusammenbrüche zu überstehen, wurde mir "chamomile" ein Begleiter in dieser von Schlaflosigkeit und großer Traurigkeit geprägten Zeit. Mir erschien die Ansprache dieser Musik als intuitiv unemotional. Sie war einfach...da. Sie forderte nichts ein, sie kam mir nicht ungefragt zu nahe - sie tröstete einfach nur. Sie füllte den Raum um mich herum mit einem Kokon aus tausenden kleinen Lichtpunkten, mit Verständnis und Zuspruch, damit ich nicht fallen konnte. Ein Seraphim. 

"chamomile" kann mir meine Angst vor Krankheit, Tod und Verlust nicht nehmen. Aber es macht den Umgang mit den Erlebnissen und Erfahrungen einfacher. Es ist magische Musik, die das Leben, den Augenblick und das Universum feiert.

--

Vinyl: Meine Past Inside The Present-Pressungen sind leider nicht immer makellos, was bei der im Allgemeinen sehr verhaltenen Musik problematisch werden kann. Meine "Cocoon White"-Version von "chamomile" ist insgesamt zufriedenstellend, aber nicht perfekt. Das Cover-Artwork ist ein Träumchen und so friedvoll und transparent-schimmernd wie die Musik.


   


Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.



03.05.2016

Let's Do This!




TORTOISE - THE CATASTROPHIST


Die Postrocklegende aus Chicago hat es weit gebracht. Was bis zum 2004er Album "It's All Around You" in erster Linie nur den Underground interessierte, ist spätestens seit ihrem letzten Album "Beacons Of Ancestorship" aus dem Jahr 2009 auch im hiesigen Feuilleton angekommen, das bei einem Lebenszeichen aufmerksam wird und die spitzen Finger für allerhand schlaue und bekloppte Texte spreizt, die alle das Ziel zu haben scheinen, mindestens genauso verkopft zu sein wie die Musik der Band; unvergessen etwa der üble Verriss aus der Süddeutschen, den die beliebte Qualitätszeitung aus München zwischenzeitlich offenbar aus ihrem Netzrepertoire entfernt hat. Springers anerkanntes Idiotenfachblatt "Die Welt" stammelte 2009 hingegen mit verschwurbeltem Musikkritikerquatschdeutsch durch die letzten viereinhalb überlebenden Hirnzellen der Leserschaft, die die Texte von Ulf Poschardt überlebt haben:

"Mal imitiert der Sampler eine springende Schallplatte. Mal wirkt ein Stück allein durch umständliche Titel wie "Yinxianghechengqi". Über weite Strecken fehlen heute die verblüffenden Melodien, und wo früher Stille herrschte, hört man heute magenkrankes Blubbern."

- wovon mein Magen auch ein paar Geschichten erzählen kann, vor allem nach dem Lesen solcher Texte. 

Die Zeiten haben sich in den letzten sieben Jahren geändert - heute liest man auch aus den deutschen Redaktionsstuben fast nur Wohlwollendes über "The Catastrophist"; Tortoise sind nunmehr die gesetzten Intellektuellen, künstlerisch anspruchsvoll, schwer zu durchschauen, unvorhersehbar. Und weil ich nicht immer nur schimpfen kann, sage ich: das ist richtig.

"The Catastrophist" ist schon heute, zwei Monate nach der Veröffentlichung, eine meiner meistgehörten Tortoise-Platten - und das sage ich im Angesicht meiner damaligen Sucht nach "TNT", "Standards" und vor allem "It's All Around You". Das Quintett, das seinen Sound über die Jahre hinweg immer wieder subtil veränderte und mit einem ganzen Sack voll unterschiedlicher Einflüsse, vom Krautrock über Jazz und Pop bis zum Noise, experimentierte, geht auf seinem siebten Studioalbum in der Gesamtanlage etwas gebremster und übersichtlicher zu Werke und ist dabei konsequenterweise stilistisch so kohärent wie vielleicht noch niemals zuvor. Etwas despiktierlich fielen mir möglicherweise "versöhnlich" und "Alterswerk" als beschreibende Attribute ein, aber das geht in die falsche Richtung: Tortoise sind alles andere als kreativ müde - und dafür muss ich nicht mal exklusiv die beiden Gesangspremieren auf einem ihrer Alben herausstellen: "Rock On", ein wunderbar ironisches und heruntergekommenes Cover des alten Hits von David Essex, herausragend interpretiert von Todd Rittman (U.S. Maple) und der Einsatz von Yo La Tengos Georgia Hubley auf "Yonder Blue", der erstmals einen Hauch von laszivem Sex auf einem Tortoise-Album platziert, setzen markante Duftmarken auf "The Catastrophist". Trotzdem drängen sich diese beiden Revolutionen nicht in den Vordergrund, um das restliche Material auf ihren Schultern tragen zu müssen. Tortoise wissen nicht erst seit gestern, was sie tun (und tun müssen). Von spannungsgeladenen Arrangements wie in "Shake Hands With Danger" bis zum vordergründigen Hängemattengedudel in "Hot Coffee", einem Überbleibsel aus den "It's All Around You"-Sessions, und dem luftigen, leicht an The Sea And Cake erinnernden Wolkenschmeichler "Tesseract", habe ich hier nur gute Gefühle, Spaß und Inspiration. 

