05.12.2018

First Time Now, Schnakenhals (2)



ENCHANT - BREAK


Ich hatte einen Funken Hoffnung, Inside Out würden das 20-jährige Jubiläum von "Break" für einen Überraschungscoup nutzen - zumal sie das Enchant-Debut "A Blueprint Of The World" erst kürzlich (und außerdem erstmals) auf Vinyl, sowie ein CD-Boxset mit kompletter Werkschau der kalifornischen Kultprogger veröffentlichten und damit also wieder etwas Bewegung in eine Band brachten, die sich über die letzten 15 Jahre praktisch im Dämmerschlaf befand. Ich habe nicht zuletzt deshalb Hoffnung. Und "Break" ist trotz des Legendenstatus des Debuts ohne Zweifel ihre beste Platte, auch wegen der hörbaren Zäsur in ihrem Sound: Enchant experimentierten ab 1998 mit dezenten, aber wahrnehmbaren Alternative-Riffs und Harmonien und bauten damit um die angenehme Stimme Ted Leonards stimmungsvolle, melancholische und klischeefreie Rocksongs, die ich wirklich gerne auf Schallplatte hören würde. Los, Inside Out. Gebt Euch einen Ruck. Doppel-LP, Gatefold, blaues Vinyl, 300er Auflage - so schwer wird's schon nicht sein. Gebt Euch nur ein bisschen mehr Mühe mit dem Mastering als bei Euren Spock's Beard Reissues und wir werden Freunde. 

Wahrscheinlichkeit 3/5






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DOUGHBOYS - CRUSH


Zwischen Punkrock, Pop und Alternativerock hatte es sich diese kanadische Formation bequem gemacht, und mit ihrem Major Label Debut "Crush" konnte sie zumindest im Heimatland einigen Erfolg einheimsen. Für mich war das ein klassischer Fall von familiärer Sozialisation: mein Bruder hatte sich die ersten Alben Ende der 1980er Jahre als teure Importe mit achtwöchiger Lieferzeit aus Kanada bestellt, war also bereits ab dem Debut "Whatever" glühender Fan und nahm mir ihre Musik auf Tape auf. "Crush" platzte 1993 genau in meine Alternativerock-Adoleszenz und wurde zu einer meiner absoluten Lieblingsplatten. Die Doughboys lösten sich 1996 nach einer weiteren, sehr harmlosen Platte auf. Ihrem Label A&M Records erging es nach dem zwischenzeitlichen Verkauf an, Riesenüberraschung: die Universal Music Group ähnlich. Was zur fickenden Hölle wurde eigentlich nicht von der fickenden Universal Music Group gekauft? Anyway, Bestandsaufnahme: Label tot, Band tot, Alternativerock tot, Punk tot. Vinyl lebt. Ergebnis: 4:1 - "da kommt nix mehr" (Antitainment). 


Wahrscheinlichkeit 1/5






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KEITH JARRETT - RADIANCE


Ach, ECM. Seit Jahrzehnten Musik und Artworks für die Ewigkeit. Echte Hingabe und Leidenschaft für den Künstler und die Musik. Dazu das passende Selbstverständnis nebst aufgebautem Image: edel, exklusiv, existenziell. Aber nun: reality strikes back! Zunächst verpennt ihr den Vinyl-Hype gleich für mehrere Jahre, und jetzt, nachdem ihr aufgewacht seid und ihr eure Platten offensichtlich von einer Horde intellektueller Biber um südöstlichen Ural pressen lasst, wünscht man sich fast, ihr  hättet ein bisschen mehr und öfter von den bunten Schlaftabletten genascht. Daher nun, von mir und für euch, mit schönem Gruß ans Produktmanagement: ihr nehmt die Mastertapes dieses 2002 in Japan aufgenommenem Konzerts und schickt sie an das Pallas-Presswerk, sagt Ihnen, sie sollen die 140 Minuten Musik auf vier 180g schweren Vinylscheiben verteilen und also unterbringen und das Wechselgeld behalten, dann hört ihr euch die Testpressungen über mindestens drei Wochen jeden verschissenen Tag auf höchster Lautstärke an und gebt auch erst dann wirklich grünes Licht, wenn kein einziger Kratzer und Schleifer mehr zu hören ist (ES KANN DOCH NICHT SO FUCKING SCHWER SEIN!), packt die Scheiben in wattierte und bedruckte Inlays, ihr bastelt euch eine schöne, leicht überformatige, dicke und stabile Papp-Box mit diesem wunderbaren Artwork zusammen, legt ein Poster dazu, lasst den durchgeknallten genialen Jarrett noch durchgeknalltere genialere Linernotes schreiben, macht eine Schleife drum und verkauft es an durchgeknatterte Jarrett- und Vinyl-Freaks für 50 Euro. Die 5000er Auflage ist in zweieinhalb Stunden ausverkauft, der Eicher Manfred kann sich zwei, drei neue Studiolautsprecher für 50 Mille das Stück besorgen, und das nerdy Nerdmagazin für Nerds "Mint" kann ihren für die Rubrik "Was fehlt?" ausgedachten Witz "Eine fehlerfreie Vinylpressung von ECM" an Mike Krüger verscherbeln, der euch den Nippel durch die Lasche zieht. Gern geschehen, immer wieder. Macht's halt einfach! 


Wahrscheinlichkeit 0/5






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TRIBE AFTER TRIBE - PEARLS BEFORE SWINE


Vor sieben Jahren schrub ich an anderer Stelle in diesem virtuellen Tagebuch: "Wenn man mir die Pistole auf die Brust setzt und mich nach meinem liebsten Tribe After Tribe-Album fragt - ich würde wohl letzten Endes "Pearls Before Swine" antworten." So viele Geschichten und Erinnerungen sind mit dieser Platte, dieser Zeit und diesem Abend im Frankfurter Nachtleben verbunden; einem Abend, an dem ich mich mit meinem damaligen Busenfreund C. in eine andere Galaxie schießen ließ. Während die Vorgängeralben allesamt auf Vinyl erschienen, kam "Pearls Before Swine" leider nur als CD in den Handel. Auch Tribe After Tribe sind mittlerweile Geschichte und trotz ihres exzellenten Rufs vor allem zu Beginn ihrer Karriere längst vergessen: auf dem Plattensammlerportal Discogs besitzen gerade mal 77 Menschen dieses Meisterwerk. Es wird alle höchste Eisenbahn, dass unschlagbare Hymnen wie "Boy", "Fire Dancers" und "Hopeless The Clown" mit einem Vinyl-Release zumindest den hoffnungslos Verrückten zugänglich gemacht werden. Ich möchte offen sprechen, wenn nicht gar schreiben: Es wird kaum mehr besser als auf dieser Platte. 

P.S.: Meine umfangreiche Auseinandersetzung mit Tribe After Tribe ist übrigens hier zu finden: Teil 1 // Teil 2


Wahrscheinlichkeit 1/5






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THOUGHT INDUSTRY - BLACK UMBRELLA


Eine der mutigsten, interessantesten und gleichzeitig erfolglosesten Bands der neunziger Jahre kam, abgesehen von einer 7-inch Single, in ihrer Karriere komplett ohne Vinylrelease aus - und das, obwohl das Label Metal Blade hieß, die sich der Bedeutung physischer Tonträger für Metalfans ja bis heute bewusst sind. Aber Labelchef Brian Slagel wusste sowohl von der Unberechenbarkeit dieser fünf Verrückten als auch davon, dass sie im Metal-Stadel, in dem Mutlosigkeit, Herkömmlichkeit und tradiertes Festhalten an Bekanntem das Zepter schwingen, keine Chance haben werden. Umso höher muss man es dem Traditionslabel anrechnen, die Band bis zur Auflösung zu Beginn der 00er Jahre unterstützt zu haben. Alle Alben der Thought Industry sind einzigartige Erlebnisse zwischen Progressive Metal, Thrash, Hardcore, Alternative und Indierock und alle hätten eine Veröffentlichung auf Vinyl verdient, aber mein Gefühlszentrum schreit mir nun seit Tagen "Black Umbrella" ins Gesicht; ihr, vom noch sehr metallischen Debut abgesehen, stilistisch vielleicht kompaktestes, jedoch ganz sicher melancholischstes Werk, das sich von Mitt/Spätneunziger Indierock beeinflusst sieht. Eine Werkschau dieser einzigartigen Band wäre doch mal was, Metal Blade. Ein schönes Boxset vielleicht? Die 100 Pieps auf der Welt, die die Band nicht vergessen haben, freuen sich bestimmt den Arsch ab - inklusive meiner Wenigkeit. 


Wahrscheinlichkeit 2/5








30.11.2018

First Time Now, Schnakenhals! (1)

Was braucht Herr Dreikommavierull also furchtbar dringend erstmals auf Vinyl, Teil 1. 

Zunächst brauchen wir alle eine Handvoll einleitender Worte. Mir fiel beim Suchen, Nachdenken und Schreiben auf, dass ich die Nummer hier auch locker "Meine liebsten Alben der Neunziger" hätte nennen können, aber bei näherer Betrachtung wird ein Schuh draus: erstens verzichteten ab Mitte der 1990er Jahre die meisten Labels auf Vinylpressungen und in diesem Zusammenhang auch ich mit einem Kauf derselben, zum anderen war das eben, well: meine Zeit. So schön und lohnenswert ich das manische Suchen nach neuer Musik auch im fortgeschrittenen Alter noch finde und ich auch nicht mal im Traum, sondern mittlerweile allerhöchstens im Halbschlaf nach einem Liter Kaffee nachts um halb zwei, daran denke, im eigenen Saft und also in alter Rotze zu versumpfen, muss ich den übergroßen Einfluss der Musik aus jener Epoche auf mein Leben anerkennen. Die neuerliche und im Rahmen der Recherche nochmal tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Scheiben, über die es also nun in den nächsten vier Beiträgen gehen wird, hat es mir erneut gezeigt: so geil wird's vielleicht nie wieder. 

