Das ist der "Binge-Listening"-Gewinner des vergangenen Jahres. Und das will was heißen, habe ich doch schon ausführlich und also beinahe redundant davon berichtet, wie ausgiebig und pausenlos die letztjährigen Werke von Purl und Halftribe im CD-Wechsler angesteuert wurden. "Essay" hat sie dennoch alle in die Schranken verwiesen. Die Herzallerliebste betont an dieser Stelle die stark ausgeprägte Qualität samt Neigung des Albums, den Zuhörer sanft und schwebend ins Reich der Träume zu begleiten, immerhin sanfter und schwebender als alles andere aus dem Jahr 2016. Sagt sie. Und sie hat, wie praktisch immer: recht.
"Essay" ist, bricht man es auf den eigentlichen Ton herunter, ein Fluss in totaler Ruhe und Kontrolle. Vom Grundrezept der im Hintergrund aufgezogenen Weitläufigkeit mit opulenten, tiefgehenden Soundscapes und hellblau darüber getupften Klangseifenblasen, die majestätisch durch die Szenerie segeln, weicht das Debut des spanischen Produzenten Agustin Mena nur selten ab. Im Ergebnis funkelt "Essay" fast gläsern, wie grob aufs Papier gebrachte Wasserfarbenkacheln, die am Rand nicht scharf begrenzt sind, sondern in Zeitlupe ins Außen strömen. Einnehmend, ausbreitend, übergreifend.
Im Grunde ist das in der Machart nicht so irre weit von den Epen eines Brock van Weys entfernt, aber, und das ist womöglich das Geheimnis dieser Platte, Warmth lässt die Dramatik, die emotionalen Abstürze, das Zitten und Beben vor der Tür. "Essay" wirkt bei aller Tiefe und klanglicher Komplexität nüchtern, in seiner vornehmen und stolzen Elegantia fast schon stoisch. Wie ein Leuchtturm auf offener See, der das wachende und vor allem ruhende Auge im Zeichen der Stürme und der Unordnung ist. Unbeugsam und unkompromittierbar, dafür aber auch ein Retter und Tröster.
Musik, die die Welt gesehen und erlebt hat. Öffnet Geist und Herz.
Obwohl ich die Karriere der US-amerikanischen Bassistin Esperanza Spalding seit dem Album "Esperanza" aus dem Jahr 2008 verfolge und mich ihr scheinbar grenzenloses Talent in bisweilen strenges bis sehr ungläubiges Staunen versetzte - wer es schon nicht mit einer ihrer Studioaufnahmen versuchen will, soll sich bitt'schön recht dringend einer Livebehandlung unterziehen - hat mich bislang noch keines ihrer Alben auf die volle Distanz überzeugen können. Die gerade mal 32-jährige Musikerin war und ist der Shooting Star der Jazzszene, wurde mit Grammys überhäuft und spielte bereits mehrfach für den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama im Rahmen verschiedener Festivitäten des Weißen Hauses - dass Spalding damit knietief im Jazz-Establishment steht, kann dem weniger Wohlgesonnenen einen gewissen Sicherheitsabstand einnehmen lassen. Tatsächlich waren die bisherigen Alben, darunter die beiden kommerziell erfolgreichsten Werke "Chamber Music Society" und "Radio Music Society" wie gemacht für den Mainstreamigen US-Jazz: etwas bieder, glatt und gleichförmig. Freilich herausragend gespielt und gesungen, ebenso fraglos mit einigen umwerfenden Songs ausgestattet (Tipp: "Black Gold"), aber mir fehlte immer das gewisse Etwas über die gesamte Spieldauer.
"Emily's D + Evolution" ist nun eine deutliche Zäsur ihres Schaffens und es ist in dieser Hinsicht kaum verwunderlich, dass meine Jahresbestenliste bis zu Spaldings fünftem Staudioalbum warten musste, um im Sturm genommen zu werden. Spalding hat sich bewusst neu erfunden und möglicherweise im Rahmen dieses Prozesses den Abnabelungsprozess vom Mainstream eingeleitet - es wäre ihr angesichts der Frische und Klasse dieses Werks wirklich zu wünschen. Esperanza suchte nach neuen Wegen, nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, nach neuen Konzepten, zog in ihre Heimatstadt Portland um und sich für volle zwei Jahre aus dem Hamsterrad Musikbusiness zurück, um die kreativen Batterien nicht nur aufzuladen, sondern gleich das ganze Akkupack auszutauschen. Spalding agiert auf "Emily's D + Evolution" als die Stimme ihres Alter Egos Emily, die den Hörer dazu bringen soll, die Regeln des Systems in Frage zu stellen und für Frieden und Stille zu kämpfen, um die Verbindung zum eigenen spirituellen Zentrum wieder herstellen zu können.
"Emily "is a spirit, or a being, or an aspect who I met, or became aware of. I recognize that my job … is to be her arms and ears and voice and body."