"The Catatrophist" marschiert gerade mit ziemlich großen Schritten in Richtung Jahres Top-Ten. 





Erschienen auf Thrill Jockey, 2016.

12.11.2011

We Came As Lizards

ANTELOPE - REFLECTOR 

Das Dischord-Label ist in den letzten Jahren nicht unbedingt durch neue Signings in Erscheinung getreten. In erster Linie widmete sich das Team von Labelgründer Ian MacKaye um die konsequente Wiederveröffentlichung alter Dischord-Schätze, um die auf den betreffenden Platten verewigte Musik am Leben zu halten. Als MacKaye in einem Interview zum dreißigjährigen Jubiläum Dischords darauf angesprochen wurde, warum in den letzten Jahren nur wenige neue Bands aus seinem Stall eine Veröffentlichung vorweisen konnten, verwies er zum einen auf die Abwanderung vieler Washingtoner Bands nach New York, die dazu führte, dass die einheimische Szene sich fast vollständig auflöste. Zum anderen erwähnte er namentlich zwei Bands, die in den letzten zehn Jahren zur Familie gehörten, sich aber beide in die Ewigkeit verabschiedeten - wenn auch mit unterschiedlicher Motivation. Da waren zunächst die erst kürzlich hier vorgestellten Q And Not U, und des Weiteren Antelope; ein krudes und verschroben klingendes Trio, das sich aus den Überresten der Vertebrates und El Guapo zusammensetzte. MacKaye blieb in der Begründung kryptisch:"Die einen lösten sich auf, weil sie bekannter werden wollten - was wir Ihnen nicht bieten konnten. Die anderen lösten sich auf, weil sie eben nicht bekannter werden wollten.", was, so meine Vermutung, Dischord eben auch nicht uneingeschränkt super finden konnten. Ich nehme an, dass es sich in letztgenanntem Fall um Mike Andre (drums/bass/vocals), Bee Elvy (drums/bass/vocals) und Justin Moyer (guitar/vocals) von Antelope handelte - es wäre angesichts von "Reflector" keine große Überraschung.

Nach der Bandgründung im Jahr 2001 und zwei folgenden 7-Inch Singles veröffentlichten Antelope im Jahr 2007 ihr erstes und einziges Album - und konnten durchaus ein bisschen Staub aufwirbeln, im überschaubaren Rahmen zwar, aber man kann es schlechter treffen. "Reflector" ist die geordnete, nüchterne Version der Young Marble Giants und deren "Colossal Youth"-LP. Die Arrangements standen zweifellos monatelang auf dem Herd und sind am Ende des Tages fast bis zur Unkenntlichkeit eingekocht, geschrumpft und derart bröselig, dass ein einziger hinzugefügter Tropfen Wasser sie unweigerlich zum Einsturz bringen würde. Die Drums (HiHat, Snare, Bassdrum, ein Becken - fertig!) tackern den stoischsten Beat seit den frühen Trio und deren "dynamische Inkompetenzen" (Remmler) - sonst nichts. Der Bass ist der Baumeister für ein Haus ohne Wände, dafür sehen die nackten Stahlträger total prima aus. Und die Gitarre sucht händeringend nach Harmonien aus schwarzem Stoff, die die Stahlträger umhüllen können, und überraschenderweise findet sie sie auch. In weniger als 30 Minuten gibt es 10 kleine Songskizzen zu hören, die manchmal geradewegs verstörend spröde und kahl wirken, gleichzeitig aber auf eine ebenfalls verstörende Weise funky, tanzbar und beinahe euphorisch erscheinen. Bei den vollends durchlagenden Harmonien im Titelsong oder im Highlight "Flower", bei dem sogar ein bisschen der Post/Artrock aus Chicago durchschimmert (The Sea And Cake), fällt auf, wie diszipliniert die Band arbeitet. Wenn hier nur ein Ton nicht sitzt, kracht das ganze schöne Arrangement in sich zusammen.

