BILL EVANS TRIO - AT TOWN HALL
Es ist Zeit, ein paar Hosen fallen zu lassen. Erstens: das ist meine erste Bill Evans-Platte und zwotestens hatte ich bisher, aus welchem Grund auch immer, nie das dringende Bedürfnis, diesen Zustand zu ändern. Drüttens: Ich habe von Jazz eigentlich keinen sitzen, aber mir gefällt's halt. Das war vermutlich das offensichtlichste Bekenntniss des Dreierpacks.
Ich glaube fast, dass ich in den letzten Jahren immer dachte, Bill Evans' Musik sei mir nicht wild oder lebendig genug, und dass ich unbedingt diesen total crazy Freejazz-Shit brauche, mit all dem Krach und all dem Chaos. Mittlerweile schließt das eine das andere nicht mehr aus: Mir wurde kürzlich "At Town Hall" wärmstens ans Herz gelegt, eine toll aufgemachte Wiederveröffentlichung des ursprünglich 1966 erschienenen Albums auf schwerem Vinyl im aufklappbaren Cover und da konnte ich einfach nicht widerstehen. Um es kurz zu machen: das waren vielleicht die am besten investierten 20 Euro des Jahres.
Zusammen mit Bassist Chuck Israels und Schlagzeuger Arnold Wise schwebt, tänzelt und fließt er durch vier Kompositionen, darunter der Standard "Spring Is Here" und entfacht dabei ein Feuer der Kommunikation mit subtilen Zwischentönen und betörenden Betonungen, das speziell unter dem Kopfhörer eine Magie entwickelt, die mich geradewegs an der Anlage festkleben lässt.
Absolute Sternstunde des Albums ist die Soloperformance "Solo - In Memory Of His Father", seinem zwei Wochen vor dieser Aufnahme verstorbenen Vater gewidmet. Evans hatte die Wahl, angesichts der tragischen Situation dieses Konzert abzusagen, oder trotzdem zu spielen, und er entschied sich für letztere Option. Das Resultat ist ein 13-minütiges Opus, das er exakt in diesen zwei Wochen entwickelte; Kernstück ist die Sektion, die sich später zu dem Titel "Turn Out The Stars" entwickeln sollte. Kenner sind sich einig, dass Evans es später nie wieder schöner und wärmer spielte als auf dieser Aufnahme. Lässt man die umwebenden Improvisation beiseite, kämen die meisten Menschen wohl nicht auf die Idee, dass es sich hierbei tatsächlich um Jazz handelt, viel mehr kommt Evans' klassischer Einfluss wie der des französischen Komponisten Maurice Ravel zum Tragen.
Selbst das New Yorker Publikum vermittelt angesichts der Intensität dieses Stücks den Eindruck, als ob es über die ganze Spieldauer gespannt den Atem anhält. Es ist Mucksmäuschenstill unter den gut 3000 Zuhörern und erst nach dem atemberaubenden Epilog bricht die Bewunderung und vielleicht auch das Mitleid und die Trauer aus ihnen heraus.
"At Town Hall" wurde mir mit den Worten empfohlen, dass insbesondere dieser Titel tief beeindruckend sei und eine Gänsehaut erzeugen könne, wie ich sie selten erlebt haben dürfte. Der Mann hatte recht.
Das ist eine der schönsten Jazzplatten, die ich jemals hörte.
Erschienen auf Verve, 1966
Re-Issue auf Verve/Speakers Corner, 2010
2 Kommentare:
Sehr interessant, werter Flo. Bin seinerzeit über einige Deiner Beiträge im Jazzforum aufmerksam geworden, da ich einige Parallelen in unserer musik. Sozialisation wahrgenommen hatte (bei mir eher Stoner als Thrash )- und wurde so aufmerksam auf diesen Blog - nun muss ich in meiner aufkeimenden Bill- Evans - Begeisterung feststllen, dass sich hier ebenfalls was tut. Klasse! h-fuerst
Ah, ein Lebenszeichen. Schön. Kannst Du mir denn womöglich einen Tipp zum nächsten Evans-Schritt geben? Ich bin angesichts seines Outputs ziemlich...erschlagen. ;)
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