NIRVANA - LIVE AT READING
Im Rahmen meines Livereviews (sowas müsste ich eigentlich viel öfter hier machen, ne?!) zum "Newermind"-Sampler aus dem Jahr 2011, und es löst weniger Schrecken denn Resignation aus, dass das schon wieder fast drei Jahre her ist, schrub ich:
Es ist nicht so, dass ich keinen Grund hätte, über Nirvanas "Nevermind" zu schreiben. Nachdem die Elogen zum zwanzigjährigen Jubiläum im Spiegel, in der TAZ, in der Süddeutschen sowie im Metzgerfachblatt "Tanz, Du Sau!" an uns vorbeigezogen sind, natürlich immer mit einer kaum bis extrem stark auffälligen Vermischung von redaktionellem Inhalt ("Sprachrohr einer Generation", "Verzweiflung", "So jung kommen wir nicht mehr zusammen!") mit plump und clever platzierter Werbung ("DIE DICKE JUBILÄUMSBOX ZUM JUBILÄUM! JUBILÄUM! JUBILÄUM! NUR 800 EURO! JUBILÄUM!"), könnte ich ja mal so tun, als ob sich irgendeine alte Sau noch dafür interessiert, was ich über "Nevermind" zu sagen hätte. Das Problem ist jedoch, dass ich mich nach zwanzig Jahren selbst nicht mehr dafür interessiere, wie ich über "Nevermind" denke.
"Nevermind" ist längst in meinen Knochen verbaut. Ich muss das nicht mehr mit allen verfügbaren Floskeln analysieren, zumal niemand, der die Explosion (zuerst) und die Implosion (später) live und in Farbe miterlebte, es jemals analysieren wollte. Es war einfach da, und es war überwältigend. Und das war mehr als ausreichend. Wir wären vermutlich alle wahnsinnig geworden, hätten wir wie vom Teufel getrieben unsere Gedanken und Gefühle reflektieren und erklären müssen. Es fühlt sich falsch an, über "Nevermind" heute noch mehr Worte zu verlieren.
Ich weiß nicht, wem es nützt. Aber wer vielleicht ein letztes Mal hinter seine Songs und diese Wand aus Gitarren und einem donnernden Schlagzeug blicken will, der kann selbst in schwachen Momenten dieser Zusammenstellung viele beeindruckende und verbindende Elemente in "Nevermind" finden, die jede Veränderung und jede Lage aushalten. Eine Art universeller Aura, die in jedem Song mit glühender Leidenschaft erstrahlt.
Das ist in meinem Buch einerseits immer noch alles ziemlich richtig, andererseits ist es auch schon bemerkenswert, dass ich in diesen freien, unabhängigen und lediglich meiner Selbst verpflichteten 3,40 Quadratmetern außer diesen oben stehenden Zeilen noch nie ein nennenswertes und weiteres Wort über die vielleicht wichtigste Band meines Lebens verloren habe.
In meinem allerersten Blogpost überhaupt, und wir wollen uns jetzt galant anschweigen, dass der sogar schon knappe sieben Jahre zurückliegt, teilte ich "Nevermind" immerhin noch in die Reihe musikalischer Erleuchtungen ein:
Musikalische Erleuchtungen gab es in den Jahren 1982 (Roland Kaiser, "Santa Maria"), 1986 (Iron Maiden, "Live After Death"), 1991 (Nirvana, "Nevermind"), 1997 (Tool, "Aenima") 1999 (Neurosis, "Times Of Grace") und 2005 (John Coltrane, "A Love Supreme"), davor, dazwischen und danach allerhand Großartiges, Inspirierendes und zum Speien Furchtbares.
Das war's dann auch vorerst mit der Restverwertung und ich will mich mitnichten dazu hinreißen lassen, mir nun wirklich dreiundzwanzig Jahre später "Nevermind" explizit vorzuknöpfen. Aber, und das verdanke ich einer neuerlichen Tournee durch die Frankfurter Plattenläden und einem spontanen Impuls, dem ich bis zu jenem Freitag im Mai jahrelang aus dem Weg gehen konnte: wir müssen über Nirvana sprechen.