"Reflector" klingt zunächst simpel und es ist eine wunderbare, ruhige Platte mit toller, positiver Ausstrahlung. Aber diese Architektur des Nichts ist alles andere als mal eben mit links auf die Festplatte genagelt. Der Gegensatz aus einer bis zur Komplettverweigerung getriebenen Lässigkeit oder gar Lethargie und der brettharten Aufgeräumtheit, die Konzentration und den Fokus einfordert - das macht "Reflector" zu einer selten schönen Eintagsfliege.

Erschienen auf Dischord, 2007.

27.04.2015

Tour De Vinyl - Köln - 8.4.2015 (II)



TOUR DE VINYL - KÖLN
8.4.2015 (Teil II)


Nächster Hotspot also: das Parallel in der Brabanter Straße 2-4. Haben die bösen Stimmen im bösen Internet recht? Geht hier wirklich die Schallplattenwelt und die Musikkultur unter? 

Nach einer guten halben Stunde wissen wir: fast alles Kappes. Zwar könnten wir auf dem Fußboden locker eine Lebertransplantation durchführen und bei dem Raumkonzept von Transparenz und Fläche kommt nicht wirklich Stimmung auf, und wer auf der Suche nach Schnäppchen ist, sollte auch besser einen Bogen ums Parallel machen, legt man für Neuware doch fast immer zwischen 20 und 30 Steine auf den Tisch des Hauses - inklusive einiger absurder Ausreißer nach oben. Dafür ist der Laden aber in nahezu jedem Genre prima sortiert. Vor allem im Raritätenfach dürfte das ein oder andere Herz höher schlagen. Manchmal auch ganz besonders das Herz von Deinem Bankberater. Auf meine drei nervigen Fragen reagierte der Mann hinter dem Tresen total freundlich und konnte mir sofort Auskunft geben. Buchstäblich auf den letzten Drücker finde ich das seit langer Zeit gesuchte Debut von Gil Scott-Heron, die Gedichtsammlung "Small Talk at 125th And Lenox" als Reissue für günstige sagenhafte 15 Euro - sowas geht hier also auch. Guck' an.

Einmal um die Ecke laufen und schwupps! stehen wir auch schon im Groove Attack (Maastrichter Straße 49) - allerdings stehe ich erst mal schön wie der Storch im Salat, weil außer T-Shirts, Jacken, Hosen und Schuhen nicht viel zu sehen ist. Vor allem keine Schallplatten. Der nette Tresenmensch weist mir den Weg in den Keller, dort steht das schwarze Gold. Und wie es da steht. 



Auch hier überrascht mich das Repertoire sehr positiv, denn im Grunde ist das mein physischer Wunschzettel meines bevorzugten Dealers Mailorders. Ich bin baff. Das Groove Attack führt in erster Linie sehr viel Hip Hop, und davon sehr viel Neuware. Alle wichtigen Labels, alle wichtigen Neuheiten, alle wichtigen Wiederveröffentlichungen - es ist alles da. Neben dem zweiten Schwerpunkt, der auf elektronischer Musik, Techno und Drum'n'Bass liegt, gibt es Spurenelemente von Brazil, World, Kraut, Indie, und Punk. Es fällt mir wirklich schwer, den "Shut up and take my money!"-Reflex zu unterdrücken, verantwortlich dafür, dass ich es letztlich doch kann, ist mal wieder die Preisgestaltung. Hier geht es im Vergleich zu den anderen besuchten Läden schon nochmal zwei bis drei Euro nach oben, wohlwissend, dass das nicht immer am Inhaber liegen muss. Die neue (Einzel-)LP von L'Orange beispielsweise, erschienen auf der Mello Music Group, kostet absurderweise auch via Versandhandel 25 Euro, und exakt zu jenem Preis steht sie auch im Groove Attack. Bei anderen Titeln muss man bei den aufgerufenen 27 oder 28 Euro schon mal kurz durchschnaufen. Und dennoch, will ich eine Platte unbedingt und habe sogar das Glück, sie im Laden zu finden - ohne Versandschrott, ohne Bezahlung via Hitler-Paypal und ohne eine arme Socke von DHL durch halb Deutschland zu hetzen, damit ich mir eine überteuerte Schallplatte anhören kann - dann bezahle ich gerne den Sondergroschen des Einzelhandels. In vollem Bewusstsein, das Problem des heißlaufenden Markts und der schwindelerregend schnell aufsteigenden Preisspirale damit gerade nochmal anzufeuern. Wie man es macht, ist es verkehrt in diesem Schweinesystem. Was genau der Grund dafür sein könnte, dass uns der Dreck noch nicht vollends um die Ohren geflogen ist. Unkraut vergeht halt nicht.

