KAMASI WASHINGTON - THE EPIC
Na, wo warst Du, als Du zum ersten Mal "The Epic" gehört hast? Ich weiß noch, wie und wo ich es zum ersten Mal hörte; für gewöhnlich brennt sich so ein Erlebnis ja nur dann ins Gedächtnis ein, wenn das Gefühl neben den Lauschern entlang spaziert, etwas Wichtiges oder Großes zu hören - jedenfalls geht mir das so. Ich kann mich schließlich auch noch an mein erstes Mal mit "Smells Like Teen Spirit" erinnern.
"(...) es war im Wohnzimmer der frisch verkabelten elterlichen Wohnung, dunkelbraune Auslegeware, braunes Noppensofa (Mutmaßungen, was ein Noppensofa ist gerne in die Kommentarspalte), ein schwerer, gleichfalls dunkelbrauner Raumteiler so groß und schwer wie die verfickten Alpen. Halbgrauer Herbstnachmittag, MTV. Ich hatte noch nie einen Ton von dieser Band gehört, aber mir knallte alles durch. Ich sprang über die Noppen im Sofa abwechselnd auf den Sessel, auf die 2er- und 3er-Couch, setzte zum Torjubel eines Fußballspielers an und bremste auf dem krausen Teppich mit den Knien direkt vor dem Fernseher. Es tat nicht weh, das Adrenalin unterdrückte jeden Schmerz."
Ich hörte "The Epic" zum ersten Mal an einem Sonntagnachmittag im Mai 2015, während ich mein Plattenregal sortierte. Es war ein Tweet, der mich auf eine Seite mit dem kompletten Albumstream leitete, und als ich das dreistündige Mammutwerk erstmals hinter mir gelassen hatte, drückte ich umgehend erneut die Play-Taste. Ich stand in Flammen. Ich war wirklich aufgeregt, immerhin so aufgeregt, dass ich noch am selben Tag eines meiner frühen Instagram-Post absetzte, mit einem Screenshot der Labelseite von Ninja Tune und mit aus heutiger Sicht immer noch nachvollziehbarer "You got to hear this!"-Übertreibung im Text:
Ein paar Tage später verfasste ich sogar einen Blogpost zu "The Epic" - sogar drei Tage vor einem entsprechenden Artikel in der ZEIT, dem "knalligen Jugendmagazin aus Hamburg" (Harald Schmidt) - remember, where you read it first!
Das Album wirbelte in den kommenden Wochen und Monaten ganz schön viel Staub auf: Das Feuilleton feierte wie von Sinnen die Rückkehr des Jazz (und außerdem die Rückkehr der Leser), Qualitätsmedien wie der Spiegel bezahlten Qualitätsschreiber wie Andreas Borcholte für das Abschreiben des Pressetexts - weil: wer kann, der kann - und selbst Fans von breitbeiniger Rockmusik, die Jazz bis dahin als spaßfeindlich, intellektuell, elitär - kurz: "Schwuuul!" (Matussek) ablehnten, entdeckten plötzlich das Saxophon für sich. "The Epic" sahnte in Deutschland sogar eine goldene Schallplatte ab. Das muss man sich alles mal auf der Netzhaut zergehen lassen: ein 180-minütiges Jazzalbum auf einem Indielabel im Jahr 2015 gewinnt eine goldene Schallplatte in Deutschland. Wo wenn nicht hier, wäre ein besserer Moment, die Sackgesichter der für die RWE arbeitende Werbeagentur und ihre Scheißhausparole "Sind wir Deutschen denn eigentlich verrückt geworden?" zu erwähnen?