Auch wenn der Stilwechsel bedeuten konnte, sich aus der eingerichteten Komfortzone mit all den schönen Grammynominierungen zu verabschieden, ging Spalding den Weg erstaunlich konsequent. Unterstützt wurde die Produktion vom langjährigen David Bowie-Intimus und -Produzenten Tony Visconti, dessen Einfluss man hören kann: "Emily's D + Evolution" ist künstlerisch, schräg, intellektuell, offen und damit ziemlich viele Universen von dem entfernt, was sich im Mainstream derzeit tummelt: nicht nur hat Spalding offenbar eine Büchse mit ein paar psychedelischen Muntermachern geöffnet, sondern auch den ihr so oder so lieb gewonnenen Fusion-Sound mit einigen verspulten, bisweilen überraschend harten Gitarrenriffs sehr promiment in den Sound eingebaut. Als hätten Jimmy Hendrix, Frank Zappa, Prince und Joni Mitchell zu einer großen Jamsession im Jenseits eingeladen. Ich persönlich nehme bisweilen noch einen dezenten Einfluss der Rockmusik von Beginn der neunziger Jahre wahr, und sei es nur in der visionären Ausrichtung, der Kühnheit wirklich etwas Neues zu wagen. Ich kann es vermutlich nicht über den eben genannten Rahmen hinaus erklären, aber mir kommen immer wieder die frühen Janes Addiction in den Sinn, wenn es darum geht, die Stimmung dieser Produktion zu beschreiben. Dass mir aber jetzt bloß keiner auf die Idee kommt, "Ritual De Lo Habitual" musikalisch mit Esperanza Spalding zu vergleichen. Wir sind ja nicht bescheuert.
Und weil also kreativer Mut in diesen Zeiten, in denen er zwar nicht ausgestorben, sich dafür aber so rar gemacht hat, dass die Menschen nichts mehr mit ihm anzufangen wissen, und der in der Folge auch gerne mal sanktioniert wird, beispielsweise mit schlechten Verkaufszahlen, hat sich "Emily's D + Evolution" nach dem Erfolg des Vorgängers und dessen zehnten Platz in den US-amerikanischen Alben-Charts, beziehungsweise gar dem ersten Platz in den US-Jazz-Charts, nach einem enttäuschenden 88.Platz sehr schnell wieder von der Billboard-Bühne verabschiedet. Um das auch nur lose einzuordnen: das entspricht etwa 2500 verkaufter Platten in der ersten Woche nach Veröffentlichung. Es werden seitdem nicht gerade Millionen hinzugekommen sein. Oder auch nur Tausende.
Die Kritik und die Sossenheimer Blogbanane indes: jubeln.
Eine vertonte Wanderung durch tiefsten Urwald. Dunst über dem Boden. Feuchtigkeit, Wärme. Es ist schwül. Sonnenlicht schaukelt sich durch Blätter und Äste. Offene Augen, offener Geist, offenes Herz. Manchmal gibt es kein euphorischeres Gefühl, als ganz unmittelbar Schönheit zu erkennen - verbunden mit der Demut, Zeuge davon sein zu dürfen.
Auch wenn in meinem Wohnzimmer keine Jahrhundertbäume durchs Hausdach wachsen, so bleiben als Bild und Gefühl an diesen letzten, vergangenen Sommer die warmen Nächte bei weit geöffnetem Fenster und "Over The Mountains" in Endlosschleife. Ästhetik und Eleganz sind keine Fremdworte für den Kanadier Jordan Sauer, und wo ich schon bei seinem letztes Werk für das kanadische Silent Season Label "Pacifica" (2013) auf die Knie sank, muss ich es hier schon wieder tun. Dabei ist im Detail auf "Over The Mountains" einiges anders und man sieht es mir bitte nach, dass ich zunächst die Genreschubladen öffnen muss: Sauers zunächst etwas obskur anmutende, eigentlich simple und hypnotische Melodien, sein damit verbundenes raffiniertes Spiel mit Harmonien, seine Rhythmik und nicht zuletzt das Klangdesign seiner Sounds haben mit Dub Techno nicht mehr viel zu tun. Sie sollen mehr als alles andere Bilder erzeugen. Vielleicht ein Gefühl von Sehnsucht? Ganz bestimmt viel Licht - und es scheint, als sei alles auf "Over The Mountains" sorgfältig genau darauf ausgerichtet.
Ich schrub es vor wenigen Wochen schon mal bei Twitter: Hier ist einer, der sich spätestens mit diesem Album ein paar Jährchen vor der Konkurrenz aufhält. So wie es alle großen vor ihm taten. Wenn alles noch mit rechten Dingen zugeht - und wer würde angesichts des abgelaufenen Jahres nicht daran zweifeln - müsste "Over The Mountains" eigentlich bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden.
Ein umwerfendes, naturverbundenes Werk voller Schönheit und Introspektion.
Meine ausführliche Besprechung zu "Generation Vulture" ist keine 100 Tage alt, und die in jenem Text induzierten Hellseherfähigkeiten des stets leicht vertstrubbelten Bloggers aus Dreikommaviernullhausen hinsichtlich der möglicherweise übersichtlich angelegten Erfolgsaussichten dieses Comebacks muss ich nicht mal in meinen Lebenslauf eintragen. Jud waren schon fast immer die Übersehenen - und sollte nicht ein kleines Wunder geschehen werden sie es auch für fast immer bleiben. Und wie auch immer ich es versuche zu drehen: ich komme nicht dahinter, warum das so ist. Extraorginell, hochemotional, klischeefrei, smart, in der Lage, breitbeinig zu rocken und gleichzeitig verletzlich und sensibel zu wirken - warum die Heerscharen, die nach dem offiziellen Ende des Grunge auf der Suche nach ihrem musikalischen Methadon waren und Ende der 90er und Anfang der 00er Jahre die Musik von beispielsweise Queens Of The Stone Age und Blackmail in die Charts gewuchtet haben, dem Exil-Berliner Clemmons und seiner wie gewohnt supertight aufspielenden Truppe (Jan Hampicke, James Schmidt, Steve Cordrey und Anne de Wolff) nicht schon seit Jahr und Tag die Bude einrennen, ist eines der großen Rätsel der Rockmusik. Und wenn Du jetzt denkst, dass ich damit ja wohl mal viel zu dick auftrage, dann hast Du weder "Chasing California" noch "The Perfect Life" gehört. Ganz zu schweigen von "Generation Vulture".