Wir verlassen das Groove Attack ohne neue Lieblinge. Nicht fair für einen echt prima sortierten und durchdachten Laden, aber wir haben keinen Geldschisser zu Hause auf der Terrasse stehen. Man mag mir die Unsachlichkeit verzeihen, hier trifft's im Grunde die falschen Jungs. Guter Laden, alle hingehen, Daumen hoch.


Der Abschluss wird nochmal ein Schmankerl. Wir holen die Herzallerliebste aus der Kölner Konsumhöllenmeile heraus, sprechen noch schnell ein Treffen mit dem Oberlehrer ab und fahren Richtung Ehrenfeld. Hier haben Blank When Zero immerhin schon drei Mal gespielt und ich habe in völlig vernebeltem Kopf Tool live gesehen. 1997. Trotz Feuchtigkeits- und Nachtcreme fällt nicht nur an dieser Stelle auf: ich bin alt. 

Ein alter Hase ist auch Jochen Sperber, der Inhaber von Normal Records (Heliosstraße 6). Über Jahrzehnte war der Laden in der Kölner Innenstadt eine Institution, bevor Jochen 2010 frustriert und schwer gezeichnet vom ewigen Kampf gegen Saturn und Media Markt, gegen das Internet und gegen die Pfeifen, die bei ihm stundenlang Platten anhörten und sie dann um die Ecke beim Elektro-Allrounder kauften ("Ich möchte nie wieder in einem Plattenladen arbeiten.") das Handtuch schmiss. Dass der Mann trotzdem nicht ohne Schallplatten und ohne den Kundenkontakt leben kann, entdeckte er Ende 2014 und erweckte Normal Records wieder zum Leben. Die Location alleine ist schon der Hit: in einem Hinterhof in Ehrenfeld wird eine kleine Laderampe hochgekraxelt und man steht in dem niedlich eingerichteten "La Boite Gourmande", der ersten Kölner Konserverie mit Café. In der Durchgangstür entdeckt man sie dann schon: die Schallplatten. Es ist mittlerweile ein toller, sonniger Frühlingstag. Die Stimmung ist so heiter wie das Wetter. Gute Menschen. Plötzlich ist irgendwie alles gut. 



Jochen ist ein sehr sympathischer und offener Typ, dem man problemlos für ein paar Stunden zuhören könnte. Sein Leben hat er in der Plattenladenpause in ein Buch hinein geschrieben, das nur noch redigiert und mit einem Cover versehen werden muss. So philosophieren wir uns alle für eine gute Stunde durch die Gesellschaft, durch Schallplatten, durch Konsum, durch Musik und wir entdecken, dass alles miteinander zusammenhängt. Jochen sagt, er will sich wieder auf das konzentrieren, was für ihn zählt: echte Musik. Und echte Beratung.

"Das was einen guten Händler auszeichnet, ist seine fachliche Kompetenz und sein ahnen von dem was ich mögen könnte. Beratung eben.
Genau das möchte ich wieder tun. Beraten. Das was in den letzten Jahren in meinen vorherigen Läden immer seltener wurde." (Facebook, 11.Januar 2015)

Die Plattenauswahl ist übersichtlich, aber das macht nichts. Dafür ist man gar nicht in erster Linie da. Ich habe die Zeit in dem Laden sehr genossen - man lachte und scherzte, philosophierte, schaute sich nebenher ein paar Platten an, war erstaunt, legte ein paar zum Anhören auf den Plattenteller, blättert in den ebenfalls ausliegenden Büchern, schwätzt weiter...die Zeit verging wie im Fluge. Und fündig wurde ich auch nochmal: die The Sea And Cake-Sammlung ist nach dem Erwerb von "Two Gentlemen" nun tatsächlich komplett und endlich steht nun "Cavale" von ihrer Quasi-Vorgängerband Shrimp Boat auf dem Bandaltar in meinen 3,40qm Luft, Liebe und Musik. 

Toll. Danke Simon! "Des wär' aber net nöödisch geweese!" (Henni Nachtsheim)


Um ein Haar noch toller: ich entdecke "Moment Returns", das 2004er Album von der australischen experimentellen Jazzband Triosk auf Vinyl. Die 2007 leider aufgelöste Truppe ist nicht nur geographisch mit den irren The Necks vergleichbar, auch musikalisch haben die beiden Truppen durchaus Parallelen, wenngleich die Nacken etwas verspielter und tatsächlicher jazziger sind, wo Triosk noch ausgeprägter der Elektronik und dem Ambient verfielen. Eine beeindruckende Platte, jedenfalls. 