Bevor es losgeht noch die Wahrscheinlichkeitslegende. Sie zeigt an, wie wahrscheinlich es ist, dass die Alben tatsächlich eines Tages auf Vinyl veröffentlicht werden:

5: Praktisch schon auf dem Weg zum Presswerk
4: Das Glas ist halbvoll. Licht am Ende des Tunnels. Eintracht Frankfurt Internationaaaaal.
3: Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Irgendwann mal. Auf jeden Fall später. Hm.
2: Don't hold your breath, Argentina!
1: LOL, bist' deppert?





FENNESZ / SAKAMOTO - CENDRE

Erschienen im Jahr 2007 auf dem legendären Touch Label und mittlerweile ein Klassiker für Ambientfreunde. Touch ist nicht dafür bekannt, all zu großen Wert auf Vinyleditionen zu legen, die gemessen am übrigen Labelprogramm ohnehin nur einen Bruchteil ihrer Veröffentlichungen ausmachen. Touch ist des Weiteren auch nicht dafür bekannt, den Blick all zu oft in die Vergangenheit schweifen zu lassen, geschweige denn, in ihr zu leben. Die Chance für einen Vinylrelease dürften vor diesem Hintergrund nicht besonders rosig aussehen - und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob sich Ambient IMMER und GRUNDLEGEND für die Schallplatte eignet. Aber wie ich es bereits vor zehn Jahren im reichlich ungelenk formulierten Text auf diesem Blog andeutete: alleine wegen des wunderbaren Covers ist "Cendre" auf Vinyl einer der innigsten Wünsche meines Plattensammlerherzens.


Wahrscheinlichkeit: 2/5





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I MOTHER EARTH - DIG


Abgesehen von zwei 10-Inch-Singles ist diese kanadische Alternative/Progressive Rock Band ein weißer Fleck auf der Vinyl-Landkarte, und es wird allerhöchste Eisenbahn, dass sich das ändert. "Dig" erschien 1993 genau zwischen Grunge-Hysterie und Alternative Rock-Boom via Capital Records/EMI Canada und gehört zum Besten, was die 1990er ausspuckten - das sahen die Progressive Rock Dinosaurier von Rush ähnlich und nahmen die Band gleich mehrfach ins Vorprogramm ihrer Tourneen. Für manche Zeitgenossen ist der Nachfolger "Scenery And Fish" das bessere Album, ich mag "Dig" wegen seiner Unbekümmertheit und der etwas höheren Hitdichte ("Rain Will Fall", "Not Quite Sonic") einen kleinen Tacken lieber. Die Chancen, diesen kleinen Klassiker in diesem Leben nochmal auf Vinyl zu sehen sind indes übersichtlich: die Band war lange Zeit aufgelöst und tingelt seit ein paar Jahren für vereinzelte Auftritte durch Kanada und die USA - ist also kommerziell mausetot. Und die "Anything Goes"-Ära der neunziger Jahre ist heute auch alles andere als en vogue. File under "Vergessene Perle", und sie wird vermutlich auch vergessen bleiben.


Wahrscheinlichkeit: 1/5




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ROLLINS BAND - COME IN AND BURN


So fantastisch die beiden Vorgänger "The End Of Silence" und "Weight" auch immer noch sind, Eisenheinrichs hellste und strahlendste Sternstunde ist das 1997er Album "Come In And Burn", das er noch mit dem großartigen Line-Up der klassischen Bandphase (u.a. mit Bass-Fusion-Monster Melvin Gibbs) einspielte, bevor er ab 1999 und mit neuer Begleitband in Richtung Rotzrock abdriftete. "Come In And Burn" ist das definitive Statement dieser Formation: jazzy, verspult, progressiv - aber mit einer nie dagewesenen Durchschlagskraft und Gradlinigkeit , verpackt in einen unschlagbaren Sound. Das 1996 von David Geffen, Steven Spielberg und Jeffrey Katzenberg gegründete Major Label Dreamworks Records, das "Come In And Burn" veröffentlichte, wurde 2003 von Universal übernommen und damit faktisch geschlossen. Ich habe immer wieder kleine Hoffnungsschimmer, ob Rollins nicht mal auf die Idee käme, "Come In And Burn" über seinen eigenen Verlag in der Vinylfassung herauszubringen und sein Infinite Zero Sub-Label unter Rick Rubins American Recordings wäre dafür ja prädestiniert gewesen. Kennt man allerdings das "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!"-Mantra des Meisters nebst seiner seit über einem Jahrzehnt andauernden musikalischen Stille, darf das mit einem bis zweihundert weinenden Augen bezweifelt werden.


Wahrscheinlichkeit 2/5




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JUD - CHASING CALIFORNIA


Jud sind die beste Rockband, von der Du noch nie gehört hast. Das 1998er "Chasing California" Album, von mir im selben Jahr und aus reiner Verlegenheit beim damals noch nicht ganz so peinlichem EMP Versand (!) mit einer Postkarte (!!) bestellt, ist tief pumpendes Seelenfutter zwischen mehreren Stühlen, was übrigens eine Erklärung für den seit jeher ausbleibenden Erfolg wäre: ihr mit melancholischem Hedonismus aufgeladener Alterna-Stoner Metal und mit tiefergelegtem Noiserock abgerundeter Sound hat die breite Masse einfach überfordert. Jud waren schon zu Zeiten größerer Aktivität kommerziell ein totes Pferd und für den Gedanken, dass irgendeine Plattenfirma trotz des immer noch grassierenden Vinyl-Hypes auf die Idee käme, ein zwanzig Jahre altes Werk erstmals auf Vinyl zu veröffentlichen, brauche ich viel Antidepressiva. Vielleicht ein kleiner Hoffnungsschimmer: Bandgründer David Judson Clemmons hat dieser Tage immerhin das letzte Album "Generation Vulture" erstmals und zwei Jahre nach dem CD Release aufs schwarze Gold gepresst. Vielleicht....vielleicht geht da noch was.


Wahrscheinlichkeit: 3/5




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RAGING SLAB - DYNAMITE MONSTER BOOGIE CONCERT


Das Magnum Opus dieser mittlerweile in Tragik versunkenen Southern Rock Band gehört zu meinen Lieblingsplatten der 1990er Jahre und ist bislang ausschließlich als CD erhältlich - und solange sich nicht ein durchgeknalltes Spezialistenlabel findet, das dieses stimmungsvolle Werk auf Schallplatte sehen will, wird sich daran auch künftig nichts ändert. Die Band war nach dem Release von "Dynamite Monster Boogie Concert" nicht gerade auf Rosen gebettet: American Recordings-Chef Rick Rubin, der die Band nach dem gleichfalls hervorragendem Vorgänger noch mit der Hoffnung, die zweiten Black Crowes gefunden zu haben, aus dem Vertrag mit RCA herauskaufte, ließ die Truppe kurze Zeit später komplett fallen. Die Folge: rechtliche Probleme mit gleich mehreren Plattenfirmen, die dazu führten, dass Raging Slab mehrere Jahre auf Eis lag, eine schlimme Heroinabhängigkeit und eine in der Folge auf späteren Alben kaum mehr wieder zu erkennende Band. Als letzter Schicksalsschlag verstarb Gitarristin Elyse Steinman 2017 nach einem dreijährigen Kampf gegen den Krebs. "Dynamite Monster Boogie Concert" ist eine große Platte. Und große Platten gehören auf Schallplatten. 


Wahrscheinlichkeit: 1/5




...to be continued...

26.11.2018

Vinyl, Motherfucker!

Sehen Sie nur, diese Stilbrüche!(Peter Struck)


Bevor wir im Dezember zu der traditionellen "Neue Scheiße"-Abteilung gelangen - dieses Jahr übrigens wieder mit den "nur" zwanzig besten Alben des Jahres 2018; man muss es ja nicht zu einem noch prätentiöseren Dreck aufblasen, als es eh schon ist - flechte ich hier und heute freudestrahlend und blutkotzend noch einen Hauch "Alte Scheiße" ein. Vom Gedanken, einen neuerlichen Minusrekord hinsichtlich der in den letzten elf Monaten geschriebenen Beiträge zu verhindern, habe ich mich "innerlich" (Jan Ulrich) schon zur Jahresmitte verabschiedet, aber vielleicht fällt der Gebrauch von Psychopharmaka ja geringer aus, wenn ich versuche, das Delta zur Anzahl von Postings aus den vorangegangenen Jahren akzeptabel klein und also "in Schach" zu halten.

Dabei ist's doppelt tragisch, denn wenn ich mir seit Jahren und vor versammelter Bloggergemeinde mit den vielbesungenen "vielen, tollen Ideen" ein Horn laberte, ging es unter anderen "vielen, tollen Ideen" auch genau darum: welche Alben brauchen denn entweder ganz megaultradringend eine erstmalige LP-Veröffentlichung - digital scheißegal, uns ist mittlerweile eh alles schnurz - oder superduperdringend einen Repress, weil die ehemals veröffentlichten Versionen nicht nur ausverkauft sind, sondern darüber hinaus mittlerweile auch noch richtig Asche kosten? Zero World Problems, klar - und vor zwei Jahren, als ich in meiner Funktion als "Se Buckholder of Rogg'n'Olaf" (Die Herzallerliebste) mit der ersten Auswahlliste in Excel begann, wäre das auch noch "a thing" gewesen. Mittlerweile schreibt wohl selbst Familie Fliewatüt sowas in irgendeine gesponsorte und total unabhängige Scheißplattform in diesem Internetz, dafür dann aber auch total ausgewogen im Sinne von Universal und Warner Music. Von Experten für Experten.

Haha! Reingelegt! Heute schreibt doch keiner mehr über Musik!