Dann bist Du das Problem.
Harte Wahrheiten, supersexy formuliert: eine meiner großen Stärken.
"Generation Vulture" traf im Herbst des vergangenen Jahres mit voller Wucht auf sämtliche Nervenbahnen und bretterte über holprige Wald- und Wiesenwege direkt in mein emotionales Schmerzzentrum. Es bebt. Es brodelt. Es zittert, beißt, kratzt, streichelt, küsst. Und es lebt.
For fuck's sake: ES LEBT!
Im Laufe der letzten drei Monate hat sich die im ersten Text aus dem Dezember 2016 angedeutete Trilogie des Albums stärker herausarbeiten lassen; inhaltlich nimmt "Generation Vulture" eine aus dem Wut- und Frustrationszirkel stammende Entwicklung über Rebellion, Enttäuschung, Klarheit, Akzeptanz und einem kleinen Spritzer Optimismus (Huch!) mit erschütternd ernsthaft vorgetragener Leidenschaft. Unbestrittener und sich über die guten acht Minuten immer weiter hochschraubender Drama-Höhepunkt ist weiterhin "Humanity, The Lie", der vielleicht beste Song, den die Band bislang geschrieben und aufgenommen hat. Ein kathartischer, reinigender Moment. Wie eine wochenlange Reikibehandlung aus flüssigem und purpurnem Stahl, der vom Scheitel bis zur Sohle durch Körper und Geist fließt.
Ein bemerkenswertes Lebenszeichen einer bemerkenswerten Band.
Purls "Stillpoint" war im Jahr 2015 mein Album des Jahres. Sein Debut für das kanadische Label Silent Season beschrieb ich damals als "die schönste, beruhigendste, hell funkelndste, strahlendste, melancholischste, bittersüßeste, reichste Musik des vergangenen Jahres" und ich bin versucht, ähnliches über "Form Is Emptiness" zu schreiben. Eben mit dem Unterschied, dass es seine erste Veröffentlichung für das spanische Label Archives in diesem Jahr zwar nicht auf die Pole Position, dafür aber immerhin unter die Top Ten geschafft hat. Ich weiß, es geht hier nicht in erster Linie um schnöde Zahlen und Platzierungen, aber es liegt mir etwas daran, das weiter zu differenzieren.
Wenn ich in meiner Einführung zum Top 20-Countdown möglicherweise etwas arg dramatisch davon berichtete, die Entscheidungen hinsichtlich der Auswahl der besten Alben für das Jahr 2016 seien hart und härter als jemals zuvor gewesen, dann ist das keine Übertreibung; noch furchtbarer rang ich aber mit mir und den tatsächlichen Platzierungen, und zwar in einem Ausmaß, das mich erstmals daran denken ließ, den Countdown mal schön Countdown sein zu lassen und stattdessen eine alphabetische Reihenfolge zu präsentieren. Ich kam nach ein paar Wochen (sic!) wieder davon an - man muss sich ja auch mal entscheiden können - aber es zeigt auch, wie ungerne ich eine Platte wie "Form Is Emptiness" in den Plätzen 10 bis 20 vergraben wollte. Eine Platte, die, und das werden wir im weiteren Verlauf dieses Wahnsinns noch öfter lesen, manchmal ein ganzes Wochenende im Hause Dreikommaviernull durchlief. Auch das ist keine Übertreibung. Ich knipste sie beispielsweise an einem Samstagmorgen zum ersten und ritualisierten Kaffee mit der Herzallerliebsten an, stellte den CD Player auf Repeat und schaltete ihn erst tief in der Nacht zum Sonntag wieder aus - nur um das Prozedere am Sonntagmorgen exakt so zu wiederholen.
Es ist eine von Ruhe und Schönheit geküsste Musik, die jeden Raum des Hauses mit Licht und Liebe flutet und mich meinen Mittelpunkt finden lässt. Es ist ganz offensichtlich, dass mein Geist im vergangenen Jahr nach jeder sich bietenden Möglichkeit suchte, um in sich zu gehen und sich gleichzeitig damit auszuklinken. Durchzuatmen. Einen Ort des Friedens zu betreten. Weit weg von Emails, Telefonen und Exceltabellen, ohne Druck, den selbstgemachten zumal, und ohne Verantwortung. Einfach nur die Liebe meines Lebens, die Katze, der Hund und eine heiße Tasse Kaffee auf der Couch. Dazu lief "Form Is Emptiness" mit seinen so sensibel und delikat kuratierten Soundscapes und diesem im Hintergrund pumpenden Puls des Lebens.
Das waren meine schönsten und gleichzeitig inspirierendsten Momente im letzten Jahr.
