"Bone" ist das beste Melodic Rock Album, von dem Du noch nie gehört hast. Aber das lässt sich ja zum Glück ändern.
Es erinnert mich außerdem regelmäßig an meine überraschenderweise immer noch bumsfidel vor sich hinquietschende Liebe zu klassischem, teils vom Blues beeinflusstem Hardrock, der auch die jahrelange Auseinandersetzung mit Jazz und avantgardistischem Elektrogeplucker nichts anhaben konnte: zu Great Whites "Can't Get There From Here", Magnums "Goodnight L.A." und Badlands' "Voodoo Highway" falle ich auch über 20 Jahre später noch ehrfurchtsvoll in den Staub, beziehungsweise in die Spandex-Sammlung. "Bone" passt locker in die Reihe der großen musikalischen Pornoschnorres der 1980er Jahre, ist dabei stilistisch bedeutend näher an sagenwirmal: Whitesnake oder den beiden Großtaten von Badlands als an den zumindest in Teilen diskussionswürdigen Sleaze- und Glam-Rockern wie Mötley Crüe oder Poison. Der Clou: "Bone" erschien im Jahr 1993 und damit nach dem Großreinemachen des Grunge. Als Cobain, Cornell und Vedder als menschliche Laubbläser durch die Flure der Majorlabels sausten und gleich einen ganzen Wald an alten Helden kahl pusteten, schien diese Truppe bereits geschlagen: das 1990 veröffentlichte und etwas leichtgewichtige Debut "Riverdogs" brachte auch unter der Führung des Gitarrensupermanns Vivian Campbell nicht den gewünschten Erfolg, sodass zunächst das Label und anschließend Campbell die Segel strichen. Wundersänger Rob Lamothe und der nach dem Ausstieg Campbells vom Bass zur Gitarre gewechselte Nick Brophy gaben indes nicht klein bei, sondern luden zunächst eine Handvoll Fans, Freunde, Journalisten und Labelvolk zu einer nächtlichen Aufnahmesession in einen Proberaumkomplex im Norden Hollywoods ein und begaben sich mit dem dort mitgeschnittenen und im Anschluss veröffentlichten Livealbum "Absolutely Live" auf die Suche nach einer neuen Plattenfirma.
"Bone" erschien ein Jahr später auf dem deutschen Dream Circle Label (damalige Heimat von u.a. Psychotic Waltz, Enchant und den wahnsinnigen Civil Defiance) - und ging erwartungsgemäß völlig unter. Selbst die Lobet-und-Preiset-Rezension von Holger "Alternative Zappelbude" Stratmann im Rock Hard - Zitat:"die RIVERDOGS sind nun mal die beste und unterbewertetste Band unserer Zeit" - änderte daran nichts. Die Welt war im Grunge-Fieber, und Musik, die so klang als hätte der Sänger durchgängig einen melancholisch erigierten Penis, wenn er mit ordentlich Fellatio Falsetto in der Unterhose "Love Is Not A Crime" bis zur Beinahe-Bewusstlosigkeit schmetterte, hatte in diesem musikalisch derart radikal veränderten Klima weniger Erfolgsaussichten als eine Intellektuelle auf dem Parteitag der Jungen Union. Oder eine vegetarische Bratwurst auf dem Grillfestival "Augen, Hirn und Hals - der Darm erhalt's!". Es kam also, wie es kommen musste: die Riverdogs lösten sich auf. Brophy und Lamothe verfolgten in den kommenden Jahren Solokarrieren, Vivian Campbell hatte es schon längst zum lukrativen Engagement bei Def Leppard gezogen.
"Bone" ist ernsthafter, erwachsener und von absoluten Vollprofis ausgedachter Monster-Feeling-Hardrock, der selbst unter "stengen Maßstäben" (Schäuble) locker in der Champions League kicken sollte, wenn nicht müsste: Lamothe und Brophy haben ein todsischeres Gespür sowohl für klischeefreie Melodien und Hooklines, als auch für die Notwendigkeit, bei aller Gelassenheit den Drive von der Leine zu lassen, wenn denn der Song erfordert. Der flotte Opener "The Man Is Me" oder das mit großem Refrain ausgestattete "Two Birds" sind in diesem Sinne prächtige Paradebeispiele für stilvolles Songwriting aus Kraftfutterhausen. Mein persönliches Highlight ist indes "Revolution Man" mit seinem betörenden Groove, der auch nicht zuletzt dank der Lagerfeuer-In-Der-Wüste-Aura Erinnerungen an die ersten drei Tribe After Tribe-Klassiker weckt.
Die Riverdogs machen seit 2011 und dem Comebackalbum "World Gone Mad" wieder gemeinsame Sache und veröffentlichten im Sommer 2017 gar den Nachfolger "California". Als Einstieg empfehle ich jedoch dieses vergessene Juwel aus einer anderen Zeit - freilich vorausgesetzt, es liegt eine grundlegende Affinität zu solchen Sounds vor. Und sei sie auch nur mit dem Elektronenmikroskop erkennbar: das hier ist für Dich.
P.S.: Leider gibt es "Bone" nicht auf Vinyl und es ist angesichts der überschaubaren Erfolgsaussichten sehr unwahrscheinlich, dass sich an diesem Zustand in der Zukunft etwas ändern wird. Wer immer noch auf Haptik und so steht, muss für die (längst aus der Produktion genommene) CD-Version für gewöhnlich etwa 20 bis 25 Schleifen investieren.
Seit acht Jahren rutsche ich sowohl auf diesem Blog als auch auf anderen Kanälen wie Twitter oder Instagram auf meinen Knien herum, um eine der besten existierenden Rockbands irgendwie dazu zu bewegen, sich in ein Flugzeug zu setzen, um im Kartoffelland wenigstens eine Show auf hiesigen Bühnen zu spielen - eine Deutschlandtournee des Spacerock-Alternative-Power Trios The Life And Times scheint trotz einer gewissen und wenigstens von meiner Seite fortwährend zur Schau gestellten Zähigkeit (die Band würde es wohl eher salopp eine "Belästigung" nennen) völlig utopisch zu sein. Ich weiß nicht, wie viele Alben die Kapelle in Deutschland tatsächlich verkauft, und in Zeiten des ubiquitären Streamings spielt das wohl auch gar keine so arg große Rolle mehr; es wäre indes arg optimistisch, die Zahl der Eingeweihten auch nur auf 100 zu taxieren - und wer klettert dafür schon in ein Flugzeug? Die Chancen, die Band jemals live zu sehen, tendieren also gegen eine stattliche Null.
And that's fucked up.
Nach der Veröffentlichung ihres aktuellen, selbst betitelten Albums zu Beginn des Jahres, erneut ein starkes Stück emotionaler und klischeefreier Rockmusik mit im Vergleich zu früheren Werken etwas gestrafften Arrangements, legt mir die Band nun via Bandcamp zumindest ein kleines Fläschchen auraler Ersatzdroge in die frisch gewechselte Erwachsenenwindel: ihre am 6.September 2017 aufgenommene Audiotree-Session mit immerhin fünf Stücken vom neuen Album gibt es nun als kostenpflichtigen 5-Dollar-Download zu erwerben. Oder eben auch kostenlos als Stream.
And that's fuckin' A.
Einzig an den mutmaßlichen Queens Of The Stone Age-Tribut "Out Through The In Door" mit seinem klar erkennbaren melodischen Überhangmandat zur vielleicht überbewertesten Rockband der letzten 20 Jahre, muss ich mich immer noch gewöhnen. Der Rest ist strahlendes Musikgold.
Einer der härtesten Kämpfe, die ich Ende des vergangenen Jahres mit mir ausfechten musste, war die Entscheidung, "In The Lens" der australischen Band Solo Andata aus der Bestenliste 2016 herausplumpsen zu lassen, und wie so häufig schmerzt die über Tage und Wochen hin-, her- und aufgeschobene und also schlussendlich getroffene Wahl schon zweieinhalb Sekunden später. Wenn ich im Rahmen der Texte zu Purls "Form Is Emptiness" oder Warmths "Essay" davon schrieb, ganze Wochenenden mit diesen Platten verbracht zu haben und die Stopptaste nur zum Schlafen drückte, dann gilt ähnliches auch für dieses Album.
"In The Lens", erschienen auf dem beliebten 12k Label des Ambientmusikers Taylor Deupree, ist indes nicht so offensiv ohrenschmeichelnd wie die beiden genannten Werke aus dem Archives-Labelstall. Das Duo Kane Ikin und Paul Fiocco achtet stets darauf, sich nicht ausschließlich in der auralen Komfortzone aufzuhalten. Das beginnt schon bei der ungewöhnlichen Auswahl der Instrumente, die vor allem dann gerne zum Einsatz kommen, wenn sie bereits kurz vor dem Auseinanderfallen sind und endet (nicht) bei der bewussten Entscheidung für den Einsatz billiger Mikrofone. Zusammen mit vergessenen und verloren geglaubten Archivaufnahmen und krisseligen Field Recordings ist "In The Lens" charmant angeranzt und gibt sein Statement mit viel Natürlichkeit ab, mit einer Besinnung auf Ursprüngliches und Echtes.