"Ich streame mir die Haare glatt." (Fips Arschmuskel)

"Solange ich lebe, wird es keine Blank When Zero Songs auf Spotify geben." (Florian Fluppsi, Arzt)

"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihr Premium-Abonnement...was? Falscher Balkon? Sorry @ All, muss wieder weg, Tschö mit Ö!" (Genschman)


Jedenfalls: Ich weiß nix. Merke ich immer wieder. Mein ganzes Getue in unterschiedlichen Genres über fucking Jahrzehnte - alles für den Piepmatz. Daher ist auch der so oft und seit locker 15 Jahren geäußerte Wunsch, das eigene Leben mit Inhalt zu füllen und also ganz vielleicht einen Plattenladen zu eröffnen, komplettes Kokettieren mit dem süßen Hauch des Untergangs, den es gratis und automatisch als Dreingabe gibt, wenn die Gedankensynapsen mal wieder von der Lohnarbeitsleine gelassen werden. Ich möchte gar nicht wissen, welche ultrarare Scheiben schon von mir im Plattenladen und auf Flohmärkten stumpf überblättert wurden. Dafür erinnere ich mich an einen Besuch bei Tommes Records in Stuttgart, in dessen Verlauf mir der Inhaber eine Platte einer deutschen Krautrock-Band aus den 1970er Jahren unter die Nase hielt und mir überlegen lächelnd mitteilte, dass er ebenjenen Titel vor wenigen Tagen aus einer 3-Euro-Kiste vom Flohmarkt herausfischte. Meinen fragenden Blick nebst vehementem Schulterzucken konterte der Mann mit der Feststellung, dass er gedenkt, dieses Exemplar für mehr als das 280-fache des Einkaufspreises zu veräußern - und dass der auserwählte Käufer noch am selben Tag vorbeikäme, um ihm, Tommes, die Ladenmiete für diesen Monat zu überbringen. Es erübrigt sich, gesondert darauf hinzuweisen, dass der feine Herr Dreikommaviernull, selbsternannter Plattensammler mit total relevantem Blog weder Band noch Album kannte, ich hatte gar noch niemals in meinem Leben auch nur den Namen gehört oder gelesen. Für mich hätte es nach dem Durchblättern besagter Schnäppchenkiste vermutlich nur zwei Optionen gegeben:

1. "Puh, nur alte Rotze. Frag' mich ja echt, wer die Scheiße überhaupt kauft."

2. "Whoah, geiiiiiil - die dritte Doro-LP als Picture Disc für nur drei Eu... - achnee, hab' ich ja schon."


Klar ist indes auch: man kann nicht alles kennen. Was ich seit einigen Jahren so nonchalant als "Mut zur Lücke" schönrede, ist in Zeiten von schnellebigem Streamingdreck nebst seiner Algorithmen und dem unheiligen "Einer Million Dummbatzen gefiel die neue Single von Gustav Glücksbärchi - come on and join the Dummbatzes!" aus der Mode gekommen. Selbst in den Genres, in denen ich mich wenigstens nach kritischer Selbsteinschätzung noch ganz gut auskenne, also dem Rock-und Metalbereich ab Mitte der 1980er Jahre bis zum Ende der 1990er Jahre, muss ich die ein oder andere Lücke in der Größe des Mariannengrabens einräumen. So verkaufte ich im vergangenen Jahr im Auftrag einer Freundin etwa 250 Schallplatten aus der Heavy Metal/Speed/Thrash/Death/Progressive-Schublade und dem grob definierten Zeitfenster von 1986 bis etwa 1995, meist Titel, die ich aus dem EffEff kannte, sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Versionen. Zumindest zu Letztgenanntem bleibt mir im Rückblick nur ein mitleidiges Lächeln übrig, denn: I knew shit! Ich stakste über Wochen durch das Plattensammlerportal Discogs wie durch ein Minenfeld aus rohen Eiern und lernte, wie eine an einer einzigen Stelle abbweichende eingravierte Matrixnummer in der Auslaufrille der Schallplatte dafür verantwortlich sein konnte, ob ein Exemplar nun für hundertachtzich oder einsachtzich den Besitzer wechselt.

Was ich mit der wieder mal elendig langen Einlaufkurve sagen will: man erwartet, wie übrigens immer auf diesem Blog, bitt'schön keine Auflistung des Supernerd-Kanons, mit welcher der geneigte Perlentaucher dann lokale Plattenläden abklappert - und besser schon gar keinen alten Scheiß von den üblichen Verdächtigen: im Dickicht oller Pink Floyd, Beatles, Doors und Rolling Stones Pressungen aus drei Miliarden Jahren kompletter Geschmacksverirrung kenne ich mich nicht aus. Und ich möchte mich dort auch nicht auskennen. Das war nie ein Thema für diesen Blog, und es wird auch nie eines werden. Außerdem sei freundlich darauf hingewiesen, dass mir besonders in den letzten zwei Jahren schon so einiger Wind aus den Segeln genommen und meine bedeutendsten Wünsche erhört wurden: "Dogman" von King's X, "Nocturne" von Charlie Haden, "Transmission" von The Tea Party, der komplette Solokatalog des Iron Maiden Sängers Bruce Dickinson wären zu 10000% in den hier folgenden Listen aufgetaucht, mittlerweile haben sie sich alle im Plattenschrank manifestiert. Dolles Ding.

Was es stattdessen geben wird, ist ein banales Wunschkonzert. Ein ganz normales, total weltfremdes Wunschkonzert von einem, der nix weiß, der aber immerhin eine kleine Special Interest-Liste zusammengestöpselt hat.

Als Überbrückung bis zum Jahrescountdown also in Kürze: die zehn am ärgsten erwarteten Kandidaten in den Kategorien "Repress Now, Mofo!" und "First Time Now, Schnakenhals!", aufgeteilt in zwei je fünf Kurzreviews umfassende Beiträge pro Kategorie. Supereinfach.

Und supergeil.


25.11.2018

Let It Snow



SPOCK'S BEARD - SNOW LIVE


Wenn Bloggen im Hause Dreikommaviernull nunmehr bedeutet, einen monatlichen Post als obligatorisch anzusehen, soll's mir recht sein - das ist immerhin besser, als die Staubschicht noch dicker werden zu lassen, als sie es ohnehin bereits ist. Eine im Krankenbett verbrachte Woche hilft wenigstens dabei, dieses Vorhaben Realität werden zu lassen, auch wenn die beinahe täglichen Überarbeitungen - der für's Sprachliche zuständige Teil des Gehirns scheint sich bei Nichtbeachtung in Richtung Höhlenmensch zurück zu entwickeln -  kolossal genervt haben.


Ich habe sowohl hier als auch an anderen und ziemlich zahlreichen Stellen im Internet über nunmehr 16 Jahre kaum ein gutes Haar an dem letzten und noch unter der künstlerischen Führung von Neal Morse entstandenen Spock's Beard Album "Snow" gelassen: 

"(...)Den Verriss könnte ich für den überambitionierten und deswegen ganz schön in die Hose gegangenen Nachfolger "Snow" schreiben, nach dessen Erscheinen Neal Morse seinen Hut nahm und die Band verließ. Da Verrisse aber stinklangweilig sind, lass ich's bleiben.(...)"

"Dass Neal Morse beim frühmorgendlichen Joggen eben jenes Licht sah und daraufhin die Band verließ ("And HE said to me: leave Spock's Beard!"), ist gemessen an der Qualität des letzten gemeinsamen, arg farblosen Konzeptalbums "Snow" (2002) zu verschmerzen.(...)"

Für mich war "Snow" bei seinem Erscheinen 2002 ein ähnlicher Tiefschlag wie das geradewegs kerzengerad' betitelte und 1998 erschienene "No Substance" von Bad Religion; beides immerhin Formationen, denen ich bis dahin ruhigen Gewissens attestieren konnte, noch niemals auch nur einen durchschnittlichen Ton veröffentlicht zu haben. Nun waren meine Lebensumstände im Herbst 2002 indes nicht die rosigsten, genau genommen waren sie gar ein rechter Scheißdreck: ich lag seit April desselben Jahres mit der schön metastasierten Mistsau Krebs in einem Wiesbadener Krankenhaus herum und balancierte monatelang auf dem manchmal erschreckend schmalen Grat, der Dies- vom Jenseits trennt. Und Timothy Leary wusste es schon vor 50 Jahren: Set & Setting! Nichts ist wichtiger als Set & Setting. Dann schauen wir uns das doch mal an: ein Krankenhauszimmer, ein Blasenkatheter, zwei Nasentamponaden bis kurz vors Kleinhirn geschoben, Trinkverbot bei 35°C Außentemperatur und eine glühend-brennende Infektion im Mund, dazu die neue, schlappe zweieinhalb Stunden dauernde Spock's Beard CD auf einem Aldi-Discman (!) -  now what the fuck could go wrong with that? Ich kann bis heute keinen Ton von der etwa im selben Zeitraum erschienenen Oasis-Platte "Heathen Chemistry" hören, ohne mich sofort im Kontrollraum der Intensivstation wiederzufinden - weswegen auch "Heathen Chemistry" mittlerweile aus der Sammlung verschwinden musste; ein Schicksal, das es sich mit der CD-Version von "Snow" teilen darf, die beide seit meinem großen CD-Verkauf aus dem Jahr 2009 nicht mehr zur Familie gehören. 

Trotzdem könnte ich für "Snow" auch ohne die genannten Begleitumstände in die Schublade mit den nicht ganz so schmeichelhaften Beschreibungen abtauchen: "Snow" ist frei nach Hape Kerkelings Beschreibung Norwegens nicht nur lang, sondern auch ganz schön weilig, dazu verkopft und ohne roten Faden, zu ernst, zu gewollt, zu unlocker. Der schlechterdings mit der unschön neoliberalen Vokabel "Alleinstellungsmerkmal" zu beschreibende Vorteil Spock's Beards gegenüber dem Gros der sonstigen Progressive Rock und -Metal Konkurrenz bestand schließlich bis dato darin, dass unsere kalifornischen Superhelden eben nicht so verkrampft klangen, als seien sie kollektiv schon seit 3 Monaten nicht mehr auf dem Klo gewesen. Niemand klang befreiter, smoother und leichtfüßiger als diese Truppe in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre - und wenn ich ganz ehrlich sein soll, sauste mir seitdem auch nichts vergleichbar aufspielendes durch das mittlerweile sicherlich abgesunkene Gehirnwasser. 

