TORTOISE - THE CATASTROPHIST
Die Postrocklegende aus Chicago hat es weit gebracht. Was bis zum 2004er Album "It's All Around You" in erster Linie nur den Underground interessierte, ist spätestens seit ihrem letzten Album "Beacons Of Ancestorship" aus dem Jahr 2009 auch im hiesigen Feuilleton angekommen, das bei einem Lebenszeichen aufmerksam wird und die spitzen Finger für allerhand schlaue und bekloppte Texte spreizt, die alle das Ziel zu haben scheinen, mindestens genauso verkopft zu sein wie die Musik der Band; unvergessen etwa der üble Verriss aus der Süddeutschen, den die beliebte Qualitätszeitung aus München zwischenzeitlich offenbar aus ihrem Netzrepertoire entfernt hat. Springers anerkanntes Idiotenfachblatt "Die Welt" stammelte 2009 hingegen mit verschwurbeltem Musikkritikerquatschdeutsch durch die letzten viereinhalb überlebenden Hirnzellen der Leserschaft, die die Texte von Ulf Poschardt überlebt haben:
"Mal imitiert der Sampler eine springende Schallplatte. Mal wirkt ein Stück allein durch umständliche Titel wie "Yinxianghechengqi". Über weite Strecken fehlen heute die verblüffenden Melodien, und wo früher Stille herrschte, hört man heute magenkrankes Blubbern."
- wovon mein Magen auch ein paar Geschichten erzählen kann, vor allem nach dem Lesen solcher Texte.
Die Zeiten haben sich in den letzten sieben Jahren geändert - heute liest man auch aus den deutschen Redaktionsstuben fast nur Wohlwollendes über "The Catastrophist"; Tortoise sind nunmehr die gesetzten Intellektuellen, künstlerisch anspruchsvoll, schwer zu durchschauen, unvorhersehbar. Und weil ich nicht immer nur schimpfen kann, sage ich: das ist richtig.
"The Catastrophist" ist schon heute, zwei Monate nach der Veröffentlichung, eine meiner meistgehörten Tortoise-Platten - und das sage ich im Angesicht meiner damaligen Sucht nach "TNT", "Standards" und vor allem "It's All Around You". Das Quintett, das seinen Sound über die Jahre hinweg immer wieder subtil veränderte und mit einem ganzen Sack voll unterschiedlicher Einflüsse, vom Krautrock über Jazz und Pop bis zum Noise, experimentierte, geht auf seinem siebten Studioalbum in der Gesamtanlage etwas gebremster und übersichtlicher zu Werke und ist dabei konsequenterweise stilistisch so kohärent wie vielleicht noch niemals zuvor. Etwas despiktierlich fielen mir möglicherweise "versöhnlich" und "Alterswerk" als beschreibende Attribute ein, aber das geht in die falsche Richtung: Tortoise sind alles andere als kreativ müde - und dafür muss ich nicht mal exklusiv die beiden Gesangspremieren auf einem ihrer Alben herausstellen: "Rock On", ein wunderbar ironisches und heruntergekommenes Cover des alten Hits von David Essex, herausragend interpretiert von Todd Rittman (U.S. Maple) und der Einsatz von Yo La Tengos Georgia Hubley auf "Yonder Blue", der erstmals einen Hauch von laszivem Sex auf einem Tortoise-Album platziert, setzen markante Duftmarken auf "The Catastrophist". Trotzdem drängen sich diese beiden Revolutionen nicht in den Vordergrund, um das restliche Material auf ihren Schultern tragen zu müssen. Tortoise wissen nicht erst seit gestern, was sie tun (und tun müssen). Von spannungsgeladenen Arrangements wie in "Shake Hands With Danger" bis zum vordergründigen Hängemattengedudel in "Hot Coffee", einem Überbleibsel aus den "It's All Around You"-Sessions, und dem luftigen, leicht an The Sea And Cake erinnernden Wolkenschmeichler "Tesseract", habe ich hier nur gute Gefühle, Spaß und Inspiration.
"The Catatrophist" marschiert gerade mit ziemlich großen Schritten in Richtung Jahres Top-Ten.
Erschienen auf Thrill Jockey, 2016.
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