Es hat seine Zeit benötigt, um mich auf diesen Lo-Fi Ansatz einzulassen und die kristalline Schönheit zu erkennen, die in ihm steckt - eine Schönheit, die sich in Kombination zwischen den nur kurz aufflackernden, sich aus zunächst beliebig erscheinenden getupften Clicks'n'Glitches herauswürmelnden Melodien und einer romantischen Stimmung von frisch gefallenen Herbstlaub auf von Nebel bedeckten Feldwegen zeigt.
"In The Lens" ist eines jener durchaus seltenen Ambientwerke, die es zulassen, erkundet werden zu wollen - manchmal auch im Tausch mit dem Risiko, über die Klippe zu springen, bevor das ganze Puzzle zusammengesetzt wurde. Wer sich allerdings auf die Suche begibt und kein Gedanke ans Aufgeben verschwendet, wird mit einer reichen, kunstvollen Musik belohnt, die die Lebensfarben wie ein Prisma zunächst zu bündeln und anschließend aufzufächern vermag.
Und die aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken ist.
Die Supergroup der frühen Neunziger mit ihrem zweiten und vielleicht besten Album: Jello Biafra (ex-Dead Kennedys), Al Jourgensen und Paul Barker (Ministry) zeigten schon 1990, mit welchen Mitteln die brachiale musikalische Gewalt von den späteren Ministry ab "Psalm 69" mit Biafras Punkvibes und vor allem: mit dessen Humor aufgelockert werden kann. In den besten Momenten ist Monotonie der König von allem: ein stumpf durchgehacktes Schlagzeug (manchmal ist's schlicht ein Drumcomputer) nebst ebenso stumpfen, aber unerhört treibenden Gitarrenriffs heben Songs wie "Forkboy" auf Klassikerniveau. Überraschend sind hingegen stilistische Drehungen und Wendungen, die man angesichts des übrigen Infernos nicht unbedingt erwartet hätte - beispielsweise im psychedelischen und Melodien from outer space auffahrenden Refrain von "Pineapple Face". Lard wurden auf ihren beiden folgenden Veröffentlichungen für meinen Geschmack zu konventionell und biederten sich zu sehr dem Metal/Crossoverpublikum der Post-"Filth Pig"-Phase Ministrys an, auf "The Last Temptation Of Reid" regiert aber noch der Wahnsinn aus einer musikalisch so spannenden Zeit der Alternative/Crossover-Frühphase, in der alles zu gehen schien. Was für ein Theater!
Erschienen auf Alternative Tentacles, 1990.
LIVING COLOUR - STAIN
Das Debut dieser vierköpfigen Band aus New York gilt gemeinhin als Klassiker und gleichzeitig Höhepunkt der Bandgeschichte: "Vivid" war durchaus ein Überraschungserfolg und ist bis heute die mit Abstand erfolgreichste Veröffentlichung Living Colours - nicht zuletzt gefördert durch die Beteiligung von Mick Jagger und den Gewinn eines Grammys für die Single "Cult Of Personality". Dass es schwer ist, nach einem derartigen und gleich mit dem Debutalbum erreichten Erfolg trotzdem im Spiel zu bleiben, mussten Living Colour in den nächsten fünf Jahren lernen. "Stain" erschien 1993, drei Jahre nach dem ebenfalls mit einem Grammy ausgezeichneten Zweitwerk "Time's Up", und zeigt die Band von ihrer bis dato härtesten und gleichzeitig besten Seite. Die dezent an damals aktuelle Alternative-Sounds angelehnten Songs und vor allem die räumliche und klare Produktion von Ed Stasium hätten eigentlich klar machen sollen, dass mit der aus exzellenten Musikern bestehenden Truppe weiterhin zu rechnen sein wird - aber es kam anders: der Erfolg blieb aus, man konnte sich nicht mehr auf eine einheitliche Linie für das Songwriting einigen und löste sich auf. "Stain" muss man allerdings gehört haben: es ist alternativ, ohne Alternative zu sein, es versammelt Hits, ohne Mainstream zu sein, es ist komplex, ohne zu überfordern. "Ausländer", der Höhepunkt des Albums, beschäftigt sich mit dem täglichen Rassismus, der sich die schwarze Band im weißen Rock'n'Roll-Zirkus regelmäßig ausgesetzt sah. Muss man laut hören. LAUT!
Erschienen auf Epic, 1993.
PJ HARVEY - LET ENGLAND SHAKE
Mein Verhältnis zu PJ Harvey ist ein sehr ambivalentes. Einerseits ist ihr Album "Dry" aus dem Jahr 1992 bis heute eines der besten Debuts aller Zeiten, andererseits habe ich seit Jahren einen gewissen Sicherheitsabstand zu ihr eingenommen: völlig inakzeptable Aussagen zur Fuchsjagd, Kollaborationen mit Musikern, zu denen ich ebenfalls ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis habe (z.B. Josh Homme) und ein Hipsterpublikum, das eher wegen des großen und guten Namens als der eigentlichen Musik wuschig zu werden scheint - all das klingt für mich in dieser Kombination wie mit einhundert Fingernägeln über eine Schiefertafel gekratzt. Das mit Auszeichnungen der Musikindustrie geradezu überhäufte "Let England Shake" aus dem Jahr 2011 wurde kürzlich in der Vinylfassung zum Sonderpreis von unter 15 Euro angeboten und scheißrein: warum eigentlich nicht? Die offensichtlichste Antwort: weil die Pressung nicht die beste zu sein scheint, was das durchgängige Britzeln und Krackseln nahelegt. Was der Welt wirklich fehlt: eine rauscharme und also gute Pressung von GZ Media. Darüber hinaus ist ihre Musik auch 19 Jahre nach "Dry" immer noch sehr speziell, schräg und ideenreich. Ich kann ihr das nicht nehmen. Dass im Gegensatz zu den Aufnahmen des Debuts das Feuer in ihrem Bauch erwartbar nicht mehr so irre hell flackert, ist gleichfalls geschenkt - aber mir fehlt in weiten Teilen völlig der Zugang zu diesen Songs, die zwischen dem tonnenschwerem Anspruch eines Konzeptalbums und den fast vollständig ohne Hooklines auskommenden Leichtgewicht-Arrangements drohen, zerdrückt zu werden. Ein merkwürdig ungreifbares Album.
Im Intro zu meiner damaligen Serie über die vergessenen und weitgehend unbekannten Perlen des Thrash Metals hatte ich diese 1982 zunächst unter dem Namen Overkill im US-amerikanischen Boston gegründete Band zusammen mit Kapellen wie Mortal Sin, Cyclone Temple und den Kanadiern Forced Entry in der vierten Reihe des Thrash einsortiert. Das disqualifizierte sie für die "Verstaubt & Liegengelassen"-Kolumne, weil sie trotz ihrer immerhin drei zwar legendär unerfolgreichen, aber dennoch im Untergrund Kultstatus besitzenden Alben unter Insidern durchaus ein Gesprächsthema waren und auch im deutschen Metal-Blätterwald Höchstnoten für ihre Werke kassierten. Außerdem scheiterte die Band einige Jahre später an meiner Thrash Top 20-Liste, wenn auch nur denkbar knapp: über die Beteiligung ihres Debut "Why Play Around?" zerbrach ich mir durchaus die ein oder andere Gehirnzelle, und hätte ich mich für eine Top 25 entschieden - mei, dann wären sie sicher mit von der Partie gewesen.