Wir nehmen gemeinsam in der Sonne sitzend noch Ingwer-Bier und Kaffee zu uns und lassen uns die Sonne auf den Pelz scheinen. 

Auch wenn es in der angenehmen, unbeschwerten Atmosphäre schwer fällt, müssen wir los. Es ist Feierabendverkehr und wir haben noch gut zwei Stunden Fahrt vor uns. Wir eisen uns gaaaanz langsam los und verlassen Köln in Richtung Heimat.

Ein toller Tag mit tollen Platten und tollen Menschen. 

"Der Plattenladen ist nicht tot - er riecht nur etwas komisch." (Flo Zapfhahn)




12.07.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Arch/Matheos - Winter Ethereal




ARCH/MATHEOS - WINTER ETHEREAL


Es liegt ein bisschen in der (meiner) Natur der (meiner) Sache, dass jene Alben, die in den letzten nasagenwirmal ein bis zwei  Jahren erschienen sind, in dieser Bestenliste etwas unterrepräsentiert sind. Ich habe die Neigung, Platten erleben zu wollen. Gemeinsame Geschichten schreiben, Erinnerungen entwickeln, Anker setzen, tiefer graben. Das geht fast immer nur mit Zeit. Manchmal dauert es Jahre, bis die Annäherung deutlich geworden ist. Und manchmal geht es andererseits überraschend flott, meistens dann, wenn die Gegebenheiten nicht völlig neu und unbekannt sind. Bei The Sea And Cake beispielsweise ist's einfach, da stehen sämtliche Scheunentore schon seit Jahren offen und der Weg zur großen ganzen Ergebenheit ist nicht mehr so weit. Ähnliches darf ich auch über das aktuellste Album in dieser Liste schreiben, denn der Boden für "Winter Ethereal" ist im Prinzip gleichfalls seit Jahren vorbereitet. 

Und so schrieb ich es bereits vor wenigen Monaten ins Internet hinein: wenn es in den 35 Jahren meiner Leidenschaft für Musik eine Konstante gibt, dann ist es Progressive Rock und Metal, meinetwegen in allen Spielarten, Subgenres und Auswüchsen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Affinität tatsächlich wiederbelebt werden musste, möglicherweise gilt das höchstens und im Besonderen für aktuelle Bands und Platten, aber "Darkness In A Different Light" und vor allem "Theories Of Flight" von Fates Warning waren zweifellos verdammt laute Weckrufe für ein Genre, das ich nicht unbedingt im Verdacht hatte, mich nochmal derart zu begeistern. Vor diesem Hintergrund ist es vermutlich keine riesige Überraschung mehr, "Winter Ethereal" bereits ein gutes Jahr nach der Veröffentlichung schon in einer Bestenliste für das ganze Jahrzehnt zu sehen. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

Und da schließt sich folgerichtig ein weiterer Kreis für "Winter Ethereal", sind John Arch und Jim Matheos doch die teils ehemaligen (Arch), teils noch aktiven (Matheos) Protagonisten von Fates Warning. Sieben Jahre nach dem Debut "Sympathetic Resonance" haben die beiden Superhelden im Jahr 2019 alle Regler auf Anschlag gedreht: Virtuosität, Kraft, Melodie, Komplexität, Tiefe, Klang - viel mehr ist für einen, der den jüngeren Entwicklungen im Metal mit einiger Skepsis gegenübersteht, kaum mehr vorstellbar. Keine aufgesetzte Härte, kein martialisches Herumprotzen, kein Image-Dachschaden, keine nukleare Atomreaktor-Produktion, stattdessen echte Durchschlagskraft durch überragende technische Fähigkeiten, ein über alle Ebenen gespanntes und bis in die letzte Ritze totalarrangiertes Melodieverständnis und mit John Arch ein Sänger, der die komplette Kontrolle über alle lyrischen Höhen und Tiefen hat und sich wie entfesselt durch diese neun Songs schraubt - unaufhaltsam, uneinholbar, unnachahmlich. Sollten sich von seiner Entscheidung, künftig nicht mehr auf Tournee gehen zu wollen, Indikationen auf das baldige Ende seiner Gesangskarriere ableiten lassen, so hat sich dieser Mann mit "Winter Ethereal" sein eigenes, ultimatives Denkmal gesetzt. Ich wüsste auch ehrlich gesagt nicht, was noch einer solchen Darbietung noch kommen soll. 

Herzklopfen. Feuchte Hände. Freudentränen. Ein echter Meilenstein des Heavy Metal. 




Erschienen auf Metal Blade, 2019.