Die Frage drängt sich also auf: warum holt Herr Dreikommaviernull sechzehn Jahre später "Snow" aus der Versenkung, der eigenen zumal? Die Neigung zur Akkuratesse nötigt mich zum Hinweis, dass es sich um "Snow Live" handelt, eine im Rahmen des von Neal Morse in den USA veranstalteten und sogenannten "Morsefest" entstandene Liveaufnahme, zu der die Band in voller Besetzung auf der Bühne stand, um das Mammutwerk gemeinsam aufzuführen. Nun ist's so: noch immer finde ich mich in regelmäßigen Abständen auf meinen Knien (Knorpelschaden beiderseits - Danke, Leistungssport!) wieder, um den ersten fünf Spock's Beard Alben ein Trulala zu blasen (sic!), um mich zu berauschen, mich zu verlieren - und immer wieder aufs Neue zu verlieben. Musik kann das manchmal. Die Musik dieser fünf Wahnsinnigen schickt mich auch nach zwanzig Jahren und sicherfuckinglich TAUSENDEN Umdrehungen ihrer Alben immer noch zuerst in den Sternenring Jupiters und anschließend mit Karacho auf die Bretter. Noch heute breche ich ohne Übertreibung auch und ganz besonders körperlich immer kurz weg, wenn Gitarrist Alan Morse am Ende des "Day For Night" Rausschmeißers "The Healing Colors Of Sound" zu seinem Solo ansetzt. Was es darüber hinaus noch zu mir und meinem Verhältnis zu Spock's Beard zu sagen gibt, lässt sich hier nachlesen. Es wurde schließlich schon alles irgendwann und irgendwo mal gesagt. Wurde es nicht? Wurde es!

Jedenfalls: vor einigen Wochen war es wieder soweit. Ich hing erneut an ihrem Haken, hörte nur wenig anderes - da flatterte ein mit sattem Betrag ausgestatteter Gutschein des großen und bösen As zur Tür hinein, was mich traditionell zum großen und stundenlangen Plattenstöbern animiert. Ich kann nicht mehr genau sagen, was mich GENAU auf die Fährte brachte, aber plötzlich war die Seite geöffnet, die mir "Snow Live" [Vinyl LP] für schlappe 25 Euro feilbot - immerhin ein 3-LP Set aus dem Hause Metal Blade, einem Label, dessen Vinylpressungen bislang nicht nur qualitativ ohne jede Beanstandungen waren, sondern das auch immer auf einen fairen Preis acht gab. Wie die Geschichte weiterging, lässt sich anhand dieses Textes leicht erkennen. Denn: What the actual fuck could go wrong with that? 

Es ist sinnvoll, ehemals zusammengebastelte und teils über mehrere Jahre manifestierte Überzeugungen immer wieder zu hinterfragen - auch für den auf den ersten Blick irrelevant erscheinenden Kulturbereich - und neue Sichtweisen zuzulassen, die die über die Zeit mühsam zurechtgelegte Mär von der "eigenen Meinung" herauszufordern vermag. Und heute wäre es dann mal wieder so weit. 

Zwar ist immer noch nicht alles Gold, was glänzt: drei Viertel dessen, was sich auf der zweiten LP abspielt, ist in seiner Ernsthaftigkeit und partieller, pardon: Ziellosigkeit noch immer mit Vorsicht zu genießen und benötigt vielleicht mehr Aufmerksamkeit/Auseinandersetzung als gewohnt, "Freak Boy" ist sogar glatt ärgerlich und noch immer ist "Snow" ganz grundlegend viel zu lang geraten. Aber insgesamt ist dieses Live-Zeugnis viel erfreulicher, als ich die Studioversion in meiner getrübten Erinnerung eingesperrt hatte. Ich kann es mir und meinen dreikommavier Lesern so erklären:

1. Die LP-Version mit der Aufteilung über drei Schallplatten hilft der als problematisch wahrgenommenen Länge des Albums. So müssen jetzt nicht mehr zwei vollgepackte CDs durch- und also ausgehalten werden, ich kann mich viel mehr an einzelnen, kürzeren Platten abarbeiten und mal diese oder jene Seite hören und sogar direkt wiederholen, anstatt die als oller Album-Aficianado gepflegte moralische Verpflichtung einhalten zu müssen, DAS_KONZEPT und DER_RESPEKT verlange es, ein Konzeptalbum auch gefälligst so anzuhören, wie es erdacht und zusammengestrickt wurde: in einem Guss und mit über die vollen zwei Tage Stunden totaler Konzentration. Man ist manchmal schon recht behämmert. Neal Morse selbst hat mal in einem Interview zugegeben, dass er von einem seiner Leib- und Seelenalben, "The Lamb Lies Down On Broadway", einem Doppelalbum, nur die erste LP hörte, weil sie ihn derart fesselte. Das macht die Auseinandersetzung mit "Snow" also wenigstens mir etwas leichter.

2. "Snow Live" ist, Riesenüberraschung: LIVE! LIVE! LEBEN! LEBENDIG! LEBENDIGER! Es schwingt, springt, schlingert, tänzelt. Es lebt. Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde das deutlich anziehender als die Studioversion. Die sich manchmal etwas vorlaut gebenden Zuschauer und ihre prominent im Klangbild platzierten Reaktionen tun ihr Übriges - einen Umstand, den ich bereits auf ihrem Livealbum "The Official Live Bootleg" sehr zu schätzen wusste. Was sich hier nochmal nachlesen lässt. Vielleicht war das, wenigstens in der klassichen Besetzung Morse, Meros, Okumoto, Morse und D'Virgilio die beste Liveband, die ich jemals auf einer Bühne sah. Dass sie es möglicherweise immer noch sind, zeigen sie auch ohne das direkte Erleben und visueller Unterstützung auf "Snow Live". 

3. Set & Setting. Mit 41 Jahren als eineiiger Zwilling im Spießer-Golf mit bestem Freund als Ehefrau, quietschfidelem Kleintierzoo, geregeltem Einkommen und halbwegs positiver, weil kinderloser Zukunftsprognose, lässt es sich spürbar besser durch ein überlanges, schwerverdauliches Progressive Rock Album mit religiösen Untertönen gleiten, als hängt das Leben am seidenen Faden. Zudem, und auch das muss gesagt werden: die Spock's Beard-Truppe, die seit dem Weggang ihres Mentors immer noch regelmäßig irrsinnig unspannende und rigoros konventionelle Alben veröffentlicht, das religiöse Superhirn Neal Morse, ein Mann, der sich textlich mittlerweile für gar nichts mehr zu Schade ist und Eucharistiefeiern für suspektes Bibelvolk organisiert, sowie musikalisch plötzlich öfter Lactulose verschrieben bekommt als die superfrechen Progrock-Geronten um John Petrucci, die Transatlantic-Supergroup mit Schlagzeug-Amboss Mike Portnoy, der auch nach tausend kalten Wintern kein Feeling in seine Stahlpranken nebst -quanten mehr einschießen lassen wird: sie alle können die große, große, fucking große Lücke nicht schließen, die sich nach dem letzten wirklich großen Spock's Beard-Album "V" aufgetan hat. Vielleicht ist die Rückkehr zu "Snow", das Wiederentdecken, oder sei es nur: DAS Entdecken an und für sich, ein Versuch, diese Lücke in mir zu schließen. Spock's Beard ließen mich 2002 unerlöst zurück - und ich kann das angesichts der Wichtigkeit dieser Band so einfach nicht stehen lassen. 

Der Fairness halber sei es erwähnt: die Herzallerliebste, den Bärten über die ersten fünf Alben mindestens genauso verfallen wie meine Wenigkeit, findet "Snow Live" nachwievor ärgerlich und mit dem Verweis auf die schon damals nicht ganz astreinen Texte Morse', Zitat: "nicht schön". Die Schimpftirade, die sich jenem ursprünglichen Urteil anschloss, kostet bei Veröffentlichung drei Jahre ohne Bewährung - und muss jetzt klammheimlich dazugedacht werden. 





Erschienen auf Radiant Records/Metal Blade, 2017. 

27.10.2018

Manic Monday




THE BILL EVANS TRIO - ON A MONDAY EVENING


Immer wenn ich Musik von Bill Evans höre, sage ich laut zu mir selbst "Man muss viel öfter viel mehr Musik von Bill Evans hören." - und ich habe sogar Zeugen dafür; die Herzallerliebste nickt mir just in diesem Augenblick mit einigem Mitleid im Gesicht zu und ich bin mir nicht sicher, ob jenes Mitleid ihr oder mir gilt. Evans' hier gefeiertes Livealbum aus dem Jahr 1966 ist hingegen eine jener Platten, die man nur selten hört, weil man Angst davor hat, die Magie könne beim nächsten Hören umständehalber verschwunden sein - und damit auch die Bedeutung der Musik für's eig'ne Sein. Traut man sich dennoch alle Jahre mal, die Platte erneut abzuspielen, und sie, die Magie, steht immer noch strahlend vor der eigenen Erektion, tritt Gevatter Hypotonie ins Oberstübchen ein und löscht für die nächsten Jahre wieder das Licht. So lässt sich's auch mit schwerer Hirnerkrankung aushalten. 

"At Town Hall Vol.1" (entre-nous: ich warte seit fucking Jahren auf Vol.2) ist diesbezüglich eine kleine Ausnahme; die anderen Evans Platten im Schrank, und seit dem 2010 verfassten Textlein hat sich im Ikea-Holzschrott rein quantitativ auch etwas getan, sind gleichwohl brilliant, laufen aber nicht Gefahr, zu selten gehört zu werden. Ganz im Gegenteil. Der aktuelle Anwärter in dieser Reihe, das im Jahr 2017 veröffentlichte Livealbum "On A Monday Evening", läuft heute bereits zum dritten Mal durch die Rillen und angesichts der Geschichte und Hintergründe dieser Aufnahme scheint es eine gute Idee zu sein, mein nunmehr seit 2 Monaten andauerndes Schweigen zu brechen. Denn ähnlich wie im Falle des kürzlich veröffentlichten "neuen" Albums von John Coltrane ("Both Directions At Once - The Lost Album") wusste bis vor wenigen Jahren niemand von der Existenz dieses Mitschnitts. Evans, Eddie Gomez am Bass und Eliot Zigmond am Schlagzeug spielten am 15.November 1976 im Madison Union Theater an der Universität von Wisconsin und die beiden gerade mal 22 Jahre alten Radio-DJs der Fakultät Larry Goldberg und James Farber, die am vorangegangenen Tag noch ein Interview mit dem Pianisten führten, entschieden kurzerhand und instinktiv, das an einem Montagabend stattfindende Konzert mitzuschneiden. Die Aufnahmen gerieten in Vergessenheit und wurden erst 40 Jahre später bei Aufräumarbeiten wieder entdeckt. 