So aber sponn ich die tragische Geschichte des 1995 zwischenzeitlich aufgelösten Trios weiter, wenn auch unbewusst. Aber es passt so richtig doof ins Bild: andauernde Labelprobleme und ein daraus resultierendes schlechtes Timing hinsichtlich der Veröffentlichung ihrer Alben einerseits und des Tourbookings andererseits, sorgten trotz des Eingangs erwähnten und nicht zuletzt durch die damals große und sehr aktive Tapetradingszene geförderten Kultstatus besonders ihrer Demos (Titel des ersten Tapes:"Rainbows, Kittens, Flowers And Puppies"), für chronische Erfolglosigkeit. Die Band bekam sowohl in ihrem Heimatmarkt in den USA, als auch in Europa kein Bein auf den Boden. Des Weiteren waren Wargasm alles andere als eine typische Thrash Metal Band der damaligen Zeit, da sie ihren Sound in erster Linie auf klassischem Speed Metal aufbauten und erst später dezente Thrash Einflüsse hinzufügten. Zwischen ihres 1988 auf Profile Records erschienenen Debuts und dem 1993 auf dem deutschen Label Massacre Records veröffentlichten Nachfolger "Ugly" war die Band trotz Tourneen im Vorprogramm solch illustrer Namen wie Biohazard und den Cro-Mags praktisch tot und verschlief damit auch die kommerziell vielleicht erfolgreichste Zeit für harten Metal der ersten und zweiten Generation. Und als 1993 endlich "Ugly" erschien, war der klassische Thrash Metal im künstlerischen Vakuum zwischen Grunge und der damit verbundenen Abkehr von Metal insgesamt und Machine Heads "Burn My Eyes" gefangen. Daran konnte auch das verzweifelte Anschreiben eines Frank Albrechts nichts mehr ändern, der "Ugly" in seinem Review im Rock Hard Magazin - sicher mit den besten Absichten - in die Nähe von Exhorder, Demolition Hammer und sogar Pantera rückte.
Es war der Versuch, der einst so hoffnungsvoll gestarteten Band ein bisschen Relevanz in einer völlig veränderten Musikwelt einzuhauchen. Mit der Realität hatte die Einschätzung natürlich nur wenig zu tun und das hätte man erkennen können, wären die Zeichen der Zeit richtig analysiert worden: die ehemaligen Zugpferde der Szene Metallica und Megadeth hatten sich in Richtung Mainstream verabschiedet, und Anthrax hatten für ihr im gleichen Jahr wie "Ugly" erschienenes "Sound Of White Noise" nicht nur ihren Sänger, sondern auch den Thrash Metal ersetzt. Demolition Hammer waren nach ihrem 1992er Klassiker "Epidemic Of Violence" intern zerstritten und praktisch auf dem Weg in die Gruft, Exhorder verkauften von ihrem 1992er "The Law" Brockens trotz 10-Punkte Lobhudelei von Schrank Albrecht nur knapp vierstellige Stückzahlen in Deutschland, Sepultura sollten mit "Chaos AD" im Herbst 1993 im Prinzip das ganze Genre über den Haufen werfen. Nur Pantera standen nach dem Durchbruch ihres "A Vulgar Display Of Power" Werks auf dem Siegertreppchen - aber selbst, wenn ich meine Buchhalter of Rock'n'Roll-Brille absetze: Thrash Metal war das ja nicht. Und ich weiß auch nicht, wie das Gesicht eines Pantera-Anhängers ausgeschaut haben muss, der "Fucking Hostile" auf Endlosschleife zum Onanieren hörte und dann wegen Albrechts "Uiuiuiuiuiiiii"-Gestammels "Ugly" in den CD-Schacht "schub" (Martin Chulz).
Und auch wenn es interessant und spaßig ist, sich mit den damaligen Zeiten auf diese Weise auseinanderzusetzen, hat all das mit der Qualität dieses Albums nur wenig zu tun.
"Ugly" wurde Anfang 2017 vom Spezialistenlabel The Crypt erstmals auf Vinyl veröffentlicht. Und weil das Auge in Zeiten der Vinyl-Hipster bekanntlich mithört, haben die Damen und Herren wahrlich keine Gefangenen gemacht: Gatefoldcover im Hochglanzdruck, Liner Notes, grün-bernsteinfarbenes Vinyl. Da hüpft mein Herz. Nur um bereits im dritten Song der A-Seite zerschmettert zu werden: innerhalb der ersten zwei Minuten setzt die Musik für etwa eine halbe Sekunde komplett aus. Das klingt weniger nach einem Press- als viel mehr nach einem Masteringfehler, aber es bleibt am Ende eben doch: ein Fehler. Wie kann sowas überhört werden? Wie kann man sich für das ganze Drumherum eine solche Mühe machen und dann diesen riesigen Fuck-Up ignorieren?
Abgesehen davon darf der bislang Uneingeweihte sich durchaus darauf freuen, dieses Werk zu entdecken - oder vielleicht auch: wieder zu entdecken. "Ugly" ist ein hochinteressantes Speed/Thrash Metal Album, das es verdient, sich mit ihm zu beschäftigen. Besonders unter dem Kopfhörer entfalten sich sowohl Präzision als auch Spielfreude des Trios und sorgt so wenigstens bei Herrn Dreikommaviernull für wahre Jubelorgien und in die Luft gereckte Fäuste (und Penen!). Albrecht hatte in seiner qualitativen Betrachtung schon recht: das rifflastige Geballer steckt so manch anerkannten Genreklassiker locker in die Tasche. Vor allem die Mittelachse mit "I Breathe Fire" und "Ugly Is To The Bone" (Der Schluss!! FICK MICH, DER SCHLUSS!) ist ein wahres Fest für jeden Riffmeister, der es gerne knochentrocken und hypertransparent produziert mag und gerne mal Studien der rechten Anschlaghand des Gitarristen vor dem Einschlafen verinnerlicht (vgl. Cyclone Temples Greg Fulton).
Achillesverse der Band war hingegen die Stimme von Gitarrist Bob Mayo, der so gar nicht dem durchschnittlichen Thrash-Shouter, dafür aber sehr gepresst und etwas nasal klang. Das muss man mögen - ich für meinen Teil habe mich mittlerweile daran gewöhnt und betrachte das als charmantes Alleinstellungsmerkmal. Und in voller Anerkennung darüber, dass das nicht immer supergut sein muss, aber: so klang sonst niemand. Dass der Typ allerdings parallel zu seinem Gesang auch noch diese fies-vertrackten und ultrapräzisen Gitarrenriffs spielte, bedarf durchaus einer Erwähnung. Wie er das gemacht hat? Ich habe nicht den kleinsten Schimmer.
Trotz der erwähnten Unzulänglichkeit in der Vinylausgabe, darf ich, als alter Thrasher gleich drei Mal, der interessierten Zielgruppe einen Kauf ans wärmste Herz legen. Die auf 175 Stück limitierte Platte ist nicht billig, aber beim deutschen High Roller Versand für 28 Steine zu ergattern. "Ugly" ist ein geiles Album. Und dazu für das große und ganze Bild der Thrash Metal Szene ein wichtiger und hochinteressanter Zeitzeuge eines Genres, das sich just im Umbruch befand.
Erstveröffentlichung erschienen auf Massacre, 1993.
Vinylveröffentlichung erschienen auf The Crypt, 2017.
Es ist einigermaßen skandalös, dass die von mir stets gefürchtete und mit allen legalen Mitteln bekämpfte Schreibblockade genau in jenem Jahr an die verquollene Gehirntür klopft, in dem dieser Blog sein zehnjähriges Jubiläum feiert und feiern sollte. "Feiern" ist möglicherweise ein zu großes Wort, aber eine Hausparty ist eine Hausparty ist eine Hausparty - und obwohl mir der Termin des ersten Posts auf diesem immer noch etwas ungelenk betitelten Tagebuchs seit Wochen und gar Monaten um den Kopfkalender flatterte, und ich also wie eine im Klärschlamm steckende Klobürste eine im Mirabellen-Pfefferminzkuchen steckende Geburtstagskerze am 22.7.2017 meine dreikommavier verbliebenen Leser mit Konfetti aus geschredderten Musikmagazinen aus dem Hause Springer und einem Gläschen Kirschlikör hätte begrüßen sollen, wenn nicht müssen, erschien jedes Aufraffen unmöglich. Ich möchte nicht mit der realen Irrelevanz von 3,40qm kokettieren, aber ich benötige wohl eher die Vorstellungskraft eines auf LSD hängengebliebenen Stabmixers (300 Watt!) in der Geisterbahn des Phantasialands, um mir ein außerhalb des engsten Dunstkreises des Autors bestehendes Interesse an diesem Geburtstag herbei zu halluzinieren. Andererseits ging (und geht) es diesem Blog darum ja gerade nicht - sonst wären Artikel über Justin Timberlake nicht unbedingt auf Lobhudeleien über obskure Thrash Metal Bands, ein paar Worte über vergessene Jazzperlen nicht auf Texte über aktuelle und in Miniauflagen veröffentlichte Ambientproduktionen gefolgt. Ich hätte wahrscheinlich nicht zwei Mal pro Woche Texte veröffentlicht, sondern eher zwei Mal am Tag - dann aber bitte der trillionste vom Waschzettel des Promoters abgeschriebene Scheißdreck über Mumford & Sons, fucking Kraftklub ("Who the fuck requested that?" - Bill Hicks, zugegebenermaßen über die Rückkehr von Diskomusik in den 80er Jahren, aber it's about the spirit), Gaslight Anthem, und natürlich über die Legion und wie Kackpilze aus einem von Kevin Russell vollgestrulltem Waldboden emporgeschossenen und als Punkrock getarnten deutschnationalen Lobotomie-Dreckhaufen wie Krawallbrüder, Kärbholz und Freiwild. Dass es die aktuelle Metalszene übrigens mittlerweile zulässt, eine zwar erfolgreiche, aber dennoch überaus ärgerliche Nullkapelle wie Arch Enemy auf einem Festival mit den erwähnten Tiroler Rechtsauslegern abzufeiern, spricht Bände. Über ähnliche unheilige Verbindungen habe ich hier bereits auch schon mal geschrieben. Soll ich es verlinken? Natürlich soll ich.