Die Behauptung, "Theories Of Flight" sei das beste Metalalbum des Jahres, wäre kühn - vor allem, weil ich außer des Metal Church Comebacks "XI" kein anderes Genrealbum vollständig gehört habe, und die Wahl angesichts der immer noch schwächelnden Power Metal Legende aus Seattle folgerichtig denkbar einfach war. Darüber hinaus kroch mir aus Kuttenhausen nichts Nennenswertes ins Schallgesimms; der Großteil der Szene hat es sich mit dem Herumkrebsen zwischen der Erwartungshaltung überwiegend stockkonservativer Fans und der gefälligst breitbeinig vorzutragenen Rock-Kirmes seit gut 20 Jahren am kreativen Nullpunkt schön gemütlich gemacht, und solange der Rubel immer noch so schön rollt, wie er rollt, dann rollt man eben mit. Für jemanden, der die Sturm & Drang Phase des Metals in den 1980er Jahren und mit den 1990ern seine Transformation miterlebte, ist die beinahe bodenlose Harm- und Mutlosigkeit von heute auch gleichfalls eine nur schwer anzuerkennende Erinnerung an das eigene Versagen als Fan. So wie Mudhoney nicht akzeptieren wollten, dass sich 15 Jahre später eine Band wie Creed auf sie berief, will ich, der Bands wie Janes Addiction, Judas Priest, Pearl Jam und Possessed, Motörhead und Stone Temple Pilots nicht nur ganz selbstverständlich nebeneinander existieren ließ, sondern sie auch abgöttisch liebte, nicht für Volbeat und Sabaton verantwortlich gemacht werden. Oder dafür, dass die zittrigen Klapperrochen alternden Stars der Szene wie WASP, Scorpions, Metallica, Maiden und Sabbath langsam aber sicher auf die Bühne geschoben werden müssen. Aber wer soll's auch sonst und ohne sie richten, wenn der Nachwuchs derart untalentiert ist?
Angesichts der langen und kritischen Einfahrt in diesen Text ist es lohnenswert darauf hinzuweisen, dass der Status von "Theories Of Flight" nicht damit gemindert werden darf, dass bei tiefstehender Sonne auch Zwerge lange Schatten werfen. Das zwölfte Studioalbum unserer Helden ist auch ein gutes halbes Jahr nach Veröffentlichung noch regelmäßiger Gast in jeder vollstellbaren Abspielvorrichtung im Hause Dreikommaviernull und noch immer ein verlässlicher Auslöser für spitze Jubelschreie und Gänsehautschauer - ausnahmsweise unisono mit der Herzallerliebsten, die bei aktuellem Metal für gewöhnlich noch schneller auf Durchzug stellt als meinereiner.
Am stärksten sind Fates Warning mittlerweile dann, wenn sie ihrem Händchen für große melancholische Momente und Melodien freien Lauf lassen und nicht auf Biegen und Brechen versuchen, "Metal" zu sein (...)"
uns es freut mich ungemein, dass die Band auf "Theories Of Flight" diese Schwachstelle beseitigen konnte, ohne gleichzeitig die 2013 neu entdeckte Wucht der Moderne zu vernachlässigen. Songschreiber und Gitarrist Jim Matheos hat mit seinem Mut zum "kommerziellen Nachwaschen" (Andreas Schöwe) und der damit einhergehenden Fokussierung auf eingängige und dabei weitgehend klischeefreie Melodien Luft und Raum in die Arrangements gelassen und damit vor allem Schlagzeuger Bobby Jarzombek wenigstens gefühlt etwas einfangen können. Ich war bislang kein großer Freund Jarzombeks Stils, musste aber anerkennen, dass die Schuhe seines immer leichtfüßigen und überkreativen Vorgängers Mark Zonders für mich auch ganz besonders groß waren. Dabei ist Jarzombek ein technisch starker und moderner Metal-Schlagzeuger, dessen Bassdrumarbeit auf "Theories Of Flight" in so manchen Momenten ein echter Hinhörer ist - dass mir die Doublebass indes immer noch viel zu oft reflexartig aus der Kiste geholt wird, anstatt sich um eine variantenreichere und interessantere Lösung zu bemühen, ist vermutlich weniger der Faulheit der Protagonisten, als viel mehr den heutigen Genrestandards geschuldet. Es darf einfach keine Lücken mehr geben. Und dort setzte Matheos für "Theories Of Flight" an: Jarzombek hat vor allem in der Beinarbeit immer noch viele Freiheiten und trümmert jedes auch nur entfernt entstehende Soundloch humorlos dicht, dafür hat Matheos seine Kompositionen im Allgemeinen und seine Riffs im Speziellen gestrafft und die Abstimmung mit dem knallharten Druck der Rhythmusfraktion - Joey Vera am Bass und eben Jarzombek - verbessert. Bestes Beispiel sind die beiden Eingängigkeitsmonster "White Flag" und ganz besonders "Seven Stars", die die früheren und mittlerweile über 25 Jahre zurückliegenden Versuche der Band, dank Radiorotation in Dream Theater'sche Erfolgssphären zu gelangen, in Sachen Sound und Hit-Potential geradewegs pulverisieren.
Womit wir beim strahlendsten Faktor von "Theories Of Flight" angelangt sind: Sänger Ray Alder. Ich darf mich erneut kurz wiederholen und einen Auszug aus dem Text zu "Darkness In A Different Light" zitieren - Vorsicht, wir betreten nun den Sektor "Unreflektierte Lobhudelei":
"Alder ist aufgrund seiner Arbeiten in den letzten 25 Jahren für mich einer der zehn besten Sänger der kompletten Szene, und es gibt auch auf "Darkness In A Different Light" Gesangslinien, die in Verbindung mit den Texten eine intellektuelle Tiefe erreichen, die ich schon sehr lange nicht mehr auf einem Metalalbum gehört habe. Ich bin beinahe geneigt festzustellen, dass ihm, nachdem es plötzlich auch im Heavy Metal en vogue geworden ist, auf gute Sänger mit ausdrucksstarken Stimmen keinen gesteigerten Wert mehr zu legen, in kreativer und emotionaler Hinsicht praktisch niemand mehr das Wasser reichen kann - auf der Bühne sieht das bisweilen wegen seines Tabakkonsums etwas anders aus, und der Mann wird schließlich auch nicht jünger. Dennoch: eine Platte mit seiner Beteiligung sollte immer gehört werden. Heute mehr denn je, und sei es nur, damit man sich daran erinnert, wie wichtig, toll und fantastisch eine großartige Stimme auf einer Heavy Metal Platte klingen kann."