Das Trio Evans/Gomez/Zigmond gilt unter Kennern als wenigstens ebenbürtig mit Evans' populärster Besetzung zu Beginn der 1960er Jahr mit Schlagzeuger Paul Motian und Bassist Scott LaFaro, das sich kurz nach Evans' Beteiligung am Meilenstein "Kind Of Blue" formierte. Mit Eddie Gomez spielte Evans bereits seit 1966 zusammen, während Zigmond gerade einmal ein knappes Jahr vor diesem Abend in Wisconsin zur Band stieß. Leider hielt diese Besetzung nur kurze Zeit. So nahm das Trio mit "You Must Believe In Spring" im Jahr 1977 lediglich eine gemeinsame Studioplatte auf, die sogar erst nach Evans' Tod 1981 veröffentlicht wurde. Auch Liveaufnahmen sind rar, tatsächlich lassen sich die Spuren der drei Helden, abgesehen von obskuren und wenig offiziellen Radiomitschnitten, nur auf der autorisierten Zusammenstellung "The Complete Fantasy Recordings" nachvollziehen, einem Boxset mit nicht weniger als neun vollgepackten CDs, die tragischerweise nicht in der Vinylversion angeboten wird. Wer sich den digitalen Schinken nicht ins Regal wurschteln will, sollte mit einiger Geduld nach der 1989 nur in Japan erschienenen CD "The Paris Concert" Ausschau halten - es handelt sich um die selben 1976er Aufnahmen wie jene aus dem Boxset. Nur damit's niemand übersieht: Wir haben 2018 und auf einem Blog (!) werden CDs (!!) empfohlen. Bizarr.


Nicht zuletzt ob der Seltenheit von Tondokumenten aus jener Zeit sind Freunde des Pianisten und seinen Trioformationen angesichts dieses entdeckten Schatzes aus dem Häuschen. 

Einer der beiden oben erwähnten damaligen Radio DJs, James Farber, genießt heute einen exzellenten Ruf als herausragender Toningenieur und nahm sich der Restaurierung der Aufnahmen an. 




Nick Phillips liegt richtig mit seiner Einschätzung. Evans war vor allem für sein lyrisches, poetisches Spiel bekannt, für seine außerordentliche Tiefe im Umgang mit Harmonien. Auf "On A Monday Evening" ist all das zu hören, gleichzeitig aber mit bisweilen gar furios vorgetragener Dynamik. Die Geschwindigkeit, in der die drei Musiker miteinander interagieren, der sprühende Antrieb von Eliot Zigmond am Schlagzeug, das befreite Spiel von Eddie Gomez, über den ohnehin nicht wenige sagen, er sei in dieser Phase auf dem Höhepunkt seiner Kreativität gewesen, und der funkelnde Bandleader am Piano, der stets die Richtung vorgibt, ohne nach eigener Aussage autoritär sein zu wollen, machen "On A Monday Evening" zu einem besonderen Vergnügen. 

Evans hatte zu der Zeit dieses Konzerts zwar seine Heroinabhängigkeit überwunden, war aber dennoch bis zu seinem Tod kokainsüchtig und vor allem nach dem Selbstmord seines Bruders Ende der 1970er Jahre ein gebrochener und kranker Mann. Dass einer, der sich ausgerechnet zum Kokain hingezogen fühlte, zu solch atemberaubender Tiefe, Verletzlichkeit und Melancholie in seinem Spiel fähig war, macht mich jedes Mal aufs Neue sprachlos.

"On A Monday Evening" ist abgesehen von seinem historischen Wert als bislang unentdecktes Zeitdokument aus der Karriere eines großen Musikers eine tolle Momentaufnahme dieses Trios. 

Wir müssen alle viel mehr Bill Evans hören. 


 Erschienen auf Condord Records, 2017.

25.08.2018

Die Runkelrübe und der Wattegott




KILLING JOKE - PYLON


Audiophile Supersnobs können mich sowohl zum Lachen als auch zum Weinen bringen - ab und an ist sogar ein schöner Wutanfall drin, wenn die Voodootänze um bei Vollmond geschliffene Tonabnehmersysteme und mit aus dem Erdkern handdestilliertem (sic!) Edelgas gefüllte Lautsprecherkabel all zu hysterisch ausfallen. In den Discogs-Kommentaren zu "Pylon" des britischen Wave/Industrial-Flagschiffs Killing Joke wird die Soundqualität auf der Schallplatte, diplomatisch formuliert: bemängelt, und angesichts meiner zwar mit einigen, in dem noisigen Inferno der Tracks sowieso niemals wahrnehmbaren, Knacksern ausgestatteten, davon abgesehen aber tadellos klingenden Kopie frage ich mich durchaus bisweilen, ob der ein oder andere die derzeit ubiquitäre (und im Kern ja durchaus notwendige) Diskussion um schlechte Pressungen "wie vernagelt" (Polt) am Laufen halten muss und dabei die Musik wegen des ganzen HiFi-Kladderadatsch in den Hintergrund drückt. Schließlich gibt es ja auch noch so etwas wie Klang. Im besten Fall den eigenen, eigenständigen Klang einer Band. Kennt man heute gar nicht mehr, aber er existiert wirklich immer noch. Und er existiert ganz besonders bei Killing Joke. 

Denn "Pylon" hat wie alle Killing Joke-Alben der letzten 15 bis 20 Jahre einen sehr speziellen, zäh pumpenden, schmutzigen Sound, den man natürlich nicht mögen muss, der aber wenigstens für mich eine gewisse Faszination ausstrahlt, und der darüber hinaus auch für das Klangbild, ja: das Selbstverständnis und die Message der Band von großer Wichtigkeit ist. Ganz besonders der Gitarrensound ist eine Sensation, und wer den Beweis dafür benötigt, hört sich das gnadenlos dreckige Riffgebratze in "Dawn Of The Hive" an, das bereits für einige spitze Schreie im Casa Dreikommaviernull verantwortlich war. Ich darf außerdem feststellen, von der grundsätzlichen Qualität des Albums nicht unangenehm überrascht worden zu sein - und eigentlich habe ich "Pylon" nur deshalb kürzlich gekauft, weil ich die Vinylausgabe mehr oder weniger zufällig für schlappe 12 Euro im Regal stehen sah. Für eine seit 36 Jahren und außerdem aus absoluten Vollchaoten bestehende Band klingt "Pylon" nicht nur frisch, sondern auch erfreulich leidenschaftlich und aufrichtig. Selbst die Herzallerliebste ließ sich zu einem hörbar verblüfften "Ich find' die Platte eigentlich ganz gut?!" hinreißen. Und das können wir uns alle mal rot im Kalender anstreichen. 

Dabei kommt es besonders mir sehr entgegen, dass Jaz Coleman weitgehend auf seine geröchelte Runkelrübenstimme verzichtet und stattdessen mit seinem im pathologischen Sinne wahnsinnig klingenden Klargesang melodisch voll durchzieht. Höhepunkte sind in diesem Kontext die in der Schnittmenge von "poppig" und "ruppig" angesiedelten "Euphoria" und "Big Buzz", während sich der kaum aushaltbare Zynismus, der Zorn und die Unberechenbarkeit dieser Band und ihrer Protagonisten, am deutlichsten bei dem unbarmherzigen "I Am The Virus" zeigen, das wie eine Nilpferdfamilie über sämtliche Nervenstränge hinwegtrampelt, wenn es einen auf dem falschen Fuß erwischt. 

Nun habe ich mich seit Jahren von Veröffentlichungen dieser Band absichtlich ferngehalten, weil ich ihr, Achtung, Achtung: persönliche Wahrnehmung ungleich universelle Wahrheit, dieser Blog ist irrelevant, bitte keine Morddrohungen schicken, lieber im 3.Welt Laden ein Pfund Kaffee kaufen! - Ranschmeißen an die Kuttenmetallerfraktion ehrlich gesagt ziemlich eklig fand und ich weiß auch nicht, ob ich als Rosaplüschkönig mit glitzernden Bommelschuhen aus reiner Watte künftig wirklich oft Lust auf solche Musik haben werde, aber für den Moment und bei einer Affenhitze, die mir das Resthirn zunächst wabbelig kocht und anschließend förmlich 'rauskondensiert, habe ich viel Spaß mit "Pylon" - ganz bestimmt mehr, als ich zunächst dachte. 




Erschienen auf Spinefarm Records, 2018.

12.08.2018

Die Heavy Metal-Ursuppe (1)




BENEDICTION - TRANSCEND THE RUBICON


Ich war nie der allergrößte Death Metal Fan, auch wenn ich die Initialzündung der sehr erfolgreichen zweiten Welle zwischen 1989 und 1993 live mitbekam und mich die Alben von Death, Atheist, Morbid Angel und Obituary aus jener Zeit sehr begeistern konnten. Als 1993 die Briten Benediction mit "Transcend The Rubicon" um die Ecke kamen, konnte ich diesen exklusiven Kreis um +1 erweitern. Trotz der mittlerweile zentimeterdicken Patina, ist das immer noch eine besondere Platte für mich: zum einen besuchte ich im Herbst 1993 in Begleitung meines Bruders das erste Death Metal Konzert meines Lebens mit den gerade erfolgreich werdenden Cemetary, den genialen Techno-Death Fummlern von Atheist und eben dem, neben Bolt Thrower, zweiten Aushängeschild des britischen Death Metals Benediction im nur zwei Jahre später geschlossenen "Negativ"-Club in Frankfurt, zum anderen besaß ich damals ein sehr schickes Longsleeve mit dem Albumcover als Motiv und wurde damit im Jahrbuch meiner Schule, neben einer supercoolen und Ernte 23 (!) rauchenden Ramones-Punkerin stehend, fotografiert - mit einer eigentlich verboten aussehenden Frise, die vorne an Roland Kaiser und hinten an Rudi Völler erinnerte. Das Foto ist wie eine Zeitreise in den grauen und verregneten Alltag im Herbst/Winter 1993, und während ich mich dank der mich aktuell völlig überfordernden Lohnarbeit nicht mehr an das erinnern kann, was vor 2 Wochen war, gelingt es mir überraschend gut, mir manchmal den Geschmack der Luft aus dem Schulgebäude oder mein damaliges Lebensgefühl zwischen Heavy Metal, Grunge, Roll- und Eiskunstlauf und der glatten 5 aus der Abiturprüfung in Chemie wieder zu holen. "Transcend The Rubicon" war in dieser Zeit mein fast täglicher Begleiter und ist daher sehr eng mit mir und meinem Leben verbunden. Eigentlich auch eine Art persönlicher Meilenstein. 