Wir müssen darüber sprechen, dass ich ohne Kurt Cobain heute keine Gitarre spielen würde. Dass ich ohne seinen Tod niemals mehr die seit 1989 in der Ecke vor sich hin staubende Akustikgitarre angefasst und mir mit der von MTV praktisch rund um die Uhr gesendeten "Unplugged"-Session das Gitarrespielen beigebracht hätte. Und Cobains Dropped-D Tunings bei "On A Plain" einfach nachmachte, ohne einen blassen Dunst von dem zu haben, was Kurt da treibt. Von Noten oder auch nur Akkorden hatte ich keine Ahnung, ich schaute einfach nur auf seine Finger. Und ich sang dazu - was mir, der Ausflug in die heutige Zeit sei mir an dieser Stelle gestattet, selbst heute noch zu Gute kommt.
Wir müssen darüber sprechen, dass ich noch genau weiß, wo ich war, als ich zum ersten Mal "Smells Like Teen Spirit" hörte: es war im Wohnzimmer der frisch verkabelten elterlichen Wohnung, dunkelbraune Auslegeware, braunes Noppensofa (Mutmaßungen, was ein Noppensofa ist gerne in die Kommentarspalte), ein schwerer, gleichfalls dunkelbrauner Raumteiler so groß und schwer wie die verfickten Alpen. Halbgrauer Herbstnachmittag, MTV. Ich hatte noch nie einen Ton von dieser Band gehört, aber mir knallte alles durch. Ich sprang über die Noppen im Sofa abwechselnd auf den Sessel, auf die 2er- und 3er-Couch, setzte zum Torjubel eines Fußballspielers an und bremste auf dem krausen Teppich mit den Knien direkt vor dem Fernseher. Es tat nicht weh, das Adrenalin unterdrückte jeden Schmerz. Diese Kraft. Was für eine Kraft das war. Es war EIN SCHREI. Ich lief am nächsten Tag in den Frankfurter WOM und brauchte unbedingt diese Single. Die Augen des Tresenmannes leuchteten, und er sprach:"Hier ist die Single, aber nimm' Dir das Album auch mit. Das ist einfach, das ist....einfach UN-GLAUB-LICH! Alle Lieder sind so gut wie die Single, das ist einfach...einfach....WHOAH!" Er hielt dabei die CD in den Händen, aber die 33,95 DM waren für einen vierzehnjährigen zu teuer. Die 17,95 für die LP hingegen waren noch knapp im Budget.
Wir müssen darüber sprechen, dass ich in den kommenden Jahren zum Kurt Cobain-Fanboy und -Look-a-Like mutierte, der noch Jahre nach seinem Tod im Frankfurter Flughafen von wildfremden Menschen mit ihm verwechselt wurde ("OH SCHEISSE, DU LEBST!") und sein bis heute zweifelhaftes Modebewusstsein mit einer prima Karohemdensammlung schärfte.
Wir müssen darüber reden, wie arg mich "In Utero" mitgenommen hat und darüber, wie ich mir ein 90er TDK-Tape mit dem siebenminütigen Bonuskrach "Gallons Of Rubbing Alcohol Flow Through The Strip" in Endlosschleife aufgenommen habe, weil es für mich letzte, endgültige Essenz dessen war, was Nirvana darstellten. Und wie dieses Bild nie klarer als auf "In Utero" zu erkennen war. Vielleicht wirklich die letzte, wirklich große Punkplatte. Als Schlusspunkt. Was für ein Statement.
Wir müssen darüber sprechen, dass ich Konzertkarten für das Nirvanakonzert am 3.3.1994 hatte, ich seit Wochen und Wochen und Wochen und Tagen und Tagen und Tagen diesem Tag entgegenfieberte und am Morgen von meiner Mutter mit den heute noch in meinem Hirn jederzeit abspielbaren Worten geweckt wurde:"Floooriiii! Aufstehen!!! Das Nirvanakonzert fällt aus!". Und darüber, dass ich einige Stunden später im weißen "In Utero"-Longsleeve mit den anderen Jüngern im Chemie-Klassenraum stand und wir uns sicher waren, dass sie das Konzert nachholen werden. Ganz schnell. Ganz sicher. Ganz schnell. Ganz sicher.