Alder singt auf "Theories Of Flight" überragend. Sein Timbre ist über die letzten Jahre aus den erwähnten Gründen sicher etwas dunkler geworden, was seinen melancholischen Melodien und seiner transportierten Tiefe nur zu Gute kommt. Seine Gesangslinien und -harmonien sind in Verbindung mit den Matheos'schen Riffs Sternstunden des Heavy Metals der letzten 20 Jahre und ein nicht enden wollender Garant für fassungsloses Staunen. Er war nie besser als heute. Als Beweis ist die zehnminütige Blaupause eines epischen Longtracks anzuführen: "The Light And Shade Of Things" ist der unumstrittene Höhepunkt von "Theories Of Flight", ein völlig fehlerloses Monstrum eines Songs. Und es ist Ü-BER-RA-GEND gesungen.
Das letzte Metalalbum, das bei mir solche Reaktionen ausgelöst hat, wurde vor 18 Jahren von einer Band namens Dream Theater veröffentlicht und hieß "Scenes From A Memory". Dass mir sowas im Jahr 2016 wirklich nochmal passiert - ich hätte selbst als wahrhaftig schlimmster Höhenangstpatient einen Bungeesprung ohne Seil dagegen gewettet. Ohne "Theories Of Flight" wäre das letzte Jahr wirklich trister gewesen.
Was auch immer das spanische Label Archives im vergangenen Jahr anpackte und also veröffentlichte, es gehörte in meinem Rückspiegel für 2016 zu den bemerkenswertesten Alben des Jahres. Das beginnt bei der Gestaltung der in limitierter Stückzahl - man spricht von etwa 100 Exemplaren pro Titel - angebotenen CDs mit viel ästhetischem Stilempfinden auf die Musik und deren Aussage abgestimmten Artworks, wunderbaren Naturfotos von Wäldern, Pflanzen, Flüssen und Küsten und endet (noch lange nicht) bei der Musik von über die ganze Welt verstreut arbeitenden Künstlern.
Der letztjährige sich in meiner linken Herzkammer abspielende und möglicherweise finale Siegeszug des Ambient wurde nicht zuletzt von Archives im Allgemeinen und "Luxia" im Speziellen angeführt. Manchmal wartet man ja nur auf sowas - diesen einen Moment, der Ohren, Augen und Hosen öffnet und der neue Inspirationen aufsaugt wie ein von jahrelanger Dürre ausgetrockneter kalifornischer Waldboden einen unverhofften Regenguss. Zumindest, wenn die Umstände mitspielen, Set & Setting, und bei mir spielten sie mit. Trotzdem kann ich in diesem Rahmen und bei aller in überdurchschnittlichem Ausmaß vorhandener Selbstreflektion letzten Endes nur spekulieren, warum ich speziell im vergangenen Jahr so oft nur ein leises Säuseln, ein zaghaftes Rascheln, ein friedliches Vogelgezwitscher hören konnte und wollte: mein Geist schrie nach Ruhe. So viel Unruhe, so viel drohender Kontrollverlust, so viel gefühlte Überforderung - da lass' ich mich doch nicht in meiner Freizeit von einem kalten, langhaarigen Stahlbolzen anbrüllen. Oder mir von einem britischen Hipster Saufgeschichten in breitem Cockney-Slang ins Ohr näseln. Oder einer zu lauten Bassdrum aus Technohausen zu viel Aufmerksamkeit schenken.
Ich will ein bisschen Frieden. Eine weiße Gitarre. Und langes, wallendes, mit Timotei auf einer schweizerischen Alm und mit bestem Bergwasser gewaschenes Haar, aus dem sich Ralf Siegel eine Pumuperücke stricken kann.
"Luxia" ist ruhig und beruhigend und lief an so manchem Wochenende über Stunden in Endlosschleife. Angedubbtes, warm gebürstetes Klanggold, das sich um den Nukleus aus weit aufgefächerten Soundscapes wickelt und mit vereinzelten Pianotupfern Struktur im luziden Raum gibt. Ganz besonders beeindruckend: dieser Hauch von intellektueller Kühle und Klarheit in einer ansonsten sehr intimen und weichgezeichneten Umgebung. "Luxia" benötigt keine Rettung aus dem Kitsch, aber es ist gut, ein wenig angedeutete Schärfe zu spüren. Macht klar im Kopf. Befreit den Geist. Macht Spaß zu Hören.
Mein musikalisches 2016 war ein bemerkenswertes Jahr. Dass sich die virtuell mit mir herumgeschleppte Liste mit den besten Platten über das Jahr lässig und beinahe wie von selbst füllte, ist dabei nicht der außergewöhnlichste Punkt; dass sich indes unter den 20 Gewinnern des letzten Jahres eine gar nicht so kleine Anzahl von Alben tummeln, die einen so großen Eindruck auf mich und meinen Alltag der vergangenen Monate machten, die mir so ans Herz gewachsen sind, dass sie aus meinem Leben gar nicht mehr wirklich wegzudenken sind, ist hingegen beispiellos.