Dass dieser Raum zehn Jahre und sage und schreibe siebenhundertzweiundachtzig (in Worten SIEBENHUNDERTZWEIUNDACHTZIG!) Beiträgen bestand, lag tatsächlich in erster Linie an der tief empfundenen (Selbst)Befriedigung, über Musik zu schreiben, die mich begeistert. Mich mit ihr auseinanderzusetzen, mich einzugraben, zu recherchieren, zu erklären, Freudenfeuer anzuzünden. Vor einigen Jahren wurde ins Kommentarfeld eines Artikels über den Pianisten und Bandleader Nik Bärtsch mal der Satz "Wo ein Begeisterter steht, ist der Gipfel der Welt" hineingeschrieben und ich empfand das als möglicherweise größtes Kompliment. Mehr in der Hand, im Kopf, in den Ohren und nicht zuletzt im Herzen zu haben, als das gehetzte Internet mit seinen grellen Blitzlichtern es für gewöhnlich zulässt. Und nicht zuletzt war es auch immer eine große Herausforderung, sprachlich und stilistisch auf einem wenigstens in Ansätzen erträglichen Niveau zu schreiben, Allgemeinplätze zu meiden, die schlimmsten Verbrechen "zeitnah", "extremst" und "massiv" draußen vor der Tür zu lassen - und im besten Fall selbst beim Lesen nicht wegzunicken. Die Herzallerliebste wies mich in den vergangenen zehn Jahren stets darauf hin, dass sich die gefürchteten über 20+ Zeilen erbrechenden Bandwurmsätze nicht dafür eignen, die Augen offen und das Hirn feucht zu halten, aber wer nicht kämpfen will, der hat eben verloren: der Mittelmäßigkeit keine Chance. Und doch stößt der Peinli-O-Meter beim Durchlesen so manch alten Textes stärker und schneller in den roten Bereich vor, als mir lieb sein kann. Aber so ist das vermutlich mit diesem "Älter werden", schließlich habe ich früher auch mal SPD gewählt, Shirts von Iron Maiden und eine "Nackenfotze" (Herr Pelleringhoff) getragen. Es ist tatsächlich wie bei den eigenen Musikaufnahmen über die letzten 20 Jahre: das hätte man alles besser machen können. Die Texte? Grundgütiger! Das Arrangement? Ein Autounfall! War ich beim Schreiben dieser Gesangslinie eigentlich stoned? "Does the pope shit in the woods?" (John Cleese).
Außerdem half diese enge Auseinandersetzung mit Musik im Rahmen des Blogs dabei, im Überangebot von Musik den Boden nicht unter den eigenen Füßen zu verlieren. Wenn in einem guten Monat 20 neue Alben darauf warteten, nicht nur gehört, sondern auch noch verstanden zu werden - und was an einem solchen Monat "gut" war darf man auch nochmal in die Diskussionsrunde mit einem schweren Roten schmeißen - dann war das Schreiben über wenigstens derer zehn eine Art Therapie für die Entschleunigung, die eigene zumal. Keine Ablenkung, kein schreiendes Internet mit seinen Twitters, Instagrams, Emails, keine Gedanken an den ausreichend zugekackten Arbeitstag, sondern Konzentration: Nadel aufsetzen, Kopfhörer auf, in den Musiksessel plumpsen und schreiben. Das ist, nicht zuletzt wegen der notwendigen und zusätzlich anfallenden Recherche, aufwändig. Selbst ein vergleichsweise kurzer oder gar zunächst banal erscheinender Text ging mir selten einfach von der Hand. Auch hier gibt es Parallelen zum Musikmachen: unsere kleine Punkband, die sich nach Feierabend vorzugsweise ein- bis eineinhalb Minüter aus den Klamotten presst, die für den ein oder anderen Hörer vielleicht sogar so klingen, als seien sie in ebenjener Zeitspanne auch final erdacht worden, benötigt im Gegenteil bis zur Uraufführung eines solchen Titels auf der Bühne eines Opernsaals dieser Republik länger als die zwei braunen Gehirnzellen Björn "Heil" Höckes im führerhauptquartiergroßen und von gähnender Leere dominierten Brägen der faltigen Krawallschachtel, um sich beim Barte des GröFaz einen von den "Palmen" (Die Flippers, "Mitternacht In Trinidad") zu wedeln. Dazwischen: Zusammenbrüche, Selbstzweifel, Resignation, veganer Rollbraten, Trump (vulgo "Drumpf").
Wenn indes der Arbeitstag so zugekackt war, dass sich die Seele nachts um eins gerne nur noch in einem großen Glas Nutella versenken will, Musik nur noch als kurzfristig zu verabreichendes Analgetikum wirkt, und dazu die Mittel nicht mehr ganz moderner Kommunikation mit Hilfe des Wechsels von einem, Achtung, uffjepasst: Windows Phone (!) zum unvermeidbaren Android-Superscheiß den Blogger des letzten Jahrzehnts eher zu einem Instagrammer machen - bunte Bilder, die eigene Geilness streicheln und vor allem ja: streicheln lassen, Usability wie im Paradies, der direkte Kontakt mit anderen über die ganze Welt verteilt lebenden Gestörten - dann geht angesichts dieser Deppenkombination auf so einem Blog das Licht aus. Oder es wird zumindest dunkler. Dass es auf Tausenden Blogs in den letzen zehn Jahren gar stockfinster wurde, ist Fakt.
Vielleicht ist dieser Post mehr als ein Grablicht. Es gibt viele gute Ideen, es gibt viele gute alte und neue Platten - "Also, jetzt sollte irgendwas kommen (Content!)"
"Wann kommen endlich New Model Army?"
"Noch nicht."
"Mit Dir rede ich kein Wort mehr, Du Penis."
Durch solcherlei via des Schnatterdienstes WhatsApp geführter Dialoge mit Freund Jens musste ich mich geschlagene vier Monate kämpfen, und manchmal war "Penis" noch die charmanteste Art der Beschimpfung. Muss man wissen: der Mann ist seit den achtziger Jahren beinharter New Model Army-Fan - der "Penis" ist es hingegen nicht, allenfalls wohlmeinender Symathisant. Weshalb der Auslöser für den Austausch solcher "Verballiebkosungen" (11 Freunde), der doch schon Ende April abgeschlossene Top 20-Countdown der besten Alben des letzten Jahres, ohne eine Beteiligung von "Winter" auskommen musste. Trotzdem (oder gerade deshalb) muss ich zu dieser durchaus besonderen Platte ein paar Worte verlieren.
Für eine gar nicht so kurze Zeit war meine einzige Verbindung zur Truppe um den immer noch unverwüstlichen Justin Sullivan die Coverversion ihres Hits "I Love The World" der Techno-Thrasher Anacrusis auf deren "Manic Impression" Album. Seltsamerweise hat das trotz deutlicher Zuneigung sowohl zum Songtext als auch zur Coverversion an sich bis vor wenigen Jahren nie ausgereicht, um mich mit auch nur einer der Platten des Originals eingehender zu beschäftigen. Und dabei standen und stehen gleich vier davon im Schrank. Mit "Winter" war es aus zwei Gründen anders. Erstens: Der Titelsong, vorab als erste Single veröffentlicht, machte mich Ohren spitzen: "Winter" ist ein ruhiger, melancholischer und mit dennoch typischem New Model Army Drive ausgestatteter Song, der mich immerhin so begeisterte, dass ich die Band zweitens live im restlos ausverkauften LKA in Stuttgart anschauen wollte - um mir anschließend den "Winter" in die langsam herbstlich abkühlende Wohnung zu holen. Es war eigentlich alles wie früher: die Single hören, Band live angucken, Platte kaufen. Wie oldschool kann man im Jahr 2016 noch bitte sein?
New Model Army geben auf der Bühne nicht die alten, feigen Lappen, die sich nur auf den Erfolg ihrer Hits verlassen und neues Songmaterial links liegen lassen - das Gegenteil ist der Fall: Sullivan ist von den letzten Platten seiner Kapelle gar so angetan, dass er den Schwerpunkt einer New Model Army Show im Jahr 2016 ziemlich eindeutig auf die letzten zwei, drei Alben legt, während ein Klassiker wie "51st State" auch gerne mal aus der Setlist rutscht, weil man einfach keine Lust hat, ihn zu spielen.