Meine Blank When Zero-Buddies Simon und Marek schenkten mir den gleich doppelt colorierten  (gold/orange) und mit einem schicken Etching auf der D-Seite versehenem Vinyl-Reissue erst kürzlich zum Geburtstag, und das Wiedersehen war mächtig: konnten mich die Frühwerke der Band nie so recht begeistern, stimmt auf "Transcend The Rubicon" fast alles, was in erster Linie an drei Faktoren liegt: (1) die Stimme von Dave Ingram (später auf Bolt Throwers "Honor Value Pride" zu hören) ist böse, aber seltsamerweise gar nicht unangenehm oder reißerisch auf extrem getrimmt, (2) die Riffs sind eine Mischung aus der typisch schrägen Oldschool-Herrlichkeit, leichten Punk/Hardcore Vibes und einem schwer walzenden Groove, der bisweilen gar an die Anfänge des sich damals gerade entwickelnden Groove Metal erinnert - in Perfektion zu bestaunen bei "Nightfear", "I Bow To None" und "Blood From Stone" und (3) die Songs sind ultrakompakt und catchy, ohne dabei gleichzeitig ultrastumpf zu sein. Außerdem ist "Transcend The Rubicon" eine Blastbreat-freie Zone, was den sehr eindrücklichen Groove der Songs weiter verstärkt. Viele der alten Death Metal-Klassiker aus dieser Zeit wirken heute, abgesehen von den durchaus immer noch extremen Stimmen, seltsam schaumgebremst und altbacken, vor allem, wenn heutige sowohl Produktions- als auch Spieltechnikstandards zum Vergleich herangezogen werden - und auch Benedictions beste Platte kann sich gegen den Zahn der Zeit nicht wehren. Wer das heutige Death Metal-Niveau gewohnt ist und "Transcend The Rubicon" zum ersten Mal hört, wird nur schwerlich nachvollziehen können, wie bemerkenswert sowohl die Entwicklung der Band im Allgemeinen als auch dieses Album im Speziellen in der Ursuppe des Death Metal waren. 

Benediction selbst konnten an diesen Klassiker nicht mehr anknüpfen, wenngleich der damit erzielte Durchbruch der Grundpfeiler für den Erfolg in den folgenden Jahren, eigentlich bis zum Ausstieg von Dave Ingram nach dem 1998er Album "Grind Bastard", sein sollte. Zwar existiert die Band heute noch, sie spielt auch relativ regelmäßig Shows und Tourneen und kündigt sogar seit längerem ein neues Album an, aber angesichts von nur zwei Alben in den letzten 20 Jahren, muss man wohl annehmen, dass die Luft einfach raus ist. Wer ein Teil britischer Death Metal Geschichte hören möchte und das bislang nicht getan hat: die neue Deluxe-Vinylausgabe zum 25.Geburtstag des Albums klingt gut, sieht gut aus und ist mit der liebevoll detaillierten Aufmachung im Glossy-Gatefold-Cover mit Texten und Fotos alles andere als nur ein schneller Cash-In, sondern viel mehr ein standesgemäßer Tribut an ein tolles und wichtiges Album. 




Erschienen auf Nuclear Blast, 1993. 


05.08.2018

All One Tonight




MARILLION - ALL ONE TONIGHT


Fans von Marillion sind bisweilen ein seltsames Völkchen. Die Diskografie der Band auf dem Plattensammler- und Plattenverkaufsportal Discogs listet aktuell nicht weniger als 142 Alben auf - und obwohl das Quartett auf eine beinahe vierzigjährige Karriere zurückblicken darf, die sicherlich nicht in erster Linie von Däumchendrehen und Tee trinken geprägt war, erscheint die stattliche Anzahl ein wenig irreführend: die loyale Handvoll Bekehrter, die der Band seit Jahrzehnten nicht nur aus der Hand frisst, sondern sie auch mittels eigenständig durchgeführter Internetpromotion ein wenig mehr in den musikgesellschaftlichen Fokus rücken und damit auch gleichzeitig das eigene Ego ein wenig streicheln möchte, hat also ganze Arbeit geleistet und wirklich jede noch so obskure Zusammenstellung und Liveaufnahme der über die geschäftlichen Hauptquartiere Racket Records, Intact Records und Front Row Club vertriebenen CDs in der Diskografie als Album geführt, hinzu kommen außerdem Bootlegs und BBC Radiomitschnitte, deren Aufnahmedatum in den Kommentarspalten auch noch rührselig korrigiert werden. Das passiert sicherlich und ausschließlich mit den allerbesten Absichten, ist einerseits lohnenswert für die Komplettisten in uns, die dieses eine Rothery-Lick von dieser raren Budapest-Liveaufnahme unbedingt auf eine Plastikscheibe gebrannt haben möchten, andererseits völlig überwältigend und unübersichtlich für fast alle anderen. Wer in dieses Rabbit Hole tatsächlich reinkrabbelt und sich die gelisteten Veröffentlichungen etwas genauer anschaut, stellt schnell fest, dass Liveaufnahmen integraler Bestandteil des Marillion'schen Selbstverständnisses sind. Die Anzahl ist Legion, und der Eindruck, die Band habe von jedem ihrer Konzerte in den letzten 40 Jahren mindestens sieben verschiedene Albenveröffentlichungen geschnitzt, wird plötzlich sonderbar real. Aber wer das alles kauft? Und wer das alles hört? Ich sagte doch: es ist ein seltsames Völkchen.

Selbst mit den offiziellen und also im regulären Handel erhältlichen Livealben wird es für das weniger gut organisierte Oberstübchen unübersichtlich und spätestens bei den zahllosen Versionen eines einzelnen Titels zerfällt wenigstens mein Dachgeschoss in Mikropartikel. In den letzten Jahren begeisterten mich aus dieser Kategorie immerhin zwei Aufnahmen so ausgeprägt, dass sie seitdem im heimischen Plattenschrank stehen und - entgegen des immer wieder vorgetragenen Einwands, man könne das ja eh niemals im Leben alles hören, aber stattdessen alles mal schön einstauben lassen - ziemlich regelmäßig auf dem Plattendreher und in der Playlist landen: "Marbles On The Road" und "A Sunday Night Above The Rain" sind exquisite, auf jeweils 3 LPs verteilte Liveaufnahmen, und ja, ich muss es zugeben: diese eine Version von "Montreal" - holy fucking shitballs, die sollte man gehört haben. Um Missverständnissen vorzubeugen: es ließe sich hier nachlesen, dass ich dem Song vor sechs Jahren nicht sonderlich zugetan war. Jetzt weiß ich: "I was wrong." (Mike Ness) 

Dass nun im Jahr 2018 selbst die allergrößten Die-Hard Fans das aktuelle Werk "All One Tonight" als bestes Livealbum der Band seit dem Urknall feiern, lässt zunächst aufhorchen; bei genauerer Betrachtung ist indes kein anderes Urteil möglich. Die Band spielte nach dem überraschenden Erfolg ihres letzten Studioalbums "F.E.A.R." mit seinem Top Ten-Charteinstieg im Vereinten Königreich, in der nicht nur altehrwürdigen, sondern auch restlos ausverkauften Royal Albert Hall und das ist denkwürdig genug: dort, wo sich sonst nur die richtig Großen die Klinke in die Hand geben, die Roger Waters', die Brian Mays, die Robert Plants, kommen Marillion-Fans aus der ganzen Welt angereist, um das beeindruckende Gemäuer mit Licht, Liebe und Musik zu füllen. Ich möchte nicht respektlos klingen, aber Marillion galten allerspätestens ab Mitte der 1990er Jahre und der Trennung von der EMI nicht gerade als kommerziell attraktiv oder vielversprechend und segelten mit den in Eigenregie organisierten Crowdfunding-Kampagnen und derart finanzierten Albumveröffentlichungen nebst selbstständig gegründeten und geführten Labels unter dem Radar des Mainstreams - manchmal sogar unter dem Radar des Undergrounds. Das Ergebnis: eine außerordentlich enge, vielleicht einmalige Verbindung zu ihren Anhängern - die sich wenig überraschend in den zweieinhalb Stunden dieses auf sage und schreibe 4-LPs verteilten Mammutprogramms in voller Pracht zeigen darf. Die Publikumsreaktionen lassen das Dach der Royal Albert Hall abheben und wer via BluRay/DVD/Youtube in die Gesichter und auf die Körpersprache der Band schaut, die angesichts der Begeisterungsstürme und ob der schieren Tatsache, dass sie tatsächlich und nach vierzig Jahren zum ersten Mal in der verdammten Royal Albert Hall spielen dürfen, erkennt die Einzigartigkeit dieses Abends, dieser Band und ja: auch dieser Fans. Als konkretes Anschauungsobjekt möchte ich auf das weiter unten eingebettete Video von "Go" und auf die Szenen ab Minute 4:55 Minuten verweisen. Die Herzallerliebste und ich überbieten uns praktisch fortwährend mit den über uns schwappenden Gänsehautattacken.