"The Oceans Of Ganymede" ist eines dieser Alben. Meinen Sommer 2016 erlebte ich vor allem mit dieser Musik, und es gibt so viele Bilder, die mit ihr verbunden sind: als ich wegen des plötzlich in den Song kriechenden Saxofons in "Fanny" in der heißen Badewanne lag und trotzdem Gänsehaut bekam. Der brütend warme und daher auf der faulen Haut und in eiskaltem Gin Tonic verbrachte Samstagnachmittag, an dem sich die Sonne zwischen den heruntergelassenen Jalousien (und Hosen) ins Wohnzimmer erbrach und der Reggaebeat und die frech geklimperten Klavierspitzen von "Rockaway Beach" das Fernweh an die Sonnenseite New Yorks beinahe unerträglich werden ließ - und dabei war ich weder jemals in New York, noch an der Rockaway Beach:
Tiny sand dunes
In the midday sun
Tattooed young Dominicans
A gentle breeze from New York City
Salt and diesel fumes
And life seemed not so out of reach
That day on Rockaway Beach
She seemed so serious
And so debonnaire
Salt water dryin' in her hair
Her eyes closed tight against the glare
Life's hard at 23
But life seemed not so out of reach
That day on Rockaway Beach
Candy wrappers
In the sand
Old men strollin' down the strand
Airplanes off to distant lands
Full of hopes and dreams
And life seemed not so out of reach
That day on Rockaway Beach
Oder die morgendlichen Fahrten ins Büro durch den Frankfurter Downtown-Sommer mit "Happy Man" und "Aurelia", die mit ihrem Drive gleichzeitig Sorgenglätter und aurale Vitamin-D-Spender waren.
Noch heute höre ich "The Oceans Of Ganymede" sehr regelmäßig. Und weil ich bei unseren Bandproben wohl derart blind und naiv ins grenzenlose Schwärmen geriet, und die beiden Blank When Zero-Jungs komplett wahnsinnig und außerdem komplett toll und großartig sind, kann ich jetzt sogar die komplette Brazzaville-Diskografie, erhältlich bei Bandcamp, ebenfalls sehr regelmäßig hören - was ich, nehme ich die Nerd-Statistiken meines Last.fm Kontos für bahre Münze, auch tatsächlich und immer noch tue.
Es gibt "keine Note auf dieser Platte, die nicht den Geist Barcelonas zwischen urbaner Freiheit, Ausgelassenheit und Melancholie mit dem bittersüßen Fotofilter aus dem Sommer 1976 einfängt. Es gibt keine Note auf dieser Platte, die ohne herzergreifende Wärme, Liebe und Hingabe gespielt ist, keine Note, der nicht die Sehnsucht nach Frieden und Schönheit innewohnt." - das schrieb ich im Mai 2016 in meinem ersten Text zu "The Oceans Of Ganymede".
"Still Life" ist urbaner Next-Level-Shit für das Großstadtgeflacker. Für nächtliche Taxifahrten durch Downtown. Für kalten Toast mit einem Glas warmer Reismilch zum Abendessen. Für melancholisch auf der Fensterbank sitzen und rauchend in den Regen gucken, während eine Leuchtreklame für die abgerissene Cocktailbar im Erdgeschoss zwei aufgespießte Oliven in Neonrosa tanzen lässt. In Manhattan, versteht sich. Wenn es dort noch abgerissene Cocktailbars gäbe, versteht sich. Dabei sind die wohl alle...abgerissen. Pun intended.
Ein tiefenromantisches Album über die Suche nach sich selbst. Ich habe über die Auseinandersetzung mit "Still Life" in den vergangenen Monaten mit einiger Verblüffung gelernt, wie sehr es seine Entstehungsgeschichte reflektiert und wie stark mich diese Musik nicht zuletzt deswegen in ihren Bann zieht. Denn was oftmals als beiläufiges Hören begann, entwickelte sich nicht nur zu einem beinahe aktiven Austausch mit Sängerin Melati Malay und den mystisch aufgeladenen Geschichten der Erlebnisse Ihrer Weltreisen, der Selbstsuche auf den Spuren des verstorbenen Vaters. Auch das kaskadierende Soundgetröpfel von Isaac Emmanuel ist in seinem Wechselspiel zwischen perkussiver Stimulanz und nebliger Zurückhaltung eine reine Wohltat; in einer Gegenwart zumal, in der es kaum bellender, galliger und schriller zugehen könnte.
Eintauchen & Abtauchen. Am Ende ist es wahrscheinlich nur Popmusik. Und ich bin echt froh darüber, sie erleben zu dürfen.
Erschienen auf Carpark, 2016.
Noch mehr über "Still Life" lesen? Hiergeht's weiter.
"But honestly, since I make music I never heard any DJ play one of my original tracks." (Oliver Schories)
Ich kann nicht mehr genau sagen, warum das letzte Album des "Bremeners" (Thomas Berthold) lediglich in meiner 2015er Nachzügler-Liste und nicht etwa unter den nominell 20 besten Scheiben des Jahres auftauchte - da hätte es gar nicht mal so irre streng genommen nämlich hingehört. Der Sommersoundtrack 2015 wurde zweifellos zu einem ziemlich guten Stück von "Fields Without Fences" bestritten, einem schwül-flirrenden Gemisch aus Techno und wärmenden Downbeatsounds, das die Sonne immer nochmal ein bisschen heller und heißer machte. Jedenfalls: das passiert mir nicht nochmal!