Und wir müssen darüber reden, dass ich noch genau weiß, wo ich war, als ich von Cobains Tod hörte. Meine Eltern befanden sich im Osterurlaub in Reit im Winkl und überließen ihrem Sprössling die Aufsicht über die Wohnung, wofür dieser sich mit einer, äh, kleinen Feier mit Freunden für das entgegengebrachte Vertrauen bedankte. Das war noch vor diesem ganzen Cocktailschrott, womit alles, was die Jungs und Mädels brauchten drei Kästen Bier, ein paar Päckchen Benson & Hedges und ein CD-Player war. Nachts um vier und mit vermutlich ebenso viel Promille im Blut) lief die Glotze, und als jemand den Sat1-Videotext öffnete und die Schlagzeile "Nirvana Sänger Kurt Cobain ist tot." sichtbar wurde, wurde es plötzlich ganz still auf der Noppencouch. Und auf dem dunkelbraunen Teppich. Und auf dem Balkon. Und in der Küche. Und in dem Raumteiler.
All das wurde in den letzten Wochen wieder nach oben und ins Bewusstein gespült. Der Grund dafür heißt "Live At Reading" und es sagt schon wieder einiges aus, dass fünf Jahre ins Land zogen, bis ich mir die Platte kaufte. Und es sagt vielleicht noch mehr aus, dass ich diese Songs schon so lange nicht mehr hörte, möglicherweise auch nicht mehr hören konnte. Und wie unwirklich es scheint, dass ich im Jahr 2014 hier sitze und immer noch und schon wieder weggeblasen bin von dieser Kraft, dieser Wucht. Wie geil die waren. Und wie fett sie klangen, für ein Trio gleich noch beeindruckender.
Nirvana stehen seit fast zwanzig Jahren als Heiligtum in dem großen Alpen-Raumteiler in meinem Kopf, in Ehren, nur mit den besten, den allerbesten Erinnerungen, mit einer Standleitung in beide Herzkammern. Und mit einem immer noch präsenten Blick auf die unschuldige Zeit als Teenager. Ein Teenager, der sich zum rotschwarzen Karohemd den 8-Tage-Bart ins Davidoff "Zino" Parfum seines Bruders tauchte. Der aus zwei Stunden Geschichtskurs bei Peter Weihnacht ("Geht's Ihnen gut? -"Joa?!" -"Sehen Sie - wählen sie die CDU!"), zwei Freistunden in der Höchster Wunderbar zauberte und dabei "In Utero" auf dem Walkman hörte. Der knietief im ersten Liebeskummer stand und die B-Seite der "Heart-Shaped-Box"-Single - "Marigold" - und "Where Did You Sleep Last Night" über Stunden auf Repeat laufen ließ. Der mit der ersten E-Gitarre in seinem Zimmer stand, sich die Bühnenbewegungen Cobains von Livevideos abschaute und "Bleach", "Nevermind" und "In Utero" für ein imaginäres Publikum nachspielte und am Ende des virtuellen Konzerts die typischen, minutenlangen, ultrafiesen und megalauten Feedbackorgien nachstellte. Wie unfassbar tolerant unsere damaligen Nachbarn gewesen sein müssen.
Und doch - als ich 1991 "Nevermind" kaufte, liebte, zum Grunge-Kid wurde und Freunde meiner Eltern im gleichen Atemzug was von den damals zwanzig Jahre zurückliegenden Hochzeiten Led fucking Zeppelins und der Beatles erzählten, diesem angestaubten, granatenalten, langweiligen, mies klingenden Schrott aus einer anderen Zeit für andere Menschen und für eine andere Welt, da hatte ich noch nicht auf dem Schirm, wie genau diese Welt wohl im Jahr 2014 aussehen mag und was sich ein heute vierzehnjähriger wohl dabei denkt, wenn der Blog-Onkel, dessen 8-Tage-Davidoff-Bart heute hier und da schon grau anläuft, ihm was von dieser angestaubten, granatenalten, langweiligen, mies klingenden Schrottcombo Nirvana erzählt.
Es ist schon alles sehr crazy, wenn man sich's "imaginiert" (Polt).
Erschienen auf Universal, 2009.