Über das in Gänze aufgeführte "F.E.A.R." habe ich mittlerweile schon genug Lobeshymnen geschrieben, und ich könnte mich auch knapp 2 Jahre nach der Veröffentlichung nur wiederholen - es bleibt eines der drei herausragenden Alben ihrer Karriere und der damit erreichte Erfolg gibt Anlass zur Hoffnung, dass doch noch nicht alles verloren ist. Der zweite Teil des Abends besteht aus bekannten Bandklassikern wie "Afraid Of Sunlight", "The Space", "Easter" oder "Neverland", die mit der Unterstützung eines kleinen Orchesters aufgeführt werden und glücklicherweise nie überarrangiert in die Kitschfalle aus dem Hause Rondo Veneziano plumpsen, sondern dank der sehr behutsam in die Songs eingepassten Orchestrierung zwar voluminöser und einen Tacken melancholischer klingen, aber nie den eigentlichen Spirit aus dem Kern der Komposition verlieren. Unter normalen Umständen wird "All One Tonight" künftig in einem Atemzug mit "Live & Dangerous", "Live At The Apollo", "At Folsom Prison", "It's Alive" oder "Made In Japan" genannt. Nur: was ist heute noch normal?

Nun ist Herr Dreikommaviernull grundlegend ziemlich nah am Wasser gebaut und es ist nicht ungewöhnlich für mich, von Musik so tief berührt zu werden, dass mir selbst in der Öffentlichkeit die Tränen über die Wangen laufen. Es gibt beispielsweise die Heart-Coverversion von Led Zeppelins "Stairway To Heaven" aus dem Kennedy Center, bei der ich in den letzten dreieinhalb Minuten - völlig egal wo ich bin, wie es mir geht, was ich gerade denke und/oder mache - _IMMER_ Rotz und Wasser heulen muss und es also dem ebenfalls sehr gerührten Robert Plant gleichtue - obwohl mir Led Zeppelin weithin am Gesäß vorbeigehen und am Ende des Videos außerdem ein paar Rockstars auf der Bühne stehen, die sich meinetwegen besser einmauern sollten, aber ich kann mich selbst angesichts dieser "abominations unto the lord" (John Oliver) einfach nicht dagegen wehren, emotional fast zerrissen zu werden. Als ich in der vergangenen Woche in meiner Rolle als professioneller Businesskasper im ICE nach München saß und mir mit "Neverland" das schönste Lied der Welt ins Schallgesims gedrückt wurde, rächte sich mal wieder die Entscheidung, keine Papiertaschentücher ins Reisegepäck aufgenommen zu haben. Wie soll man sowas aushalten?

Manchmal erscheint das alles zu groß, wichtig - überlebenswichtig! - und heilend, um es darüber hinaus in Worte oder auch nur Gedanken zu kleiden. 

Manchmal ist es besser, es einfach so im Raum stehen zu lassen: Das ist die beste Band der Welt. 




Erschienen auf Ear Music, 2018.

30.07.2018

Stone Cold Dub



SLY & ROBBIE, NILS PETTER MOLVAER, EIVIND AARSET & VLADISLAV DELAY - NORDUB


Glaubt man erst, wenn man es hört: die Jamaikanischen Dub-Kings Sly & Robbie, den besser informierten noch aus ihrer großen Phase mit der noch viel größeren Grace Jones bekannt, haben sich mit den norwegischen Trompeter Nils Petter Molvaer und dem Finnen Vladislav Delay zusammengetan - den letztgenannten kennen die noch besser informierten möglicherweise noch aus genau diesem Blog, der Delays Album "Whistleblower" vor 11 Jahren mal auf ein ziemlich weit gespanntes Hochplateau nagelte. Der Norweger Eivind Aarset bedient zusätzlich die Gitarre. 

Ich glaube es mittlerweile, und ich kann es bestätigen: das Hören dieser Musik hilft dem Verständnis tatsächlich nachhaltig auf die Sprünge. Was zunächst und mit viel Optimismus nach wenig mehr als einem Gimmick klingt, nach einer fixen Idee von cleveren Marketingmanagern halbgroßer Plattenfirmen, die aus der aufgespannten Exotik und der zu erwartenden Provokation der Pleistozän-Jazzer, die bereits bei Kamasi Washingtons "The Epic" einen deutlich wahrnehmbaren Engpass in der zerebralen Sauerstoffzufuhr erleiden mussten, einen kommerziell erfolgreichen "Szenediskurs" (Bushido, nach dem Schlaganfall) erwarten, blättert bei der aufmerksamen Auseinandersetzung mit "Nordub" zwar nicht im Handumdrehen, aber wenigstens kontinuierlich immer weiter ab. Die zunächst imaginierte Scharade löst sich am einfachsten, indem man die so liebgewonnenen Schubladen mit achtfachem Panzertape umwickelt und damit gar nicht in Versuchung kommt, die beiden Fixpunkte Dub und Jazz krampfhaft in die Hirnkamera zu halten und miteinander aufzulösen - das ist nicht immer einfach, weil beide Seiten sehr viel Aufmerksamkeit in dieser Musik einfordern, weniger drängelnd als selbstverständlich - aber durchaus getrennt vom Gegenüber und nur selten als eine echte Verbindung. Die Musiker lassen zur Unterstützung der angedachten Amalgamierung viel expandierenden Raum durch das Album fließen, ziehen die dichten Drum'n'Bass-Kaskaden aus Jamaika wie Kaugummi über Delays teils barock anmutende Avantgarde, lassen Molvaers Trompete einen tiefen Zug durch kristallklares und eiskaltes Wasser nehmen, durch Gebirgsketten und am Horizont diffundierende Wolken schrapnellen. Das ist vielleicht das beeindruckendste Merkmal dieser Platte: der Versuch, die hypnotisierende Kraft der Monotonie mit der neutralisierenden Macht der Klarheit und der Distanziertheit zu verbinden. Improvisation trifft auf eine geradewegs bodenlose Sturheit, freies Spiel auf Verdichtung im Bassgestrüpp.

Dabei hilft die Vogelperspektive: there is no dub, there is no jazz, there is no ambient. "Nordub" ist weniger Endstation als Entwicklung, mehr Mut als Zurückhaltung. Es erzählt mehr vom Forschen und Scheitern, weniger vom Interieur eines Refugiums für eine Horde Zyniker. Und ab genau jener Erkenntnis wird "Nordub" plötzlich interessanter als gedacht. 




Erschienen auf Okeh Records, 2018.


07.07.2018

Hotel Neon - Means Of Knowing



HOTEL NEON - MEANS OF KNOWING


Pflastersteine aus Eis. Wischen und rutschen durch den darunter liegenden Sand, den Schlick. Vermischen sich, werden eins. Sie funkeln. Das Licht bricht sich an ihren Kanten und es scheint, als würden sich kleine Glühwürmchen aus gefrorenem Wasser in die Luft schwingen, als Überlebende für einen Tag und eine Nacht. Die Netzhaut bitzelt. Die eiskalte Luft schmerzt beim Einatmen. 

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Hotel Neon ist ein Ambienttrio aus dem US-amerikanischen Philadelphia. Die drei Musiker sind kein reines Studioprojekt, sondern spielen als Band ihre Version von Ambient auch live auf der Bühne, mit Gitarren und Bässen und Synthesizern. Mal fanfarengleich, hymnisch, bebend, mal (meistens) subtil schimmernd und lebhaft reflexiv mit großer Klarheit.

Ihr Ansatz erinnert mich bisweilen an die Australier Seaworthy, ebenfalls ein Trio, die ihr Klangbild in ähnlicher Weise mit analogen Instrumenten zu einem sehr direkt erfahrbaren Erlebnis entwickeln - und die alleine dadurch zu jener Gruppe Musiker gehören, die ihren Klang durch jahrelanges Schärfen, Modellieren und Verkanten so einzigartig gestalteten. Ich kam nicht umhin, mich bereits nach wenigen Sekunden des Titelsongs anerkennend in die watteweiche Couchlandschaft zu kuscheln, weil mich die Raffinesse in diesem Sound, wie es mir auch bei den Werken Stephan Mathieus ergeht, jedes Mal aufs Neue fasziniert. Wenn Gil Scott-Heron sagt, es gäbe sehr wohl diesen einen (richtigen) Weg, das erste Erleben neu erworbener  Musik sehr bewusst und völlig frei von jeder erdenklichen Störung zu genießen, dann nimmt "Means Of Knowing" wenigstens mir die aktive Entscheidung, Türen und Fenstern zuzumauern und das Smartphone ins Klo zu pfeffern, just mit der entwaffnenden Schönheit seines natürlichen, mit Field Recordings zillionenkilometerhoch aufgetürmten und doch flächigen, transparenten Sounds ab.

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Und dann kommt die Wärme. Verschlingend und verzehrend. Aufopferndes Kämpfen wird niemals belohnt. Doch während das Rinnsal vergangenen Glanzes zu moralischer Trauer zu gerinnen droht, ist im Vergangenen ein neuer Glanz von Aufbruch, von Erneuerung zu spüren. Erkenntnis, Erfahrung, Erleuchtung. Es nimmt nie ein Ende. Alles nimmt nie ein Ende. Wenn das nicht tröstet - was dann?





Erschienen auf Archives, 2018.


10.06.2018

Tout Nouveau Tout Beau (20)




SUBMOTION ORCHESTRA - KITES

Das Septett des Submotion Orchestras fliegt schon eine ganze Weile auf meinem Radar umher, aber außer einem Track-Download aus ihrem Album "Color Theory" aus dem Jahr 2016 fand bislang nichts aus ihrem Oevre den Weg in die Sammlung. Dabei ist ihre Musik im Prinzip wie gemacht für mich: großartige Stimmen, die sich auf einem Bett aus organischer Elektronik, Jazz, Trip Hop und Downtempo entfalten können wie die Rose von Jericho beim Wasserkontakt, Tiefgang, Emotionalität - what's not to like? Das gilt freilich in erster Linie für lauschiges Klönen auf der Sommerterrasse oder für den einsamen Winterabend unter dem Kopfhörer, will sagen: für die Einkehr, die Introspektion, die Melancholie, die Theatralik. Clubabende bei Biermixgetränk und dem Willen zur größten Party der Welt dürften mit "Kites" nicht so supergut laufen. Andererseits: aus dem Alter bin ich ja eh raus, manch einer wird sagen, ich war nie drin. Ich bin eher der Typ, der sich um halb elf am Abend mit einem starken Kaffee auf die Terrasse setzt und die Gedanken an der langen Leine ins Gebüsch pinkeln lässt.