Nur ein knappes Jahr nach "Fields Without Fences" erschien mit "Relatively Definitely" gleich die nächste Zusammenstellung von Songs, die Schories als persönliches "Best Of" betrachtet, und erneut bin ich total verschossen. Seine Tracks sind nicht für die Tanzfläche, sondern für Abende vor dem Plattenspieler oder für lange und nächtliche Autofahrten gemacht - also genau das, was neben Lohnarbeit, Katzenklo und Decke anstarren mein Leben zu einem Großteil ausmacht. Und wäre Herr Dreikommaviernull nicht ganz so unfähig gewesen und hätte er also die MP3s von "Relatively Definitely" ordentlich getaggt, wäre das Album sicherlich in den Top 5 der meist gehörten Platten auf meinem überraschenderweise immer noch existenten Last.Fm-Profil aufgetaucht. Die größte Stärke von Schories ist sein Spiel mit eingängigen Melodien, dieser unwiderstehlichen Straight-Forward-Attitüde der stoisch durchgebummsten (Huch!) Bassdrum und vor allem den daraus entstehenden Stimmungen der Tracks. Melancholisch? Ja, aber irgendwie nicht so richtig. Happy Frohsinn-Feuerwerk? Dafür sind andere zuständig. Drive? Aber Hallo! Positive und relaxte Vibes? Wie ein Abend mit stundenlangem Oralsex auf der zwei mal zwei Meter großen Partypizza. Und der Mann hat im Jahr 2016 ein paar ganz dicke Parties gefeiert: 108 Shows und 146 Reisetage auf vier Kontinenten.
"Quality will find its way" lautet das Motto. Was ja auch ein Grund dafür ist, warum ihr das hier gerade lest.
Und für die nächste Gartenparty im Sommer 2017 sein Set beim letzjährigen Bespoke Musik Sunset Boat Festival in New York:
"Yours Are Stories Of Sadness" ist ein hochverdichtetes Konzentrat aus dem bisherigen Schaffen des Kaliforniers Brock van Wey. Waren seine Alben aus den vergangenen Jahren meist bis auf die letzte Sekunde mit epischen, jeweils zwanzig bis dreißig Minuten dauernden Ambient-Operetten vollgepackt, in denen er seine - und wenn er schon dabei war: Deine auch! - Gefühlswelten ausbreitete und in diesem Rahmen jeden Augenblick mit überschäumenden Melancholiefontänen bis zum beinahe physisch erfahrbaren Zusammenbruch auskostete, ist das im Oktober 2016 erschienene Werk ein Bruch mit dieser Tradition. Zwar reizt "Yours Are Stories Of Sadness" mit einer Spielzeit von über 78 Minuten das alte CD-Format noch fast bis zum letzten Byte aus, benötigt dafür aber nicht weniger als 19 Tracks. Den Hintergrund für das Konzept beschreibt Brock so:
"In 2012, I was singing karaoke in the lavish VIP suite of the most opulent bar of Shaoxing. Hours in, at the height of drunken revelry, suddenly, literally out of nowhere, one of the hired girls walked over to me from the other end of the room, and whispered in my ear:
"When I saw you walk in, I knew yours was a story of sadness."
These are flashes of memories from that time... broken fragments, and spaces in-between... each a portrait of instances I have remembered that moment, each its own place and time. Every time I remembered that moment in the years that followed, I made a brief tribute to the beginnings of that realization, and the starting point for my mental wanderings that followed... putting that initial realization to sound, before going the rest of the journey in my own head.(...)
4 years later, these were the 19 times I remembered that moment... they will surely not be the last."
Es ist ungewohnt, diesen sonst so passionierten Langstreckenläufer plötzlich auf der Kurzstrecke zu begleiten - und das ist weniger eine wertende, als eine emotionale Feststellung. Über sechs Jahre hatte ich mich an ausdauerndes Suhlen im bittersüßen Weltschmerz-Bällebad mit seinen Alben als Soundtrack gewöhnt, nun ist manchmal schon nach dreieinhalb Minuten alles vorbei. Melancholicus interruptus, wie der Schwachkopf Lateiner sagt. Außerdem ist's auch nur die halbe Wahrheit: die typischen Kennzeichen seiner Musik lassen sich sowohl in Aufbau als auch Textur seiner Sounds immer noch dechiffrieren, und selbst in der Melodieführung ist es nicht völlig unmöglich, seine Signatur zu erkennen - der Unterschied zu seinen zwanzigminütigen Brocken ist auch nicht die ausbleibende, sondern die deutlich zügiger ablaufende Entwicklung seiner Motive im Rahmen dieser Tracks. Tatsächlich habe ich nie das Gefühl des Unfertigen oder des Unerfüllten, wohl aber den Eindruck, nicht in explizite Momente dieser Platte komplett eintauchen zu können, und ich vermute nach monatelanger Auseinandersetzung mit diesem Gedanken den Grund dafür in der Zusammenstellung dieser Momentaufnahmen: Brock hat sicher nicht ohne Grund erstmals auf Songtitel verzichtet. Der eigentliche Star des Albums ist das Album als solches, dessen Spannungsbogen weniger innerhalb der vierminütigen Grenzen einzelner musikalischer Mosaiksteinchen, sondern in den kompletten 78 Minuten von "Yours Are Stories Of Sadness" liegt.