"Welche Songs die Zuschauer hören wollen, was die Musikindustrie über uns denkt....lass mich in Ruhe damit! Wir sind New Model Army. Ja, wir sind manchmal scheiße, ja, wir machen Fehler, die wir bedauern, aber wir machen das auf unsere Art und Weise." (Bericht im Deutschlandfunk)
Ganz anders sieht die Sache folgerichtig mit "Winter" aus, von dem live nicht weniger als acht Songs präsentiert wurden, von denen ich an diesem Abend im Oktober also sieben zum ersten Mal überhaupt höre. Und obwohl das ja immer so eine Sache ist, auf Konzerten erstmalig mit neuen und daher also "fremden" Songs konfrontiert zu werden, konnte ich den Kaufreflex nach diesem Samstagabend im Oktober nicht mehr unterdrücken.
Die Erfahrungen mit dem Album "Winter" waren etwas überraschend nicht von jenen mit dem Song "Winter" zu unterscheiden: ich hatte über mehrere Wochen hinweg das starke Verlangen, immer wieder diese Platte aufzulegen und kam zusammen mit der Herzallerliebsten gar zur Überzeugung, einer durchaus besonderen Platte die Aufmerksamkeit zu schenken - auch wenn wir uns beide nicht so recht erklären konnten, woran das lag. Denn diesen Disclaimer muss ich setzen und ich versuche, es nicht all zu despiktierlich klingen zu lassen: normalerweise taucht aktuelle Rockmusik, die sich stilistisch weniger durch überraschende, kreative Ideen als viel mehr durch den sicheren Aufenthalt innerhalb gängiger und konventioneller Genregrenzen definiert, in meinem Leben nicht mehr auf, und wenn man den ganz groben Blick aus 20.000 Fuß zumindest auf meine Erwartungshaltung zu "Winter" richtet, dann blieben mir mit solchen Maßstäben nicht viele Argumente übrig, um diesen Text zu rechtfertigen.
Aber es kam anders, und zwar mit dem Einzoomen und -grooven auf "Winter". Das ist eine hochemotionale Platte mit einfallsreich arrangierten und leidenschaftlich interpretierten Songs, die, von wenigen Ausnahmen zur Albummitte abgesehen, Lichtjahre vom trüben und geradlinigen Schnarchgerocke entfernt sind, mit dem Rockmusiker, ganz egal ob alte Hasen oder vermeintlich junge Gipfelstürmer, seit Jahren ganze Generationen ins Koma säuseln. Justin Sullivan ist auch mit 60 Jahren noch immer ein poetischer Krieger, in dessen Herz Zorn, Leidenschaft, Hoffnung und Liebe toben und der Emotionen und Romantik ganz zentral in seine Songs einwebt. Herausragend sind auf der LP-Version (die übrigens eine andere Songreihenfolge als die digitalen Versionen hat) vor allem die A- und D-Seite: "Winter" beginnt mit dem dramatischen "Beginning", geht von dort ins trotzige "Burn The Castle" und anschließend nahtlos in den grau-schimmernden Titelsong über - alleine diese drei Songs erzählen Dir praktisch alles, was Du über dieses Album wissen musst. Zu großer Form läuft die Band indes ganz zum Schluss auf: "Born Feral" war live mit seinem unwiderstehlichen Tribaldrumming-Outro DER Song des Abends und er ist auch auf "Winter" zweifellos der beste Moment der ganzen Platte. "Weak And Strong" und das balladeske, eindringliche "After Something" beschließen eine beeindruckende Songsammlung einer Band, die wie vielleicht keine zweite so wohltuend eigenständig, kreativ und stur die Erinnerungen an die eigene Vergangenheit ohne eine Spur von Anbiederung in eine Aufbruchstimmung im Hier und Jetzt umsetzt.
Ich wusste bis "Winter" nicht mal, dass ich genau das brauche oder auch nur suche - aber solange man nicht von allen guten Geistern verlassen ist und trüber Zynismus und Kulturpessimismus das Zepter im Oberstübchen schwingen, kann man das unmöglich nicht anerkennen.
Manche Dinge ändern sich offenbar nie. Obwohl ich regelmäßig die heißesten Liebschaften mit neuen Werken des britischen Progrock-Flagschiffs schon hinter mir glaubte, überfallen mich mindestens genauso regelmäßig die Schmetterlinge im Bauch, wenn der Veröffentlichungstermin eines neuen Albums näher rückt; meistens aus dem blanken Nichts heraus und aus heiterem Himmel, getragen lediglich von der Erinnerung an die wahrhaft magischen Momente, die ich über die letzten 30 Jahre mit ihrer Musik verbringen durfte einerseits, und andererseits von der Hoffnung, mich möge - wie in jenem Fall "FEAR" - mindestens so hart, tief und lang treffen wie einst "Afraid Of Sunlight" oder "Marbles".
Marillion sind eine ganz besondere Band für mich, nicht zuletzt, weil ich sie in einer dramatischen und sehr unsicheren Zeit für mich (wieder) entdeckte, als ich nämlich, gerade vom Krebs geheilt, frisch vermählt, arbeitslos und mit Zukunftsängsten so groß wie der fucking Mount Everest, meinen vierwöchigen Kuraufenthalt im tragisch-verschnarchten Bad Rappenau beging und bei einem Spaziergang am zweiten Tag in den Ortskern den Laden des ebenda ansässigen lokalen Fernseh/Video/Elektro-Fachmannes betrat, der offensichtlich gerade dabei war, seine CD-Abteilung zu verschlanken, wenn nicht gleich bis auf die aktuellen Ergüsse der Lustigen Kirmesmasturbanten oder Die Drei Bumsfidelen Zwei komplett aufzulösen und also eine große Auswahl verblüffend günstiger Alben im Angebot hatte. Eines davon war "Anoraknophobia", das 2001er Werk von eben Marillion, und ich rang mir von meinem durch Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und wegen des sechsmonatigen Krankenhausaufenthalts lächerlich zusammengeschrumpelten Budgets die aufgerufenen fünf Euro ab - schließlich hatte Wolfgang Schäfer in seiner Besprechung in der Heavy Metal-Postille "Rock Hard" die Platte mit satten 9.5 Punkten (von 10) bewertet und über den sattgrünen, mit frischem Tau überzogenen Klee des Bad Rappenauers Kurparks gelobt und Schäfers Meinung hatte in meinem Buch zu progressiver Musik durchaus Gewicht. Außerdem fand ich das an die Southpark-Figuren angelehnte Coverartwork superduper. Was soll schon schiefgehen?
Dabei hätte es ganz schön schiefgehen können. Ich vergötterte bis zu jenem Zeitpunkt eigentlich nur eine Platte der Band: das Debut "Script For A Jester's Tear" aus dem Jahr 1983, mit dem ich dank meines Bruders und seiner gut aufgeräumten Plattensammlung schon als kleiner Knirps Bekanntschaft machte, und das in den folgenden Jahren meiner musikalischen Adoleszenz zu einer meiner Inselplatten heranreifen sollte. Den Sängerwechsel von der Identifikationsfigur Fish zu Steve Hogarth im Jahr 1988 und damit drei Studioalben später, nahm ich zwar mit einem viertel Auge wahr, aber die Verbindung zur Band und ihrer Musik war schon früh, praktisch mit dem zweiten Album "Fugazi", abgerissen. Auch die folgenden Megaseller "Misplaced Childhood" und "Clutching At Straws" haben mich emotional nie gepackt und erreicht. Aus damaliger Sicht erscheint es wenig überraschend, dass auch die Alben mit Steve Hogarth, "Brave" und "Afraid Of Sunlight", nichts mit mir anstellen konnten. Das war alles irgendwie ganz nett und als egales Hintergrundrauschen für ein sommerduseliges Sonntagmorgenfrühstück sicher nicht die allerschlechteste Wahl, aber für mehr waren mein Herz und mein Hirn einfach nicht ausgelegt. "Anoraknophobia" war dann der Ohrenöffner in Bad Rappenau, und es passierte zwischen dem Frühstück und dem Wasser-Aerobic-Kurs unter dem Einfluss von 40 Tropfen Novalgin: auf mitgebrachten und daher portablen zwomarkfuffzich Mini-Lautsprechern und meinem Disc-Man erschien mir das Licht, und ich stammelte praktisch im selben Moment über die Telefonleitung zur Herzallerliebsten in Wiesbaden gleichzeitig Worte der Begeisterung und der Überraschung. Sie müsse das unbedingt hören, wenn ich wieder zu Hause bin, das sei ja sensationell toll, und wie gut der singt! Und wie gut das komponiert ist. Und wie sehr mich das zuerst abholt und dann auch noch mitnimmt. Wie sehr mir bei "When I Meet God" die Tränen kommen und wie sehr ich über das alberne "Seperated Out" lachen muss, wie mir das Jahrhundertbreak in der Mitte von "Quartz" nicht mehr aus dem Kopf geht. Gestält von derlei Kopfverdrehung ging ich das Projekt "Entdecke Marillion" in den nächsten Wochen und Monate wieder an.