Nun ist's aber so: die Jazzszene ist in weiten Teilen tatsächlich spaßfeindlich, intellektuell und ganz besonders elitär - das ist zwar nicht "Schwuuul!" (Hans-Peter, 58, Kegelclub "Alle Neune"), führt aber zu einer teils bizarren Ablehnung von allem, was ihre heiligen Hallen mit unreinem und unheiligem Unrat verschmutzt. Unrein und unheilig wird es vor allem dann, wenn der Scheinwerfer allzu hell und grell die dunklen Ecken der ollen verstaubten Jazzbar ausleuchtet und dadurch also Gäste kommen, von denen man sich in jahrzehntelanger und harter Detailarbeit so schön abgrenzte. Das ist wie in der kleinen Stadtteilspelunke um die Ecke: jahrzehntelang sitzen hier die Schwerstarbeiter aus den umliegenden Fabriken unbehelligt von der modernen Welt beim ruhigen und tranigen Feierabendbesäufnis, und plötzlich stürmt eine Horde 16-jähriger Teenies die Kneipe, lässt Skillex und Taylor Swift über die Handylautsprecher deren "abominations unto the Lord" (John Oliver) hinausplärren, alles riecht nach Axe "Uganda", sie bestellen KiBa-Weizen - da fühlt man sich einfach nicht wohl. Das kratzt, das wird ungemütlich, man will die respektlose Brut am liebsten einfach rausschmeißen. Genau so geht's der halbwegs eingeschworenen Jazzgemeinde, und nichts belegt das schöner als das Webforum einer größeren deutschen Musikzeitschrift von "den Wichsern von Springer" (Blank When Zero):
"Klingt für mich nach Coltrane ( ca 1964) mit Chorsätzen des "It's Time"-Albums von Roach - und das alles auf mäßigem Niveau. (...) Ich höre durchschnittlichen Post Bop."
"Was für ein substanzloses Gedudel. (...) Süßliche Endsiebziger-Radiojazz-Melodik, schmalzige Chöre, ein Saxophonist, der Übungspatterns sinnlos aneinanderreiht, und bei jedem Solo hört man, dass er nicht weiß, was er als Nächstes spielen soll. (...) Wieso darf der ein Album machen? Grausig."
"Mich hat dieser quasi schon vorab feststehende Meisterwerk-Status auch gestört. Nur weil sich jemand 30 Tage einschließt und ein 3 Stunden-Machwerk rausbringt, ists kein neues Bitches Brew."
"Ach, und Thundercat ist nun auch nicht gerade der herausragende Bassist."
"Es langweilt mich. Das Schlagzeug hört sich nach schlechtestem Pop an, überhaupt scheinen die alle an einer Jazzakademie studiert zu haben. (...) Das Chorgeplänkel ist aber wirklich albern und das Streicherzeugs auch."
Orthografie- und Satzzeichenfehler wurden aus Gründen der Authentizität selbstverständlich übernommen.
Nun arbeite ich seit Jahren daran, mein Toleranzlevel in schwindelnde Höhen zu schieben und natürlich respektiere ich als Vorsitzender der "Sossenheimer Akademie für freie Meinungsäußerung - es sei denn die von Arschlöchern e.V." jede Meinung, aber come on: that's just a fuckin' pile of fuckin' bullshit.
Freilich ist immer ein bisschen Vorsicht angebracht, wenn vor allem genrefremde Musikfreunde plötzlich zu Jazzern werden - zu leicht blendet der Hype die Sinnesorgane und man muss heute mehr denn je aufpassen, mit welchen Wölfen man heult. Aber total egal ist's dann eben trotzdem: "The Epic" hat auch nach knapp acht Monaten nichts von seiner Faszination eingebüßt. Natürlich hat das nicht die politisch und sozialkulturell aufgeladene Wucht der 1960er Jahre, natürlich ist das Panorama von "The Epic" mit Edelweichspüler bearbeitet, natürlich ist das in der Ansprache sanfter und bedachter - das ändert aber nichts an meiner Wahrnehmung:
"The Epic" ist ein opulentes, tiefes, spirituelles, herausragend komponiertes, brillant gespieltes, mitreißend arrangiertes und modernes Crossover Jazz-Album, das sowohl das freie Spiel eines mittelalten John Coltrane als auch die modalen Post Bop-Spirituals der 1970er Jahr von Pharoah Sanders oder auch Alice Coltrane streift und sie mit Soul- und sogar Pop-Elementen umrankt, aufhübscht, garniert - und nicht zukleistert.
Ladies and Gentlemen, we have a classic.
And now: Cheer the fuck up!
Erschienen auf Brainfeeder, 2015.