Ein Wort der Warnung für Anhänger von Vinyl: die LP-Version ist zwar für heutige Verhältnisse relativ günstig in der Anschaffung, aber dann wegen einer nicht optimalen Pressung (Schleifgeräusche und Pops), die auch nach einer eindringlichen und mit allerlei verbalen Schmähungen durchgeführten Plattenwäsche mit einer Okki Nokki nicht signifikant besser wird und einer Nullaufmachung (dünne Pappe, schäbiges Standardinlay, keine Credits, keine Texte, keine Fotos) leider doch sehr enttäuschend.










ANGOPHORA - SCENES

Kann sich noch jemand an das großartige Debutalbum von Tornado Wallace aus dem letzten Jahr erinnern? Ich schrieb zu "Lonely Planet" zu Jahresbeginn:"Knappe 40 Minuten pure Schönheit, Eleganz und Lushness: "Lonely Planet" ist ein mystisch-vernebelter Soundtrack für die Entdeckungsreise auf einer unbewohnten und halb versunkenen Insel im Indischen Ozean". Der Ansatz vom ebenfalls aus Australien stammenden Produzentenduo Angophora ist sehr ähnlich, aber weniger opulent als jener von Lewis Day, der für sein Debut das volle Stil- und Ästhetikregister der 1980er Jahre zieht und es sogar schaffte, Erinnerungen an die immer noch unerträglichen Dire Straits zu wecken. Angophora sind etwas weniger verspielt und stattdessen kühler unterwegs, lassen mich aber immer noch um die volle Breitseite Schulterpolster und rosa Neonröhrenlicht betteln. Und die bekomme ich auch. "Scenes" ist naturverbunden, schwül, deep. Der Soundtrack zum Ficken im Urwald.

Sehr gute Pressung, sehr guter Sound, schönes Artwork - Abzüge gibt es aufgrund der sehr dürren Ausstattung (weißes Standardinlay, sonst nichts) nur in der B-Note. On the bright side: "Scenes" ist schön günstig.









WARRIOR SOUL - BACK ON THE LASH (AMERICAN IDOL)

Ich habe auf diesem Blog ungefähr 8 Millionen Mal über eine meiner erklärten Lieblingsbands sowie einen meiner erklärten Lieblingssänger und -texter, Warrior Soul und Kory Clarke, geschrieben - und ich habe es mir angesichts der im letzten Winter veröffentlichten neuen Platte "Back On The Lash" verkneifen können, den vorangegangenen acht Millionen Artikeln einen weiteren folgen zu lassen. Mit Verrissen habe ich es nach wie vor nicht so richtig dicke, und das schreibe ich in voller Anerkennung des Verrisses zum Album "Stiff Middle Finger" aus dem Jahr 2012, aber manchmal geht es einfach nicht anders. Für "Back on The Lash" war eigentlich nichts dergleichen vorgesehen, schließlich kann bereits ein zweiminütiges Testhören eine genügende Auskunft darüber geben, ob Kory nochmal die Kurve bekommen hat. Und weil er es ganz offensichtlich nicht geschafft hat, blieb es also bei ebenjenen zwei Minuten. Das war eigentlich alles, was über diese Platte geschrieben werden muss.

Nun hat mir Livewire/Cargo allerdings eine Karotte in Form einer Vinylversion vor die Nase gehängt und die auch noch mit allerlei bells & whistles aufgehübscht: ein alternatives Coverartwork mit dem neuen US-amerikanischen Superhelden "Orange Sphincter", ein neuer Titel, goldenes Vinyl, limitierte Auflage von 500 Stück. Und so wurden aus den 2 Minuten Testhören gleich zwei Komplettumdrehungen auf dem Plattenteller. Mein Eindruck hat sich trotz der etwas eingehenderen Beschäftigung nicht signifikant geändert: Clarke's Mojo ist nach dem immer noch großartigen "Chinese Democracy/Destroy The War Machine" ziemlich von der Bahn gerutscht: Die Backing Band hat nur noch Kreisliganiveau, was für einen alten Fan vor allem live ganz besonders hart werden kann, der Sound ist uncool unfertig (es gibt auch cool unfertig, aber das passt hier nicht), die Musik lässt jeden Hauch von Tiefgang auf dem Trockendock und die Texte sind selbst für US-Amerikanische Die Hard-Fans nur durch aktive Ignoranz aushaltbar. Die Herzallerliebste bezeichnet "American Idol" als "alkoholischen Assopunk" und die einzig vorstellbare Situation, dieser Platte doch noch mit geraisten Fists'n'Pimmels zu begegnen, wäre folgerichtig ein Alkoholpegel von mindestens 2 Promille - da ich mittlerweile und mangels Übung schon nach zwei Gläsern Gin Tonic die weiße Flagge schwenken muss: not going to happen. Es bleibt in erster Linie: Ratlosigkeit.

Pressung und Ausstattung dieser Vinylausgabe sind allerdings top.




04.06.2018

Mind: Blown

Da musste ich mich erst neulich von einem, man muss es so deutlich sagen, eher übersichtlich veranlagten Zeitgenossen darauf hinweisen lassen, dass ich ja tatsächlich einen Blog betreibe - den despiktierlichen Unterton, damit im Jahr 2018 ja ungefähr so cool zu sein wie der olle Otto-Witz mit dem pinkelnden Eskimo, habe ich wohl wahrgenommen, viel schlimmer war aber die dadurch ausgelöste Erinnerung daran, wie lange hier schon wieder nichts passiert ist. Denn: mit uncool sein kenne ich mich aus, ich hatte beinahe 41 Jahre Übung darin und gebe immer noch keinen fickenden Fick; während es mit Disziplinlosigkeit und trotz aller zur Perfektion getriebenen und seit Jahrzehnten gepflegten Prokrastination etwas schwieriger wird.

In der Zwischenzeit wird aber jede Disziplin von der Lohnarbeit aufgesaugt, was zu solch absurden Entscheidungen führt, an einem Sonntag und bei 35°C doch lieber mal sechs Stunden am Arbeitsrechner zu verbringen, anstatt unter dem auf der Terrasse aufgespannten und freilich ausschließlich für den sensiblen Ehemann erworbenen und also lästige Mücken abhaltenden Fliegennetz zu sitzen, oder die klassischerweise rund um den eigenen Geburtstag genommene Urlaubswoche, wie bestellt ausgerechnet am Ehrentage, für eine quadratbekloppte Fahrt nach Köln zu unterbrechen, weil da jemand im Anzug etwas von mir will, und sei es nur, mir den Hintern zu versohlen, verbal versteht sich. Dass der Hirnkasten angesichts dieser Monstrositäten zwischendrin lieber die Notbeleuchtung anknipst, bon - aber ich darf wenigstens feststellen, dass ich damit immer noch Schwierigkeiten habe. Habe im Dunkeln so oder so oft Angst.

Die hier seit Monaten feierlich und mit einigem Remmidemmirapimmelrapammelrapumm angekündigten Ideen müssen sich also noch etwas gedulden, und ich bin mittlerweile auch nicht mehr so bescheuert, hier noch weitere Versprechen i.S.v. "hier geht's ganz bestimmt bald wieder weiter" hinaus zu trompeten. "Es kommt, wie es kommt!" wusste schon das Stückchen Dönerfleisch im Oberlippenbart von Wolfgang Niedeken, wo wir es doch eh gerade von Köln hatten.

Bevor ich zum eigentlichen Punkt komme, eine Einlassung vorab: ich schaue/höre seit einigen Wochen sehr regelmäßig den Joe Rogan Podcast auf dessen Youtube-Kanal. Rogan ist für mich aus einem ganz speziellen Punkt inspirierend: er passt in keine meiner vorgefertigten Schubladen und fordert mich dazu heraus, mal ein paar Schritte zurückzugehen und die durch meinen nunmehr zwanzigjährigen Internetkonsum etwas verkrüppelten Empathieantennen wieder zu polieren (kein Euphemismus!). Rogan vertritt in der Hauptsache liberale Standpunkte, gehört aber trotzdem nicht zum Hollywood-Establishment: Er ist Jäger und zählt sich zu der "Eat What You Kill" Bewegung und würde mir unter normalen Umständen durch jedes vorhandene Raster in den großen "Arschloch!"-Sack plumpsen. Andererseits ist er offener Nutzer von Marihuana und setzt sich für die Legalisierung ein. Er ist Martial Arts-Experte. Spirituell, aber mit Religion nix an der Frisur. Eigentich ist Rogan eine Mischung aus einem mit den eigenen Vorurteilen vollbeladenen Ami-Redneck-Klischee und einem sehr wachen, offenen, lebensbejahenden und bewussten Geist. Wie soll das alles zusammenpassen? Ich stimme ganz sicher nicht immer mit ihm überein, aber es kann eine sehr befreiende Wirkung haben, wenn man beginnt festzustellen, dass man das nicht muss.

Wie dem auch sei, ich kann es sehr empfehlen - auch seine Interviews mit Paul Stanley von Kiss und James Hetfield von Metallica waren überragend interessant und ich habe sie vollständig angeschaut. Und ich bin nicht mal Fan von Kiss. Oder von Metallica.

Warum das alles jetzt, hier und heute genannt wird: Rogan hatte im November 2017 den Wissenschaftler Paul Stamets in seinem Podcast zu Gast. Stamets ist ein in den USA nicht unbekannter Mykologe - die über 2.2 Millionen Views seines Auftritts im Rogan-Podcast alleine auf Youtube könnten dafür gesorgt haben, dass er mittlerweile sogar noch etwas bekannter wurde.

Ich kann und will hier nicht im Detail auf das Gespräch eingehen, außer, dass ich das Interview mittlerweile schon drei Mal gehört und gesehen habe. Ich möchte am Ende eigentlich nur sagen: diese zwei Stunden werden euer Mind blowen. Und zwar die ganze fucking Zeit.