Das Resultat hat schlussendlich Parallelen zu den Ergebnissen seiner gewohnten Arbeitsweise: ich höre "Yours Are Stories Of Sadness" oft in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, mit den Gedanken auf Weltreise in die eigene Vergangenheit zur Selbstbeobachtung, schwebend, etwa zwei Meter über dem Erdboden.
Erschienen in Eigenregie, 2016.
Noch mehr über "Your Are Stories Of Sadness" lesen? Dann: KLICK!
Die großen alten Männer des Postrocks schlagen zurück. Mit Krautrockstampfern, Synthieklingen, Hypnoseflüchen, Jazztreibsand und ganze zwei Mal sogar mit laszivem Gesangslasso. Eines davon schwingt die astreine Coverversion des David Essex Hits "Rock On", in dem Todd Rittmann von US Maple stimmlich herumtorkelt wie Vince Neil mit 18 Promille und erektiler Dysfunktion.
Denn wer niemals an ihnen zweifelte, der werfe die erste Kesselpauke: dass sie sich sieben Jahre nach dem etwas verstrubbelten Vorgänger "Beacon Of Ancestorship" so konzentriert und beschwingt zurückmelden, meinetwegen ein bisschen milder und gar melodischer als sonst üblich und "The Catastrophist" in dieser Hinsicht am ehesten an das eklektische "It's All Around You" aus dem Jahr 2004 erinnert, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Ich habe für diesen Text ein paar zusätzliche Wintertage mit "The Catastrophist" verbracht und war überrascht, dass ich immer noch genau so entzückt bin wie damals im Mai. Selbst die Herzallerliebste sagt, dass "Rock On" ein herausragender Song sei - um direkt danach anzumerken, der Beat erinnere sie an Metallicas "Sad But True". Was sagt man dazu?
Erneut ein Dauerbrenner in meinem CD-Player vom kanadischen Dub Techno Spezialistenlabel Silent Season - das immer noch beweisen muss, einen auch nur halb durchschnittlichen Ton veröffentlichen zu können. Die gute Nachricht zu Beginn: wer immer noch CDs kaufen möchte, anstatt sich die schnöde MP3-Version runterzuladen oder Streamingdienste zu nutzen, und wer in der Vergangenheit aufgrund der limitierten Stückzahlen, in denen es CDs von Silent Season ausschließlich gibt und/oder gab, immer wieder in die Röhre gucken musste, darf sich nun freuen: "Empatia" ist wenigstens in Einzelfällen und auch ein gutes dreiviertel Jahr nach der Veröffentlichung noch zu halbwegs erträglichen Preisen via Discogs aus dem benachbarten europäischen Ausland zu beziehen. Und die guten Nachrichten gehen weiter: für "Empatia" wäre es auch angemessen, ungnädigen Blutsaugern seine kompletten Ersparnisse zukommen zu lassen, denn dem Italiener Emanuele Pertoldi ist ein großer Wurf gelungen.
Was zunächst auffällt: "Empatia" ist höllisch laut gemastert und die klangliche Fülle, die selbst bei einem signifikant in Richtung der Null zurückgedrehten Lautstärkeregler in mein Wohnzimmer gedrückt wird, ist beeindruckend und beinahe ein bisschen einschüchternd. Das alleine ist schon ein Statement, wenn sich eine derart zurückgezogene, intime Musik auf die ganz große Bühne stellt. Bei näherer Betrachtung ergibt das aber durchaus Sinn: Pertoldi knüpft mit "Empatia" ein filigranes Brückensystem zwischen Ambient, Dub Techno und elektronischer Avantgarde zusammen, und wo insgesamt mit ätherischen Schwebepartikeln, einem ruhigen Fluss von geschmackvoll austarierten Sounds und dem dramatischen Unterbau aus Naturverbundenheit, Selbstreflektion, Einkehr und dem steten Malmen an der eigenen Vergänglichkeit nicht gegeizt wird, zeigt sich die kreative Knöpfchendrehermasse besonders in den rhythmisch zumindest in dieser klanglichen Konstellation nicht alltäglichen Beats und Ideen, die dem Werk nicht nur eine ganz persönliche Aura, sondern zugleich einige, wenn auch nur kurz wahrzunehmende tanzbare Momente verleihen - und mich, wie beispielsweise bei "L'Aura Marina" (siehe das unten eingebettete Video), die Stroboskop-Anlage anknipsen lassen. "Empatia" lässt sich damit im Vergleich mit stilistisch ähnlichen Alben in den freien Raum fallen. Keine Gegenspieler. Keine natürlichen Feinde.
Nur Musik.
Erschienen auf Silent Season, 2016.
P.S.: "Man muss im Kabarett ja immer wahnsinnig aktuell bleiben - ich kann den ersten Teil meines Programms bis zur Pause praktisch komplett wegschmeißen, wenn eines Tages die Berliner Mauer fällt."(Harald Schmidt, 1995) - das weiter oben und vor wenigen Tagen niedergeschriebene Frohlocken über die vermeintlich "halbwegs erträglichen" Preise aus dem "europäischen Ausland", die ich auf dem Plattensammler-Phantasia Discogs halluzinierte, sind für den Moment und bis auf eine Ausnahme Geschichte; wer also nach diesen warmen Worte aus Dreikommaviernullhausen nicht an sich halten kann und "Empatia" auf einer silbernen Plastikscheibe mit ein bisschen Pappe drumherum in den heimischen CD-Schrank stellen möchte, sollte sich entweder beeilen oder isst am Monatsende nur noch frische Schlachtabfälle mit rohen Zwiebeln. You decide.