Und da stehen wir heute immer noch, lediglich vierzehn Jahre, fünf Studioalben, vier Livekonzerte und zwei durchgehuldigte und abgerissene (Knorpelschaden!) Knie später. Selbst wenn mich nicht jede Veröffentlichung des Fünfers seitdem komplett durchdrehen ließ, sind es die Erlebnisse mit Meilensteinen wie eben "Anoraknophobia", "Marbles" aus dem Jahr 2004 und "Afraid Of Sunlight" (1995), die so signifikanten Einfluss auf mein Leben und mich als Menschen hatten und die mich immer wieder zu dieser Band führen wie eine Motte zum Licht einer Straßenlaterne.
Als im letzten Sommer die ersten Informationen zu "FEAR (Fuck Everyone And Run)" durchsickerten, ließ mich vor allem ein Zitat von Keyboarder Mark Kelly aufhorchen:
"Today is the last day of recording for the band. We have set ourselves a deadline of tonight for each of us to submit any last minute additions or changes we would like to see before Mike starts mixing. It’s sounding fabulous already and I don’t think I’ve personally ever been so happy with a Marillion album as I am with this one. In the region of 70 minutes of music, but only 5 songs, it’s an album of big themes and subjects. Lyrically, it’s very serious and dark in places but the music takes you on a journey through highs and lows that rock one minute and are delicate and beautiful the next."
Was man wissen muss, um sich nicht in stupidem "Ha! Eh alles nur Promotion-Geschwätz!" zu verheddern: Kelly ist alles andere als ein Fan der rockigeren Seite Marillions - und ich bin es auch nicht. Ich erinnere mich an ein Interview mit Bassist Pete Trawawas, das ich mit ihm im Foyer des Offenbacher Capitols vor dem abendlichen Konzert im Rahmen der "Somewhere Else"-Tournee führte, und an seine Einlassung, dass Mark die Uptempo-Rocksongs der Kapelle wie "Most Toys", "Hooks In you" oder "Hard As Love" geradewegs hasst. Auch für mich ist jene Seite die Achillesverse der Band, denn sie klingt in solchen Momenten völlig uninspiriert, oberflächlich und nach 08/15-Würschtelrock - und was noch schlimmer ist: sie klingen durchgängig wie die falsche Band am falschen Ort zur falschen Zeit, die obendrein noch die falsche Musik spielt. Sie klingen nicht nach sich selbst. Wenn nun einer wie Kelly über sein Glück und seine Begeisterung über "FEAR" spricht, dann weiß der vermeintliche Kenner: Middle Of The Road-Gerocke wird es nicht zu hören geben, wenn ich bebend vor Spannung das Badewasser einlaufen lassen, um mich "FEAR" hörend in der Herbstbadewanne (Vanille, Patchouli, Schweinebraten, Mohn) kochen zu lassen. No small mercies.
Die ersten Tage mit "FEAR" gestalteten sich indes als überaus schwierig. Ich entschied mich zunächst nach einigen inneren Reichsparteitagen mit dem Kauf des Downloads, um zu prüfen, ob die Vinylversion, nicht zuletzt wegen des angesichts überlanger Songs erwartbar stockenden Albumflusses, überhaupt in Frage kommt - und bekam eine MP3-Version, die sich auf meinem Smartphone damit hervortat, nach jedem Song zunächst mal eine Pause von zwei Sekunden einzuhalten, bevor der nächste Track wiedergegeben wurde. Da sich die Band dazu entschloss, die drei Longtracks "El Dorado", "The Leavers" und "The New Kings" in bis zu sechs Untertiteln aufzuteilen, war der Hörfluss nun auch mit genau jener Version signifikant eingetrübt, mit welcher das Szenario genau hätte nicht passieren sollen. Hinzu kam, dass sich die oben erwähnte Vermutung, "FEAR" würde eher ruhig als rockig ausfallen, tatsächlich bewahrheitete, und was eigentlich ein Grund zum Jubeln war und ist, ergab in der Kombination mit den eben erwähnten Zwangsaussetzern in der Auseinandersetzung ein diffuses, kaum allokierbares Grundrauschen. Ich wusste eigentlich nie, wo die Band und ich jetzt eigentlich gerade waren - nicht nur in welchem Song, sondern auch inhaltlich. "FEAR" verkam zu einem zwar angenehm zu hörenden, aber "höggschd" (Bundesjogi) heterogenen und paradoxerweise gleichzeitig amalgamierten Gemisch aus kurz reingeworfenen und daher im ersten Eindruck strukturlosen Klang- und Wortfetzen. Zu schlechter Letzt bemängelte die Herzallerliebste in jener Zeit auch die vor allem textlich negative und beinahe verzweifelte, gar depressive Ausstrahlung des Albums im Allgemeinen und von Sänger Steve Hogarth im Besonderen.
Je mehr Zeit wir allerdings mit "FEAR" verbrachten, und aufgrund unseres Urlaubs in der ersten Oktoberwoche 2016 verbrachten wir alleine schon auf der hinwegig sechsstündigen Autofahrt eine Menge Zeit mit dem weiteren Erkunden des Werks, desto mehr lösten sich all die Bedenken und Mängelansprüche auf. Je mehr man verstand, desto mehr verstand man, denn "das ist Physik" (Malmsheimer): was gibt es Bereichernderes und Schöneres als ein Album, in das man sich richtig reinknien muss, das Aufmerksamkeit und Beschäftigung verlangt? Mögen sie doch alle ihren billig hingerotzten "Here today, gone tomorrow"-Quadratscheiß über Spotify hören und hektisch weiter klicken, wischen und tippen, wenn es nicht so offensichtlich stumpf produziert ist, um den Dreck nicht schon nach zwei Nanosekunden mitpfeifen zu können.
Ich blieb dran, obwohl ich auch weiterhin und selbst nach zwei Wochen immer noch nicht mal sagen konnte, welcher Teil zu welchem Song gehört. Aber ich spürte, dass hier etwas Großes auf mich wartete - und so zog es mich ständig zu dieser Platte. Gar so häufig, dass die Herzallerliebste sich zu einem überraschten "Du hast die schon_wieder aufgelegt?" hinreißen ließ. Irgendwann war jener magische Moment erreicht, was der nicht ganz so helle Zeitgenosse aus Betriebswirtschaftslehrenhausen womöglich als "Turnaround" bezeichnen würde; dieser Moment, in dem die Platte aus ein, zwei Dezibel Abstand heraus betrachtet plötzlich und fast wörtlich strahlt und ich sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ungläubigkeit anglotze. Der wichtigste Schritt auf diesem Weg war ganz bestimmt "Living In Fear", einer der beiden vergleichsweise kurzen Songs, den ich mitsamt seines Textes erst eines Abends in der Badewanne liegend komplett erfasste, mir dann aber trotz 50°C heißen Wassers eine extradicke Gänsehaut verpasste:
Our wide eyes
Aren't naive
They're a product of a conscious decision
The welcoming smile is the new Cool
The key left in the outside of the unlocked door
Isn't forgetfulness
It's a challenge to change your heart
There's always a price to pay
Living in f e a r is so very dear
Can you really afford it?
We've decided to risk melting our guns as a show of strength
We've decided to risk melting our guns as a show of strength
As a show of strength
Our wide eyes are not so weak
They're a product of a hard-won wisdom
So we will turn the other cheek
The apple pie cooling on the windowsill
Is such a welcome change from
Living in f e a r
Year after year after year
Can we really afford it?
Can you really afford it?
We have decided to start melting our guns as a show of strength
As a show of strength
We decided to leave the doors unlocked, our face unlocked
As a show of strength
We're not green
We're just pleasant
We're not green
We're just pleasant
We're not green
We've decided to start melting our guns as a show of strength
Our wide eyes aren't naive
They're a product of a kind of exhaustion
Will there come a time when we believe
The only way ahead is to put down our arms
When we finally know
The bitter consequence of not doing so
There's such a price to pay
For living this way
Living this way
We don't invite crime
We don't invite crime
Will you let one lost soul change what we stand for?
I don't think so
What a waste of time
The Great Wall of China
What a waste of time
The Maginot line
The Great Wall of China
Chto za trata vremeni
Berlinskaya stena
What a waste of time
Die Berliner Mauer
What a waste of time
What a waste of time
Überhaupt, die Texte. Nach dem peinlichen Komplettausfall "Gaza" vom Vorgängeralbum "Sounds That Can't Be Made" (und wo das gesagt ist, ist auch "Lucky Man" nicht gerade einen Literaturpreis wert) ist "FEAR" ein notwendiges Statement in merkwürdigen Zeiten. Hogarth sagt dazu:
"All worthwhile human impulses come from love. And all negative and destructive human impulses come from fear.
This album is called Fuck Everyone and Run or F.E.A.R.
This title is adopted not in anger or with any intention to shock. It is adopted and sung (in the song "New Kings”) tenderly, in sadness and resignation inspired by an England, and a world, which increasingly functions on an “Every man for himself” philosophy. I won’t bore you with examples, they’re all over the newspapers every day.
There’s a sense of foreboding that permeates much of this record. I have a feeling that we’re approaching some kind of sea-change in the world – an irreversible political, financial, humanitarian and environmental storm. I hope that I’m wrong. I hope that my FEAR of what “seems” to be approaching is just that, and not FEAR of what “is” actually about to happen."
Ich teile Hs Pessimsmus nicht, aber das scheint mir auch nicht wichtig zu sein. Mich beeindruckt viel mehr die Analyse der gegenwärtigen Situation und der Umgang mit dem Phänomen der Angst, diesem Patient Zero menschlicher Totalidiotie und ärgster Gehirnverdrehung. Das moralische Pathos, in das Hogarth klassischerweise immer wieder verfällt und von dem er sich auch auf "FEAR" nicht komplett freisprechen kann, wenn er etwa in "The New Kings VI - Why Is Nothing Ever True" den Romantik-Märchenonkel gibt, der nur einen Luftholer von dem Hinweis entfernt ist, dass ein Brötchen beim Bäcker vor drölfhundert Jahren auch mal nur 2 Pfennig kostete und nicht wie heute in den Erlebnistheken Deiner Aral-Tankstelle 'ne glatte Mark, ist diskussionswürdig und mit etwas Vorsicht zu genießen - aber in meinen Augen auch nicht mehr als das.
Remember a time when you thought that you mattered,
Believed in the school song, die for your country - a country that cared for you
All in it together?
If it ever was more than a lie or some naive romantic notion
Well, it's all shattered now
It's all shattered now
Why is nothing ever true?
Why is nothing ever true?
Why is nothing ever true?
Well do you remember a time when you thought you belonged to something more than you?
A country that cared for you
A national anthem you could sing without feeling used or ashamed
You poor sods have only yourselves to blame
On your knees, peasant
You're living for the New King
You're living for the New King
You're living for the New King.
Nach drei Monaten Leben mit "FEAR" (pun intended), die Liste für die besten Alben des 2016er Jahrgangs war beinahe und bis auf die ersten fünf Plätze komplett und in Reihenfolge gebracht, entschied ich mich dazu, "FEAR" auf den ersten Platz zu setzen. Ich hatte das zunächst nicht vorgesehen, weil die neuen Scheiben von Melanie De Biasio, Warmth, Segue und Esperanza Spalding nun wahrlich nicht von schlechten Eltern und mir über die letzten Monate ans Herz gewachsen sind. Andererseits: warum sollte ich es nicht tun? "FEAR" ist völlig fehlerlos, und auch wenn man Steve Hogarths Stimme die 57 Lebensjahre mittlerweile durchaus hier und da anhört, passt sein dunkleres Timbre zur bisweilen ebenso dunklen, jedoch eher melancholischen Musik besser als jemals zuvor. Und damit ist er auch immer noch der vielleicht beste Sänger aller Zeiten für mich. Und Steve Rothery? Holy Shit, was für ein Gitarrist! Was für ein Sound, was für ein Feeling! Wer diesen Typen nicht in einem Atemzug mit den ganz, ganz Großen nennt, hat ihn nie spielen hören (und sehen).
Hier ein 15 minütiger Zusammenschnitt seiner besten Soli aus der "Out Of Season" DVD. Und wenn Dir nicht spätestens bei den gigantischen Sternstunden von "This Strange Engine" (ab 6:35) und dem anschließenden, das Zeit- und Raum-Kontinuum wegballernde "Neverland" (ab 8:20) nicht sämtliche Sicherungen durchschmurgeln: go fuck yourself!
"FEAR" ist nicht nur das mit Abstand beste Studioalbum der Band seit 12 Jahren, es reiht sich zudem in die großen Alben ihrer Karriere ein und steht für mich gleichberechtigt neben und zwischen "Afraid Of Sunlight" und ihrem 2004er "Marbles" Meilenstein. Dass mich eine Band nach einer so langen, turbulenten und ganz bestimmt nicht einfachen Karriere, in der sie schon mehrfach sowohl kommerziell als auch künstlerisch abgeschrieben wurde, noch derart begeistern und mitreißen kann: dafür gibt es nur eine Entscheidung: "FEAR" ist mein Album des Jahres 2016.
Und obendrauf gibt's den goldenen Flori als Anerkennung für ihr Lebenswerk.
"Blackened Cities" hielt sich über Monate hinweg auf dem Platz an der Sonne auf, auf der Nummer 1 nämlich, also auf dem ersten Rang meiner scheckheftgepflegten Top 20-Liste für die beste Musik des Jahres 2016. Der Verdrängungsdruck wurde ihr tatsächlich erst auf den letzten Metern des Dezembers gefährlich, und wenn hier tatsächlich überhaupt noch irgendwer mitliest und nicht etwa schon bei Platz 13 (des Jahres 2012) ausgestiegen/eingeschlafen/verschimmelt ist, dann erhöht das immerhin nochmal die "Spannung" für die "Nummer 1" auf diesem "Blog". Darauf einen kräftigen Schluck aus der Keramik.
Nun schrieb ich bereits im letzten Juni über das zweite Werk der belgischen Sängerin, nachdem ich es schon vor zwei Jahren für den umwerfenden Vorgänger "No Deal" vegane Schweinehaxen regnen ließ, gerechterweise, wie ich anfügen möchte: Der Text zu "Blackened Cities" ist mir im Rückspiegel möglicherweise etwas schwerverdaulich geraten und mit etwas Mut zum freien Zitat ließe sich dezent provokativ "Kommen sie nächste Woche wieder, dann gibt's auch wieder richtige Plattenkritiken." auf eine alte Ausgabe der Spex (07/2010) kritzeln, aber letzten Endes war es der Ausdruck purer Hilf- und Ratlosigkeit that made me do it: was soll ich über eine Platte schreiben, die mich sprachlos macht? Wie werde ich dieser Musik gerecht? Mit ein paar hingeworfenen Vokabeln des über drei Jahrzehnte angelesenen Schwachsinns aus Musikmagazinen? Oder lieber mit ein bisschen Untergangsromantik im Hipsterformat, so ein bisschen und zaghaft gesellschafts- und konsumkritisch? Für was ich mich entschied, ist nun also immer noch nachzulesen, solange deine Johanneskrautölkapseln das innere Ungleichgewicht, beziehungsweise die neuen Papiertaschen vom Rewe tragen können.
"Blackened Cities" ist eine Sensation, ein aus einer Jamsession im herbstlichen Brüssel entstandener Mammutsong von über 24 Minuten Länge, der hinsichtlich des Arrangements, des Timings und der Atmosphäre zum Besten zählt, was ich jemals gehört habe. Mächtig in seiner Vielfalt und Einzigartigkeit, fragil und intim in seinen klanggewordenen Beobachtungen, der Ansprache, der Stimmung.
Große Worte, jedoch allesamt berechtigt: "Blackened Cities" ist mit nichts zu vergleichen. "Blackened Cities" ist mutig. "Blackened Cities" ist inspirierend.
Vom Licht zart geküsst. Von der Dunkelheit entführt.
Das ist der "Binge-Listening"-Gewinner des vergangenen Jahres. Und das will was heißen, habe ich doch schon ausführlich und also beinahe redundant davon berichtet, wie ausgiebig und pausenlos die letztjährigen Werke von Purl und Halftribe im CD-Wechsler angesteuert wurden. "Essay" hat sie dennoch alle in die Schranken verwiesen. Die Herzallerliebste betont an dieser Stelle die stark ausgeprägte Qualität samt Neigung des Albums, den Zuhörer sanft und schwebend ins Reich der Träume zu begleiten, immerhin sanfter und schwebender als alles andere aus dem Jahr 2016. Sagt sie. Und sie hat, wie praktisch immer: recht.
"Essay" ist, bricht man es auf den eigentlichen Ton herunter, ein Fluss in totaler Ruhe und Kontrolle. Vom Grundrezept der im Hintergrund aufgezogenen Weitläufigkeit mit opulenten, tiefgehenden Soundscapes und hellblau darüber getupften Klangseifenblasen, die majestätisch durch die Szenerie segeln, weicht das Debut des spanischen Produzenten Agustin Mena nur selten ab. Im Ergebnis funkelt "Essay" fast gläsern, wie grob aufs Papier gebrachte Wasserfarbenkacheln, die am Rand nicht scharf begrenzt sind, sondern in Zeitlupe ins Außen strömen. Einnehmend, ausbreitend, übergreifend.
Im Grunde ist das in der Machart nicht so irre weit von den Epen eines Brock van Weys entfernt, aber, und das ist womöglich das Geheimnis dieser Platte, Warmth lässt die Dramatik, die emotionalen Abstürze, das Zitten und Beben vor der Tür. "Essay" wirkt bei aller Tiefe und klanglicher Komplexität nüchtern, in seiner vornehmen und stolzen Elegantia fast schon stoisch. Wie ein Leuchtturm auf offener See, der das wachende und vor allem ruhende Auge im Zeichen der Stürme und der Unordnung ist. Unbeugsam und unkompromittierbar, dafür aber auch ein Retter und Tröster.
Musik, die die Welt gesehen und erlebt hat. Öffnet Geist und Herz.
Obwohl ich die Karriere der US-amerikanischen Bassistin Esperanza Spalding seit dem Album "Esperanza" aus dem Jahr 2008 verfolge und mich ihr scheinbar grenzenloses Talent in bisweilen strenges bis sehr ungläubiges Staunen versetzte - wer es schon nicht mit einer ihrer Studioaufnahmen versuchen will, soll sich bitt'schön recht dringend einer Livebehandlung unterziehen - hat mich bislang noch keines ihrer Alben auf die volle Distanz überzeugen können. Die gerade mal 32-jährige Musikerin war und ist der Shooting Star der Jazzszene, wurde mit Grammys überhäuft und spielte bereits mehrfach für den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama im Rahmen verschiedener Festivitäten des Weißen Hauses - dass Spalding damit knietief im Jazz-Establishment steht, kann dem weniger Wohlgesonnenen einen gewissen Sicherheitsabstand einnehmen lassen. Tatsächlich waren die bisherigen Alben, darunter die beiden kommerziell erfolgreichsten Werke "Chamber Music Society" und "Radio Music Society" wie gemacht für den Mainstreamigen US-Jazz: etwas bieder, glatt und gleichförmig. Freilich herausragend gespielt und gesungen, ebenso fraglos mit einigen umwerfenden Songs ausgestattet (Tipp: "Black Gold"), aber mir fehlte immer das gewisse Etwas über die gesamte Spieldauer.
"Emily's D + Evolution" ist nun eine deutliche Zäsur ihres Schaffens und es ist in dieser Hinsicht kaum verwunderlich, dass meine Jahresbestenliste bis zu Spaldings fünftem Staudioalbum warten musste, um im Sturm genommen zu werden. Spalding hat sich bewusst neu erfunden und möglicherweise im Rahmen dieses Prozesses den Abnabelungsprozess vom Mainstream eingeleitet - es wäre ihr angesichts der Frische und Klasse dieses Werks wirklich zu wünschen. Esperanza suchte nach neuen Wegen, nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, nach neuen Konzepten, zog in ihre Heimatstadt Portland um und sich für volle zwei Jahre aus dem Hamsterrad Musikbusiness zurück, um die kreativen Batterien nicht nur aufzuladen, sondern gleich das ganze Akkupack auszutauschen. Spalding agiert auf "Emily's D + Evolution" als die Stimme ihres Alter Egos Emily, die den Hörer dazu bringen soll, die Regeln des Systems in Frage zu stellen und für Frieden und Stille zu kämpfen, um die Verbindung zum eigenen spirituellen Zentrum wieder herstellen zu können.
"Emily "is a spirit, or a being, or an aspect who I met, or became aware of. I recognize that my job … is to be her arms and ears and voice and body."
Auch wenn der Stilwechsel bedeuten konnte, sich aus der eingerichteten Komfortzone mit all den schönen Grammynominierungen zu verabschieden, ging Spalding den Weg erstaunlich konsequent. Unterstützt wurde die Produktion vom langjährigen David Bowie-Intimus und -Produzenten Tony Visconti, dessen Einfluss man hören kann: "Emily's D + Evolution" ist künstlerisch, schräg, intellektuell, offen und damit ziemlich viele Universen von dem entfernt, was sich im Mainstream derzeit tummelt: nicht nur hat Spalding offenbar eine Büchse mit ein paar psychedelischen Muntermachern geöffnet, sondern auch den ihr so oder so lieb gewonnenen Fusion-Sound mit einigen verspulten, bisweilen überraschend harten Gitarrenriffs sehr promiment in den Sound eingebaut. Als hätten Jimmy Hendrix, Frank Zappa, Prince und Joni Mitchell zu einer großen Jamsession im Jenseits eingeladen. Ich persönlich nehme bisweilen noch einen dezenten Einfluss der Rockmusik von Beginn der neunziger Jahre wahr, und sei es nur in der visionären Ausrichtung, der Kühnheit wirklich etwas Neues zu wagen. Ich kann es vermutlich nicht über den eben genannten Rahmen hinaus erklären, aber mir kommen immer wieder die frühen Janes Addiction in den Sinn, wenn es darum geht, die Stimmung dieser Produktion zu beschreiben. Dass mir aber jetzt bloß keiner auf die Idee kommt, "Ritual De Lo Habitual" musikalisch mit Esperanza Spalding zu vergleichen. Wir sind ja nicht bescheuert.
Und weil also kreativer Mut in diesen Zeiten, in denen er zwar nicht ausgestorben, sich dafür aber so rar gemacht hat, dass die Menschen nichts mehr mit ihm anzufangen wissen, und der in der Folge auch gerne mal sanktioniert wird, beispielsweise mit schlechten Verkaufszahlen, hat sich "Emily's D + Evolution" nach dem Erfolg des Vorgängers und dessen zehnten Platz in den US-amerikanischen Alben-Charts, beziehungsweise gar dem ersten Platz in den US-Jazz-Charts, nach einem enttäuschenden 88.Platz sehr schnell wieder von der Billboard-Bühne verabschiedet. Um das auch nur lose einzuordnen: das entspricht etwa 2500 verkaufter Platten in der ersten Woche nach Veröffentlichung. Es werden seitdem nicht gerade Millionen hinzugekommen sein. Oder auch nur Tausende.
Die Kritik und die Sossenheimer Blogbanane indes: jubeln.
Eine vertonte Wanderung durch tiefsten Urwald. Dunst über dem Boden. Feuchtigkeit, Wärme. Es ist schwül. Sonnenlicht schaukelt sich durch Blätter und Äste. Offene Augen, offener Geist, offenes Herz. Manchmal gibt es kein euphorischeres Gefühl, als ganz unmittelbar Schönheit zu erkennen - verbunden mit der Demut, Zeuge davon sein zu dürfen.
Auch wenn in meinem Wohnzimmer keine Jahrhundertbäume durchs Hausdach wachsen, so bleiben als Bild und Gefühl an diesen letzten, vergangenen Sommer die warmen Nächte bei weit geöffnetem Fenster und "Over The Mountains" in Endlosschleife. Ästhetik und Eleganz sind keine Fremdworte für den Kanadier Jordan Sauer, und wo ich schon bei seinem letztes Werk für das kanadische Silent Season Label "Pacifica" (2013) auf die Knie sank, muss ich es hier schon wieder tun. Dabei ist im Detail auf "Over The Mountains" einiges anders und man sieht es mir bitte nach, dass ich zunächst die Genreschubladen öffnen muss: Sauers zunächst etwas obskur anmutende, eigentlich simple und hypnotische Melodien, sein damit verbundenes raffiniertes Spiel mit Harmonien, seine Rhythmik und nicht zuletzt das Klangdesign seiner Sounds haben mit Dub Techno nicht mehr viel zu tun. Sie sollen mehr als alles andere Bilder erzeugen. Vielleicht ein Gefühl von Sehnsucht? Ganz bestimmt viel Licht - und es scheint, als sei alles auf "Over The Mountains" sorgfältig genau darauf ausgerichtet.
Ich schrub es vor wenigen Wochen schon mal bei Twitter: Hier ist einer, der sich spätestens mit diesem Album ein paar Jährchen vor der Konkurrenz aufhält. So wie es alle großen vor ihm taten. Wenn alles noch mit rechten Dingen zugeht - und wer würde angesichts des abgelaufenen Jahres nicht daran zweifeln - müsste "Over The Mountains" eigentlich bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden.
Ein umwerfendes, naturverbundenes Werk voller Schönheit und Introspektion.